Dienstag, 16. April 2024

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Eppelmann: Merkel-Buchautoren haben keine Vorstellung vom Leben in der DDR

Sekretärin für Agitation und Propaganda – dieses Amt soll Angela Merkel laut einem neuen Buch bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) übernommen haben. Der Chef der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hält das für möglich. Er glaubt aber, sie habe sich für den Posten nicht "den Hintern aufgerissen".

Rainer Eppelmann im Gespräch mit Christiane Kaess | 15.05.2013
    Christiane Kaess: War Angela Merkel Sekretärin für Agitation und Propaganda bei der FDJ? Zumindest behaupten das die Autoren des Buches "Das erste Leben der Angela M.", Günter Lachmann und Ralf Georg Reuth - zumindest indirekt, indem sie einen früheren Funktionär zitieren, der eben dieses behauptet. Neu sind die Vorwürfe nicht, seit vielen Jahren gibt es Stimmen, die behaupten, Angela Merkel sei nicht nur Kulturbeauftragte ihrer FDJ-Gruppe an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin gewesen, sondern habe sich auch um Agitation und Propaganda gekümmert. Dennoch hat die Bundeskanzlerin nie klar zu diesen speziellen Vorwürfen sich geäußert.

    Am Telefon ist Rainer Eppelmann, Mitglied der CDU und Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Guten Morgen!

    Rainer Eppelmann: Schönen guten Morgen, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Eppelmann, Sekretär für Agitation und Propaganda – das klingt für viele heute völlig fremd. Was verbarg sich hinter diesem Posten?

    Eppelmann: Ja zurecht völlig fremd, weil die DDR 25 Jahre zum Glück tot ist und viele, viele Deutsche nie in der DDR gelebt haben. Die DDR war aber nach ihrem eigenen Selbstverständnis nichts anderes als Agitation und Propaganda, Revolution, Weltrevolution, das bessere Gesellschaftsmodell, die Zukunft, glückliche Zukunft für alle kleinen Deutschen, und das wurde auch in der FDJ, in der sogenannten Freien Deutschen Jugend, propagiert. Und da hat jeder seinen Posten gehabt oder viele hatten einen Posten gehabt und haben sich dann engagieren dürfen, und so ein gescheites Mädchen, wie es die Angela Kasner offensichtlich gewesen ist, hat das natürlich auch gehabt, in dem Bemühen, über viele Jahre offensichtlich zumindest nicht aufzufallen. Das war übrigens typisch für schätzungsweise 95 Prozent aller DDR-Kinder und Jugendlichen, so von ihren Eltern erzogen und aufgewachsen: Fall nicht auf, um nicht ständig benachteiligt zu werden.

    Kaess: Herr Eppelmann, das nicht auffallen ist ja das eine, aber eine herausgehobene Funktion zu nehmen das andere, und darum, denke ich, dreht sich jetzt die Diskussion. Konnte man es sich denn aussuchen, so eine Funktion zu übernehmen, oder wurde man dazu auch gedrängt?

    Eppelmann: Ja natürlich wurde man dazu gedrängt. Ich weiß nicht, ob man es in jedem Falle als Drängen empfunden hat. Das kann nur Angela Merkel selber beantworten, ob sie da sich drüber gefreut hat, ob sie da scharf drauf war, oder ob sie das notgedrungen gemacht hat. Ich kann an der Stelle höchstens spekulieren, und das will ich aber nicht. Ich gehöre vielleicht zu den fünf Prozent DDR-Bürgern, die nicht in der FDJ gewesen sind, allerdings nicht aus eigenem Willen, sondern weil es mir Gott sei Dank, sage ich heute, meine Eltern verboten haben. Das ist aber offensichtlich bei Angela Kasner anders gewesen.

    Kaess: Und was hatte das für Sie für Konsequenzen?

    Eppelmann: Ich durfte kein Abitur machen, hätte also nie Physik studieren können.

