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Epiphanien des Profanen

Bücher mit mehr als einem Motto verdienen unser ganzes Misstrauen, liegt doch die der weiteren Lektüre nicht sehr förderliche Vermutung nahe, das Werk solle durch herbeizitierte Autoritäten aus Jahrtausenden menschlicher Kulturgeschichte erhöht werden. Patrick Roths neuer Erzählungsband "Starlite Terrace" prunkt gleich mit drei Motti: je einem aus dem Film "High Noon" sowie den Schriften von Origines und Ralph W. Emerson. Jedem anderen nähme man solch üppigen Eklektizismus aus Kino, antiker und romantischer Philosophie übel – Patrick Roth nicht. Bei ihm ist die Melange Methode und Ausdruck einer mächtigen Sehnsucht, die alles ergreift und verwandelt – auch den Leser, der darüber glücklich staunt.

Von Jörg Plath | 12.01.2005
    Starlite Terrace ist der Name einer Wohnanlage am Ventura Boulevard oberhalb von Hollywood, in deren Apartments betagte Männer und Frauen, meist frühere Angestellte der Filmindustrie, ihre bescheidene Rente verzehren. Dort wohnt der Erzähler, trinkt mit seinen Nachbarn Pete und Rex Kaffee, hilft Moss, ein verschwundenes Fahrrad zu suchen, fährt den Musiker Gary in der Gegend umher und sitzt mit der 75-jährigen Sekretärin June und deren Cousine am hauseigenen Pool. Sie alle sprechen viel und gern, und der Erzähler, ein namenloser Deutscher, ist ein guter Zuhörer. Er macht sich im Stillen seine Gedanken über die seltsamen Lebensgeschichten und das Echo, das sie in ihm wecken.

    In "Sonnenfinsternis" etwa erinnert sich Moss an jenen Augenblick, in dem er seinen Entschluss umwarf, einen Killer auf die durchgebrannte Ehefrau anzusetzen, um so die von ihr mitgenommene Tochter zurückzuerhalten:

    Komme an einer Bank vorbei – sehe mich dort im Fenster gespiegelt: zielstrebig, sinatramäßig, die Hand in der Hosentasche. Und – fiel mir auf – vollkommen verrückt. Die große Glasscheibe spiegelte gerade genug, das Licht stand gerade richtig, dass ich das – auf den flüchtigen Blick hin – sehen konnte. Und ich hielt. Hielt an. Sah mich im gläsernen Meer. Sah meine Augen ... erkannte nichts wieder. Als starrte ein anderer auf mich zurück. Fremd, dass mir graute. Ich wandte mich ab – nur eine halbe Drehung. Zur Tür. Ging einen Schritt ... Einen weiteren Schritt ... Und trat in die Bank und lief zum Schalter und zahlte das Geld ein. Die ganzen fünfhundert. Auf mein Konto. Ließ mir eine Quittung stempeln und legte sie in meine Brieftasche. Das nur ... damit mir bewusst bliebe, wie nah ich daran gewesen war. Mir und Gott das bewusst bliebe. Bewusst würde, wie nah er mich kommen ließ. (...) Er war der Verrückte. Ich glaube, er sah sich in mir. In diesem Moment. Sah sich in meinem Planen – und war bereit, seine Schale Zorn auszugießen. Und das hatte ich erkannt."

    Minuten später steht die Sonne anders, und der Augenblick der Erkenntnis ist vorüber, in dem Moss sich selbst als Fremden erblickte – als den zornigen Gott des alten Testaments.

    Für Patrick Roth, der seit 1975 in den USA lebt, Prosa, Hörspiele, Stücke und Drehbücher verfasst und als Regisseur arbeitet, besitzt die Bibel dieselbe Realitätshaltigkeit wie Film und Psychotherapie. In einer Trilogie, deren Bände so seltsame Gattungsbezeichnungen wie "Christusnovelle" oder "Seelenrede" tragen, verschmilzt er auf nur anfangs bizarr und hybrid anmutende Weise die Erlösungsvorstellungen des Christentums mit dem avantgardistischen Anspruch der Kunst, das Leben selbst zu sein: "the real thing". Sein zuletzt erschienener Erzählungsreigen "Die Nacht der Zeitlosen" ist nicht weniger als eine christliche Kosmogonie im sehr heutigen Gewand fein ziselierter Horror- und Katastrophengeschichten.

