Das 19. Jahrhundert beginnt bei Jürgen Osterhammel mit der Oper. Damals entstanden die meisten repräsentativen Opernhäuser und auch das noch heute übliche Repertoire stammt überwiegend aus den Jahren zwischen 1800 und 1900. Zudem globalisierte sich die Oper früh, wie Osterhammel schreibt. Er weiß zu berichten, dass Chile in den 1830er Jahren von einem wahren Rossini-Fieber erfasst wurde.
Die Wiederaufführung der Opern von damals ist für Osterhammel ein Beispiel dafür, wie lebendig das 19. Jahrhundert ist. Generell sei der Wunsch, bleibende Werke zu hinterlassen, damals stärker ausgeprägt gewesen als in früheren Jahrhunderten. Nie zuvor wurde soviel gesammelt, gezählt, vermessen und aufgezeichnet. Osterhammel spricht von einer Epoche organisierter Erinnerung und gesteigerter Selbstbeobachtung.
"Die meisten der Formen und Institutionen solcher Repräsentation sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts: das Museum, das Staatsarchiv, die Nationalbibliothek, die Photographie …"
Auch das Restaurant gilt übrigens als bleibende Errungenschaft dieser Epoche. Aber dazu später mehr.
In seinem Buch verzichtet Osterhammel vollständig auf eine chronologische Darstellung. Stattdessen fächert der Konstanzer Historiker das 19. Jahrhundert in großen Panoramen auf. Stilistisch gekonnt deckt er weite Felder wie "Imperien und Nationalstaaten" oder die Industrialisierung oder fragt nach dem Verhältnis von "sesshaften und mobilen" Menschen.
Auch geographisch vollzieht Osterhammel keine Trennung. Die Prozesse und Ereignisse auf den verschiedenen Kontinenten fügt er geschickt ineinander und fragt nach möglichen Zusammenhängen. Dass Europa dabei meist im Mittelpunkt steht, ist mit Blick auf das 19. Jahrhundert nur folgerichtig …
"Niemals zuvor hatte die westliche Halbinsel Eurasiens derart große Teile des Globus beherrscht und ausgebeutet. Niemals hatten Veränderungen, die von Europa ausgingen, eine solche Durchschlagskraft in der Welt."
"Die Verwandlung der Welt" ist allerdings nur im positiven Sinne eurozentrisch – vergleichbar mit einer Weltkarte, auf der Europa im Zentrum liegt, aber letztlich doch nur einen kleinen Teil der Erde ausmacht.
Nirgends wird das deutlicher als im Kapitel über Imperien und Nationalstaaten. So hält es Osterhammel nicht für nötig, die Entstehungsgeschichte des Deutschen Reiches oder anderer Staaten nachzuerzählen.
Der Autor begründet ausführlich, warum er mit der Tradition der deutschen Geschichtsschreibung bricht, nach der der Nationalstaat lange als das zentrale Merkmal des 19. Jahrhundert galt.
Selbst in Europa seien damals nur wenige neue Nationalstaaten entstanden, sagt Jürgen Osterhammel – und mit Blick auf andere Weltgegenden werde deutlich, dass das 19. Jahrhundert eine Epoche der Imperien gewesen sei:
Jürgen Osterhammel: "Wenn wir uns eine Weltkarte anschauen, dann besteht um 1900 der größte Teil des bewohnten Globus aus Imperien: Zum einen die Übersee-Imperien der Westeuropäer, vor allem das britische Empire, das größte von allen; auf der anderen Seite die alten Imperien, die sich bis ins 19. Jahrhundert hielten, also das chinesische Reich, das osmanische Reich. Wenn wir die beiden zusammen sehen, dann ist die Welt in der Tat eine imperiale, und der Nationalstaat wird eigentlich erst zur typischen Organisationsform des 20. Jahrhundert."
Der Autor beschreibt das 19. Jahrhundert als eine recht friedliche Epoche. Zumindest in Europa: Nach dem Wiener Kongress blieben große Kriege vier Jahrzehnte lang aus und 1871 begann eine zweite Friedensphase, die bis zum Ersten Weltkrieg andauern sollte. Einige Strukturen, die mitverantwortlich für die Schrecken des 20. Jahrhunderts waren, bildeten sich aber schon im 19. heraus.
Jürgen Osterhammel: "Der gefährlichste Konflikt in den 20 Jahren vor dem 1. Weltkrieg war die zunehmende Konkurrenz zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich – gerade in seiner wilhelminischen Epoche, als von Deutschland aus ein Wettlauf der Flottenrüstung ausging. Das brachte eine zunehmende Militarisierung und Instabilität gerade in die europäische Politik hinein."