    Kaess: Und wenn wir das jetzt mal vergleichen mit dem Lebenslauf von Angela Merkel, wenn sie in so einer herausgehobenen Position tatsächlich gewesen wäre – wir wissen es ja zum Zeitpunkt nicht. Musste man sich für diese Position mit der DDR-Ideologie komplett identifizieren?

    Eppelmann: Nein. Man musste den Anschein erwecken, natürlich, keine Frage! Ich weiß nicht, vielleicht sollte man mal ein paar Lehrer fragen oder Lehrerinnen, die in der Deutschen Demokratischen Republik Deutsch oder Geschichte oder Gegenwartskunde unterrichtet haben. Die haben natürlich den Eindruck vermittelt, als ob sie tausendprozentig überzeugte DDR-Bürger gewesen sind. Sonst hätten sie diesen Unterricht nicht machen können, sonst hätten sie ihren Beruf nicht ausüben können. Die Angela Merkel ist aus welchen Motiven auch immer in die FDJ gegangen, möglicherweise, weil sie es selber wollte, oder weil es ihre Eltern wollten, und das ist ein braves Mädchen gewesen, wie das im evangelischen Pfarrhaus zu der Zeit normalerweise war, und dann ist sie gefragt worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie, Entschuldigung, sich den Hintern aufgerissen hat, um diesen Posten zu kriegen.

    Kaess: Das hört sich jetzt so an, Herr Eppelmann, als würden Sie davon ausgehen, dass sie diesen Posten tatsächlich hatte?

    Eppelmann: Ja, kann ich mir gut vorstellen. Das ist für mich kein Problem. Diejenigen, die sich da heute das Maul drüber zerreißen, sind meiner Meinung nach unsensibel, was die Lebenssituation und die Lebensmöglichkeiten in der DDR angeht, und sie haben relativ wenig Ahnung davon, wie diese DDR funktioniert hat. Noch mal: 95 Prozent aller Kinder und Jugendlichen waren in den Pionieren und in der FDJ. Und die, die nicht drin waren, haben oft zumindest lange darunter gelitten, weil sie es auf den Wunsch ihrer Eltern hin nicht getan haben, und sie sind über viele, viele Jahre als Außenseiter, als Kinder oder Jugendliche am Rande aufgewachsen.

    Kaess: Da sind die Erfahrungen anscheinend sehr unterschiedlich. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man mit Betroffenen diskutiert. Viele, auch Kollegen mit DDR-Vergangenheit, sagen uns, man kam auch ganz gut damit durch, ein einfaches Mitglied der FDJ zu sein, man musste keine herausgehobenen Positionen haben.

    Eppelmann: Ja richtig! Richtig, da gebe ich Ihnen recht.

    Kaess: Also hätte sich Angela Merkel, sollte sie diesen Posten gehabt haben, auch einfach dagegen entscheiden können?

    Eppelmann: Ich gehe mal davon aus, sie hätte das gekonnt. Die Frage ist bloß, um welchen Preis. Das Mädel wollte bei den Einsen, die sie ja offensichtlich immer wieder gehabt hat, verständlicherweise studieren, und da haben ihr ihre Eltern versucht, deutlich zu machen, welchen Weg sie gehen muss, um tatsächlich studieren zu können. Durch einen Zufall weiß ich, dass sie trotzdem noch Schwierigkeiten gehabt hat. Sie hat ein Abiturzeugnis nur mit Einsen gehabt und ist zunächst zum Studium eben nicht zugelassen gewesen. Dann hat sich unser Bischof Schönherr persönlich für sie beim Staatssekretär für Kirchenfragen einsetzen müssen, damit sie dann doch noch studieren konnte.

    Kaess: Herr Eppelmann, was werfen Sie den Autoren des Buches vor?

