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Epische Bilder der Zeitgeschichte

Dass die Pop-Art in den 60er-Jahren als völlig geschichtslose neue Kunst dahergekommen sei, die nichts als die bunten Bilder der zeitgenössischen Konsumwelt interessierte, das hat noch nie gestimmt. Diese oft wiederholte Behauptung war lediglich eines von vielen vermeintlichen Argumenten, mit denen damals die Traditionalisten unter den Kunsthistorikern eine neue Stilrichtung schmähen wollten.

Von Stefan Koldehoff | 24.10.2007
    Wie falsch diese polemische Kritik war, zeigte sich vor allem im zeichnerischen und malerischen Oeuvre von R.B. Kitaj. Er kannte seine Vorbilder aus der Renaissance, dem Barock und dem 19. Jahrhundert. Dass er sich ihrer Kompositions- und Farbideen auch ganz unmittelbar bediente, zeigte vor einigen Jahren eine Ausstellung in der National Gallery in London. Dort waren Kitajs Bilder zusammen mit jenen von Rembrandt und Cézanne, von Dalí und Chagall zu sehen, die ihn beeinflusst hatten. Gerade mit Chagall wurde Kitaj immer wieder in Verbindung gebracht - nicht wegen seiner prismatischen Malweise, die sich von der Chagalls doch sehr unterscheidet, sondern wegen der Motive, die immer wieder auch die eigene jüdische Herkunft zum Thema haben.

    1932 wurde er als Ronald Brooks in Ohio geboren. Der Vater verließ früh die Familie, seine Mutter heiratete ein zweites Mal: den aus Wien geflüchteten Arzt Walther Kitaj. Sein Adoptivsohn studierte in New York und Paris, Wien und London, kam als GI auch nach Deutschland und ließ sich 1958 in London nieder. Dort zählte er neben Richard Hamilton und Allen Jones zu den europäischen Gründern der Pop-Art-Bewegung, deren Künstlern plötzlich der Alltag bildwürdig erschien. 1976 sollte Kitaj erneut Kunstgeschichte schreiben, als er für die Hayward Gallery die Ausstellung "The Human Clay" organisierte. Im Katalog dazu definierte er eine "School of London", zu der neben ihm seine weltberühmten Kollegen Francis Bacon, Lucian Freud, Frank Auerbach und Leon Kossoff zählten. Sie alle verweigerten sich der dominanten Abstraktion, sie alle erzählten auf ihren figurativen Bildern surreale Geschichten und - wie Kitaj in seinen so genannten "epischen Bildern" - auch reale Zeitgeschichte.

    Nachdem Kritiker 1994 eine Kitaj-Retrospektive in der Tate Gallery sehr ungnädig aufnahmen, warf der Maler ihnen Antisemitismus und sogar die Schuld am Tod seiner Frau vor, die nach der Eröffnung an einem Aneurisma gestorben war. Kitaj selbst zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, pflegte aber noch enge Kontakte zu Kollegen wie David Hockney und stellte in Galerien auch weiterhin aus. Sein Freund Philip Roth setzte ihm mit der Figur des Malers Coleman Silk in seinem Roman "Der menschliche Makel" schon zu Lebzeiten ein Denkmal.