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Episches Gemälde eines Konfliktes

Der britische Historiker Orlando Figes beschreibt in seinem jüngsten Buch die Auseinandersetzung zwischen dem russischen Zarenreich und einer britisch-französischen Allianz - den Krimkrieg. Zur Hochform läuft der Autor vor allem da auf, wo er Szenisches mit Analytischem verbinden kann.

Von Ingo Petz | 19.12.2011
    "Die herumliegenden stöhnenden und zitternden russischen Soldaten waren zu Haufen zusammen geschoben worden, damit man sie leichter entfernen konnte. Andere starrten dich von den Büschen her mit der Grimmigkeit wilder Tiere an, während sie ihre Wunden umklammerten. Manche flehten in einer unbekannten Sprache, doch mit einem unmissverständlichen Tonfall um Wasser oder Beistand; dabei streckten sie ihre verstümmelten und zerschmetterten Gliedmaßen aus oder deuteten auf die Spur der Kugel, die sie zerfleischt hatte."

    So beschrieb der irische Journalist Howard Russel für die Londoner "Times" seine Eindrücke nach der Schlacht an der Alma, einem Fluss auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Das war am 24. September 1854 gewesen. Mehrere Tage blieben die über 1600 verwundete Russen auf dem Schlachtfeld liegen. Hier auf der Krim waren die französischen und britischen Truppen vier Tage zuvor das erste Mal auf die russische Armee getroffen. Es war der erste Sieg der Alliierten in einem Krieg, der nicht mehr nur von Königen, Politikern, Diplomaten und Soldaten, sondern auch von der Presse gefochten, beeinflusst und begleitet wurde.

    Orlando Figes' Buch "Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug" ist gespickt mit solchen Eindrücken, wie die des irischen Journalisten Howard. Der britische Historiker verwebt gekonnt Aufzeichnungen aus Tagebüchern, Artikeln, Literatur und Memoiren ineinander. Angereichert durch eigene Recherchen gelingt es ihm, ein episches Bild aus Nationalismus, Imperialismus und religiösem Wahn zu entwerfen, vor dessen Hintergrund der Krimkrieg mit unglaublicher Grausamkeit ausgefochten wird. Für Figes ist der Krimkrieg der erste "totale" Krieg und das erste Beispiel für einen modernen Krieg.

    " ... ausgefochten mit neuen industriellen Techniken, modernen Gewehren, Dampfschiffen und Eisenbahnen, neuen Formen der Logistik und Kommunikation wie dem Telegrafen, wichtigen Innovationen in der Militärmedizin sowie mit Kriegsberichterstattern und Fotografen direkt am Schauplatz ... .die Belagerung von Sewastopol nahm den industrialisierten Schützengrabenkrieg von 1914 - 1918 vorweg. In den elfeinhalb Monaten der Belagerung wurden 120 Kilometer lange Gräben von Russen, Briten und Franzosen ausgehoben; die beiden Seiten tauschten 150 Millionen Gewehrschüsse sowie 5 Millionen Bomben und Granaten verschiedenen Kalibers aus."

    Das Osmanische Reich, damals als "kranker Mann am Bosporus" bezeichnet, war in Auflösung begriffen. Das Zarenreich unter Nikolaus I. hoffte, seinen politischen und religiösen Einflussbereich zu erweitern. Großbritannien und Frankreich widersetzen sich dieser Expansion. Die dortige Presse machte Stimmung für einen "Heiligen Krieg" gegen die orthodoxen Russen. Vordergründiger Auslöser für den Krieg wurde das schwelende Gezänk um die Nutzungsrechte der Kirche zum Heiligen Grab in Jerusalem. Figes betont die religiöse Motivation bei allen handelnden Parteien.

    "Sämtliche Staaten benutzten die Religion als Druckmittel in der Orientalischen Frage, Politik und Glaube waren in dieser Rivalität eng miteinander verflochten, und jede Nation, keine in höherem Maße als Russland, zog mit der Überzeugung, dass Gott auf ihrer Seite sei, in den Krieg."