Auf 1500 Seiten bringt Osterhammel die Weltgeschichte eines Jahrhunderts unter. Aber passt ein ganzes Jahrhundert in ein einziges Buch und sei es auch noch so dick?
Mit seinem Gespür für die großen Linien, das Typische und die Zusammenhänge, beweist der Autor, dass so ein globalgeschichtliches Vorhaben glücken kann. Dazu kommt Osterhammels profunde Kenntnis der aktuellen Forschung sowie sein Riecher für schmackhafte Details. Ein Beispiel, schon angekündigt: Das privatwirtschaftlich geführte Restaurant habe im 19. Jahrhundert den guten Geschmack demokratisiert, schreibt der Historiker:
"Eine Welt, in der Essen keine biologische Notwendigkeit, sondern eine künstlerische Leidenschaft war, entstand dort, wo sie auch heute noch ihr Zentrum hat: in Paris."
Dahinter verberge sich ein relativ prosaischer Vorgang:
" "Die französische Revolution zerstörte den königlichen Hof mit seiner auch kulinarischen Prachtentfaltung und machte eine große Zahl von Privatköchen der enteigneten und geflohenen Aristokratie arbeitslos. "
Und so führt für Osterhammel ein direkter Weg von der Erstürmung der Bastille zum Sturm auf das kalte Buffet. Welthistorisch betrachtet ist die Erfindung des Restaurants allerdings keine europäische. Auch darauf weist der Autor als versierter Kenner der asiatischen Geschichte hin.
Jürgen Osterhammel: " "Eine öffentliche städtische Esskultur findet man im China der sogenannten Ming-Zeit – 16. - 17. Jahrhundert. Das ist jetzt nun weit vor der Epoche, die das Buch behandelt, muss aber als Vorgeschichte gesehen werden. "
Fazit: Für jeden, der sich mit dem 19. Jahrhundert auseinandersetzen möchte, ist die "Verwandlung der Welt" interessant und spannend zu lesen. Für Historiker kommt das gewichtige Buch sogar einem Meilenstein gleich. Nicht dass National- oder Regionalgeschichte jetzt überflüssig wäre, keineswegs. Nur müssen die Geschichtsschreiber fortan ihre Perspektive auch an Osterhammels globalgeschichtlichem Standardwerk schärfen.
Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Verlag C.H. Beck, München 2009, 1568 Seiten, 49,90 Euro
Die Wiederaufführung der Opern von damals ist für Osterhammel ein Beispiel dafür, wie lebendig das 19. Jahrhundert ist. Generell sei der Wunsch, bleibende Werke zu hinterlassen, damals stärker ausgeprägt gewesen als in früheren Jahrhunderten. Nie zuvor wurde soviel gesammelt, gezählt, vermessen und aufgezeichnet. Osterhammel spricht von einer Epoche organisierter Erinnerung und gesteigerter Selbstbeobachtung.
"Die meisten der Formen und Institutionen solcher Repräsentation sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts: das Museum, das Staatsarchiv, die Nationalbibliothek, die Photographie …"
Auch das Restaurant gilt übrigens als bleibende Errungenschaft dieser Epoche. Aber dazu später mehr.
In seinem Buch verzichtet Osterhammel vollständig auf eine chronologische Darstellung. Stattdessen fächert der Konstanzer Historiker das 19. Jahrhundert in großen Panoramen auf. Stilistisch gekonnt deckt er weite Felder wie "Imperien und Nationalstaaten" oder die Industrialisierung oder fragt nach dem Verhältnis von "sesshaften und mobilen" Menschen.
Auch geographisch vollzieht Osterhammel keine Trennung. Die Prozesse und Ereignisse auf den verschiedenen Kontinenten fügt er geschickt ineinander und fragt nach möglichen Zusammenhängen. Dass Europa dabei meist im Mittelpunkt steht, ist mit Blick auf das 19. Jahrhundert nur folgerichtig …
"Niemals zuvor hatte die westliche Halbinsel Eurasiens derart große Teile des Globus beherrscht und ausgebeutet. Niemals hatten Veränderungen, die von Europa ausgingen, eine solche Durchschlagskraft in der Welt."
"Die Verwandlung der Welt" ist allerdings nur im positiven Sinne eurozentrisch – vergleichbar mit einer Weltkarte, auf der Europa im Zentrum liegt, aber letztlich doch nur einen kleinen Teil der Erde ausmacht.