    Die Erzählungen in "Starlite Terrace" sind nur lose aufeinander bezogen, handeln aber ebenfalls, wenn auch in kleinerem Maßstab, von Tod und Neugeburt. Roth und seine Figuren begegnen diesen Themen mit Diskretion: Der Schauspieler Rex ahnt, dass er todkrank ist, und erzählt von den letzten Tagen Gary Coopers. Die Sekretärin June spricht von Marilyn Monroe, mit der sie ihr Mann betrog, und tastet sich so, ohne das traurige Ende des Sexidols zu erwähnen, an den einsamen Tod ihres Großvaters heran. Der lauschende Deutsche kann sich des Gefühls nicht erwehren, eigentlich wolle man ihm etwas anderes sagen. Doch das, was er hört, ruft in ihm Antworten herauf, Erinnerungen, Bruchstücke eines Traums, bis plötzlich das Gehörte und etwas in ihm zusammenschießt, ihn aus sich heraustreten lässt, hinein in ein Bild, einen Sinn. Diesem glücklichen und flüchtigen Augenblick der Offenbarung, dem sinnlos erscheinenden Alltag abgetrotzt, arbeiten die Erzählungen von Patrick Roth kunstvoll mit immer neuen Verzögerungen und Aufschüben zu.

    Schon für die Mystiker bestand die größte Schwierigkeit darin, von dieser nicht direkt mitteilbaren Erfahrung zu künden. Ihr Nachfahr Roth greift wie sie zu oft erstaunlichen und berückenden Bildern. Sie entstammen ganz selbstverständlich ebenso der individuellen wie der massenmedialen Sphäre: auf "High Noon" folgen Sintflut und Arche Noah, auf Filmaufnahmen aus befreiten deutschen KZs eine Sternenwolke. Von dieser hatte der Deutsche geträumt und sieht nun mit an, wie June die Berührung mit ihrem toten Großvater nachholt.

    Rasch zum Poolrand hintretend, zog sie den Deckel vom Kasten und schüttete ihn über dem Wasser aus. Es war die Asche des Großvaters, den sie nie gesehen hatte, die da langsam in den beleuchteten Pool hinabrieselte. Der Deckel der Dose fiel ihr aus der Hand, stieß durchs helle Wasser und fuhr taumelnd-schwebend den Ascheteilchen hinterher. Wie ein Kelch, den unsichtbare Hände wirr her- und hinreichen, um dort und hier einzusammeln, was nun verschüttet war. Keiner von uns sprach. Wir sahen der Asche zu, die sich im Fallen, von kleinsten Strömungen geführt, aufzufächern, zu formen begann. Wenn ich mich auf die Fäden beschränkte, die Aschefäden (...), war ich an meinen Traum erinnert, sah ich den Pferdekopf, als bildete er sich hier von neuem, als spräche hier dasselbe Bild. Lautlos hatte der Kastenverschluss auf dem Grund des Pools aufgesetzt, und man sah, dass die untersten, schwersten Teilchen ihn bald eingeholt hätten, während andere, leichteste noch kaum unter der Oberfläche verschwunden waren. Eine Figur, sah ich, war so im Wasser entstanden, die tief und breithin wie eine Menschenwolke im Wasser schwebte.

    Jennifer, ich war mir sicher, sah es ebenso. Sie stand nur zwei Schritte entfernt. Ohne dass wir sie bemerkt hatten – sie musste hinter uns vorbeigelaufen sein –, stand June plötzlich am anderen Ende des Pools ... und sprang, mit dem Kopf das Wasser teilend, hinein."


    Solche aus verschiedenen Ebenen zusammengesetzten Bilder offenbaren einen Sinn, der nicht eindeutig und nicht umfassend zu benennen ist. Einmal nur, in der dritten Erzählung, misslingt das Roth; er schiebt eine archaische und eine gegenwärtige Geschichte mit einiger Anstrengung übereinander, und prompt stellt sich Bedeutungskitsch ein. Doch das Beispiel zeigt nur, mit welch glücklich leichter Hand dieser Schriftsteller sonst seine Epiphanien des Profanen herzuschenken vermag.