    Den religiösen Konflikten im Vorfeld des Krieges räumt Figes sehr viel Raum ein. Allerdings dürften die machtpolitischen und geostrategischen Ambitionen der Akteure wesentlich gewichtiger gewesen sein. Denn ein Russland, das bis zum Balkan reichte, war keine angenehme Vorstellung für Franzosen und Briten. Zur Hochform läuft Figes dort auf, wo er Szenisches mit Analytischem verbinden kann. So begleitet der Leser Diplomaten in Verhandlungen, wohnt Generälen bei der Lagebesprechung bei oder läuft im Kugelhagel mit den Soldaten dem Feind entgegen. So ist der Leser bei den Schlachten im Donauraum dabei, auf der Krim in Balaklava und natürlich vor Sevastopol. Figes geht sehr detailliert, umfassend und erzählfreudig zur Sache. Über die Ruhe vor dem Sturm auf Sevastopol im Jahr 1855 schreibt Figes:

    "In Sewastopol hatten sich die Soldaten auf einen zweiten Winter auf der Krim vorbereitet. Niemand wusste wirklich, ob sie erneut kämpfen mussten, aber allen möglichen Gerüchten zufolge sollten sie zu einem Frühlingsfeldzug an der Donau oder in den Kaukasus oder in einen anderen Winkel des Russischen Reiches geschickt werden. "Was wird aus uns werden?", schrieb der Bataillonkommandeur Joseph Fervel am 15. Dezember an Marschal de Castellane "Wo werden wir uns das nächste Jahr wieder finden? Das ist die Frage, die jeder stellt und niemand beantworten kann.""

    Mit dem Ende des Krimkrieges zerfiel das Europa des Wiener Kongresses. Vor allem Frankreich ging gestärkt aus dem Konflikt hervor. Für Russland bedeutete die Niederlage eine Katastrophe, die Russlands Rückständigkeit nach Außen und Innen aufzeigte und somit auch den Nährboden für Veränderung säte. Für die russische Identität spielt der Krimkrieg und vor allem die "Heldentat von Sevastopol" bis heute eine bedeutende Rolle. In einer Art Schluss-Schmankerl zeigt Figes, wie es dem Russland unter Präsident Wladimir Putin selbst gelang, der verheerenden Niederlage im Krimkrieg noch etwas Positives abzugewinnen.

    2006 fand in Russland eine staatlich geförderte Konferenz zum Krimkrieg statt. Das Ergebnis dieser Konferenz resümiert Figes auf der letzten Seite. Es ist ein Zitat, das den Leser nachdenklich zurücklässt.

    "Die Schlussfolgerung der Konferenz lautete, dass der Krieg nicht mit einer Niederlage Russlands, sondern mit einem moralischen und religiösen Sieg, einem nationalen Akt der Opferung in einem gerechten Krieg, geendet habe; die Russen sollten das autoritäre Beispiel von Nikolaus I. ehren., den die liberale Intelligenzija unfairer Weise verhöhnt habe, denn er sei zur Verteidigung der Interessen seines Landes gegen den Westen angetreten."

    Figes fördert zwar keine neuen historischen Erkenntnisse über den Krimkrieg zu Tage. Dennoch hat er ein episches Gemälde eines Konfliktes geschaffen. Die Zahl und die Art der Quellen, Zitate und Stimmen, die Figes gesammelt hat, sind erstaunlich und bewegend. Und das macht den eigentlichen Wert dieses durchweg lesenswerten Buches aus. Der Krimkrieg und die Welt, in der passiert, wird so nicht nur intellektuell durchleuchtet, sondern für den Leser emotional nachvollziehbar. Ohne Frage wieder ein großer Wurf aus der Werkstatt des vielfach ausgezeichneten Historikers.

    Orlando Figes: "Der Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug."
    Berlin Verlag, 720 Seiten, 36 Euro
    ISBN: 978-3-827-01028-5