Nirgends wird das deutlicher als im Kapitel über Imperien und Nationalstaaten. So hält es Osterhammel nicht für nötig, die Entstehungsgeschichte des Deutschen Reiches oder anderer Staaten nachzuerzählen.
Der Autor begründet ausführlich, warum er mit der Tradition der deutschen Geschichtsschreibung bricht, nach der der Nationalstaat lange als das zentrale Merkmal des 19. Jahrhundert galt.
Selbst in Europa seien damals nur wenige neue Nationalstaaten entstanden, sagt Jürgen Osterhammel – und mit Blick auf andere Weltgegenden werde deutlich, dass das 19. Jahrhundert eine Epoche der Imperien gewesen sei:
Jürgen Osterhammel: "Wenn wir uns eine Weltkarte anschauen, dann besteht um 1900 der größte Teil des bewohnten Globus aus Imperien: Zum einen die Übersee-Imperien der Westeuropäer, vor allem das britische Empire, das größte von allen; auf der anderen Seite die alten Imperien, die sich bis ins 19. Jahrhundert hielten, also das chinesische Reich, das osmanische Reich. Wenn wir die beiden zusammen sehen, dann ist die Welt in der Tat eine imperiale, und der Nationalstaat wird eigentlich erst zur typischen Organisationsform des 20. Jahrhundert."
Der Autor beschreibt das 19. Jahrhundert als eine recht friedliche Epoche. Zumindest in Europa: Nach dem Wiener Kongress blieben große Kriege vier Jahrzehnte lang aus und 1871 begann eine zweite Friedensphase, die bis zum Ersten Weltkrieg andauern sollte. Einige Strukturen, die mitverantwortlich für die Schrecken des 20. Jahrhunderts waren, bildeten sich aber schon im 19. heraus.
Jürgen Osterhammel: "Der gefährlichste Konflikt in den 20 Jahren vor dem 1. Weltkrieg war die zunehmende Konkurrenz zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich – gerade in seiner wilhelminischen Epoche, als von Deutschland aus ein Wettlauf der Flottenrüstung ausging. Das brachte eine zunehmende Militarisierung und Instabilität gerade in die europäische Politik hinein."
Auf 1500 Seiten bringt Osterhammel die Weltgeschichte eines Jahrhunderts unter. Aber passt ein ganzes Jahrhundert in ein einziges Buch und sei es auch noch so dick?
Mit seinem Gespür für die großen Linien, das Typische und die Zusammenhänge, beweist der Autor, dass so ein globalgeschichtliches Vorhaben glücken kann. Dazu kommt Osterhammels profunde Kenntnis der aktuellen Forschung sowie sein Riecher für schmackhafte Details. Ein Beispiel, schon angekündigt: Das privatwirtschaftlich geführte Restaurant habe im 19. Jahrhundert den guten Geschmack demokratisiert, schreibt der Historiker:
"Eine Welt, in der Essen keine biologische Notwendigkeit, sondern eine künstlerische Leidenschaft war, entstand dort, wo sie auch heute noch ihr Zentrum hat: in Paris."
Dahinter verberge sich ein relativ prosaischer Vorgang:
" "Die französische Revolution zerstörte den königlichen Hof mit seiner auch kulinarischen Prachtentfaltung und machte eine große Zahl von Privatköchen der enteigneten und geflohenen Aristokratie arbeitslos. "
Und so führt für Osterhammel ein direkter Weg von der Erstürmung der Bastille zum Sturm auf das kalte Buffet. Welthistorisch betrachtet ist die Erfindung des Restaurants allerdings keine europäische. Auch darauf weist der Autor als versierter Kenner der asiatischen Geschichte hin.
Jürgen Osterhammel: " "Eine öffentliche städtische Esskultur findet man im China der sogenannten Ming-Zeit – 16. - 17. Jahrhundert. Das ist jetzt nun weit vor der Epoche, die das Buch behandelt, muss aber als Vorgeschichte gesehen werden. "
Fazit: Für jeden, der sich mit dem 19. Jahrhundert auseinandersetzen möchte, ist die "Verwandlung der Welt" interessant und spannend zu lesen. Für Historiker kommt das gewichtige Buch sogar einem Meilenstein gleich. Nicht dass National- oder Regionalgeschichte jetzt überflüssig wäre, keineswegs. Nur müssen die Geschichtsschreiber fortan ihre Perspektive auch an Osterhammels globalgeschichtlichem Standardwerk schärfen.
Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Verlag C.H. Beck, München 2009, 1568 Seiten, 49,90 Euro