    Eppelmann: …, dass sie sich offensichtlich überhaupt nicht vorstellen können, wie das Leben in der DDR gewesen ist, wie Eltern darum sich bemüht haben und gekämpft haben, noch dazu, wenn sie denn aus christlichem Elternhaus waren. Es hat einen Kirchenkampf in den 50er-Jahren in der DDR gegeben. Das hatten natürlich auch christliche Eltern nicht vergessen. Und nun wollten sie ihren Kindern eine halbwegs vernünftige Chance zur beruflichen Bildung ermöglichen und von daher haben viele Leute zum Beispiel bei Pionieren und der FDJ mitgemacht. Nur nicht auffallen mit dem Rücken an der Wand, nur nicht auffallen und wenn, dann auf eine möglichst anständige Art und Weise durchkommen. Das ist die Alternative des Handelns von vielen, vielen DDR-Bürgern gewesen. Da muss man aber offensichtlich DDR-Bürger gewesen sein oder Psychologe, um ein bisschen in die Menschen sich hineinversetzen zu können.

    Kaess: Und wenn das so, wie Sie das jetzt darstellen, bei Angela Merkel eine ganz normale DDR-Biografie gewesen sein sollte, sollte sie dann nicht auch ganz normal damit umgehen, anstatt sinngemäß zu sagen, ich erinnere mich eigentlich nicht mehr, ob ich diesen Posten hatte oder nicht?

    Eppelmann: Das kann ich nicht beantworten. Ich hoffe, dass sie damit ganz ungezwungen umgehen kann, weil es meiner Meinung nach ein völlig normales menschliches Verhalten ist, noch dazu, wenn man abhängig ist, noch dazu, wenn man davon ausgehen muss, dass es diese DDR, aus der man nicht rauskommt, dass es die länger gibt als ich lebe. Also muss ich mich da versuchen einzurichten.

    Kaess: Aber es fällt doch schwer zu glauben, wenn sie sagt, sie könne sich nicht daran erinnern.

    Eppelmann: Ja, das müssen Sie sie tatsächlich selber fragen. Ich kann für mich bloß sagen, auch ich kann mich nicht mehr an jede Einzelheit meines Lebens erinnern, das geht gar nicht. Und man muss vielleicht auch noch sagen, dass es Dinge gibt, an die man sich nicht mehr erinnern möchte, und das hat nichts mit bösem Willen oder mit Lügen zu tun, und dann verdrängt man es ein bisschen, weil es nicht zu den angenehmen Erfahrungen seines Lebens gehört. Aber daraus würde ich keinem Menschen einen Vorwurf machen.

    Kaess: Würde es Angela Merkel schaden, wenn jetzt mitten im Wahlkampf um ihre dritte Kanzlerschaft bestätigt würde, dass sie als junge Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin für den sozialistischen Jugendverband Freie Deutsche Jugend agitiert hat?

    Eppelmann: Aus meiner Sicht nein, und zwar letztlich schon deswegen, weil sie in den letzten Jahren so große Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland angehäuft hat, dass das jetzt Peanuts sind.

    Kaess: Und da ist es egal, mit welchem Gedankengut sie sich vorher identifiziert hat, wenn es so gewesen wäre?

    Eppelmann: Was heißt Gedankengut? Ich versuche ja, es zu beschreiben. Sie hat versucht, entsprechend ihrer Wünsche, ihrer Hoffnungen und ihrer geistig-intellektuellen Fähigkeiten ein Berufsziel zu erreichen. Ich meine, dass sie das nicht auf eine unanständige Art und Weise gegenüber einem mächtigen Staat gemacht hat, der bestimmt hat, wer Abitur machen konnte, wer studieren konnte, sondern dass sie sich versucht hat durchzuwursteln, wie das 95 Prozent aller DDR-Bürger getan haben. Und daraus alleine zumindest kann ich keinem Menschen einen Vorwurf machen, und wer dies tut, hat nie in einer Diktatur gelebt.

    Kaess: Die Meinung von Rainer Eppelmann, Mitglied der CDU und Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Danke für das Gespräch heute Morgen, Herr Eppelmann.

    Eppelmann: Ja, schönen Dank auch Ihnen.


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