Burkhard Müller-Ullrich: Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe (seinen ersten Vornamen Albert hatte er früh abgelegt) ist heute 82-jährig in Boston gestorben. Er war schon vor Jahrzehnten in die USA gezogen und hatte dort an verschiedenen Universitäten gelehrt. Achebes Rolle für die englischsprachige afrikanische Literatur kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; unter den wichtigsten Auszeichnungen, die er bekam, waren der "Man Booker International Prize" und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Dessen Stiftungsrat würdigte ihn damals, im Jahr 2002, als eine der "kräftigsten und zugleich subtilsten Stimmen Afrikas in der Literatur des 20. Jahrhunderts". – Frage an den Literaturwissenschaftler und Afrika-Spezialisten Manfred Loimeier: Wenn man Nigeria und Literatur hört, denkt man auch und vielleicht sogar zuerst an den Nobelpreisträger Wole Soyinka. Wie war das Verhältnis der beiden?
Manfred Loimeier: Das Verhältnis der beiden war auf Kollegenebene sehr gut. Die beiden unterscheiden sich allerdings literarish sehr deutlich, weil Wole Soyinka ein Autor ist, der eigentlich mehr für das Theater arbeitete, also für die darstellende Kunst, während Chinua Achebe ein klassischer Romanautor ist, der mit Prosa arbeitet.
Müller-Ullrich: Achebe hat ja angefangen sozusagen aus einem Ablehnungsimpuls heraus. Er war nicht zufrieden mit dem Bild seines Landes in der bestehenden englischen Literatur in dem Fall. Und das war wohl eine Motivation für ihn, etwas eigenes zu machen. Wie sieht es aus, sich auf nigerianische Literaturtradition zu berufen? Was gab es da?
Loimeier: Es gab in der englischen Sprache relativ wenig bekannte Literatur. Aber es gab natürlich eine große langjährige afrikanische Literaturtradition, die nicht in dem Maße verschriftlicht war und die sich natürlich auch durch andere stilistische Elemente auszeichnet, unter anderem eine ausgeprägte Mündigkeit, also auch im Schriftlichen, und da war es Chinua Achebe, dass er gleich mit seinem allerersten Roman "Alles zerfällt" – da ist ja auch vergangenes Jahr eine neue Übersetzung erschienen – quasi die englische Sprache nun adaptiert hat, so dass sie in der Lage war, die literarischen Formen aufzunehmen, mit denen Achebe vor dem Hintergrund seiner eigenen literarischen Tradition gearbeitet hat.
Müller-Ullrich: Dieser Roman, den Sie jetzt genannt haben, der war ja auf Anhieb ein Erfolg, Ende der 50er-Jahre war das schon, wurde dann später in 45 Sprachen übersetzt und mehrere Millionen Mal verkauft. Wie hat sich das auf das Leben des Autors ausgewirkt?
Loimeier: Es hat sein Leben zunächst komplett verändert. Es hat ihm die Möglichkeit gegeben, als Autor zu arbeiten. Das war schon damals sehr ungewöhnlich, dass das einem afrikanischen Autor möglich ist. Er konnte weitere Romane publizieren. Und dann kam eben der nigerianische Bürgerkrieg, bei uns bekannt als der Biafra-Krieg, dazwischen, in dem Achebe eine Position für die Loslösung Biafras von Nigeria sich ausgesprochen hat.
Müller-Ullrich: …, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sein Stamm, also die Ibo in diesem Gebiet lebt.
Loimeier: Genau. Als Intellektuellen hat Achebe das quasi etwas desavouiert, was auch immer der Grund war, möglicherweise, warum Wole Soyinka der Preis zugesprochen wurde, der sich da vermittelnder geäußert hatte. Und Chinua Achebe blieb dann in seiner Ibo-Heimat und wurde dann Professor an der Universität in Suka. Er schlug also eine akademische Laufbahn ein und hat auf dieser Schiene auch sehr viele Autoren beeinflusst, die wir heute auch hier in Deutschland lesen. Dazu zählt beispielsweise Adichie oder Flora Nwapa, die auch jüngst in Übersetzungen erschienen ist und die sich auf das Werk von Chinua Achebe beziehen, insbesondere eben den Roman "Alles zerfällt".
Müller-Ullrich: Wenn man von Nigeria spricht, wenn man von nigerianischer Literatur spricht, dann ist das ja eigentlich ein Konstrukt. Sie sprachen gerade vom Bürgerkrieg, das zeigt es schon: das Land zerfällt, es besteht aus Hunderten von Ethnien im Grunde. Was ist eigentlich Nigeria und was kann dann nigerianische Literatur sein?
Loimeier: Nigeria ist in der Tat, wie Sie sagen, eine … Nun, viele wünschen, es wäre eine Föderation verschiedener Völker. Die Grenzen sind festgelegt worden noch zu Zeiten, als Nigeria britische Kolonie war. Das führte zu Schwierigkeiten, weil diese Grenzen, sei es im Norden und Westen oder Osten, Volksgruppen durchschneiden. Die nigerianische Literatur ist von daher als Begriff ebenfalls sehr schwierig und kommt eigentlich eher unserem westlichen Verständnis entgegen, denn nigerianische Literatur genau genommen meint ja nicht nur die englischsprachige Literatur, sondern beispielsweise auch die Literatur eben der Ibo, also der Volksgruppe, aus der Achebe kommt, oder der Literatur der Yoba, von der Wole Soyinka herkommt, oder aber im Norden die Literatur der Ausah, die muslimisch geprägt ist. Also das ist eine Vielfältigkeit, die mit unseren westlichen akademischen Begriffen so gar nicht getroffen werden kann.
Müller-Ullrich: Jetzt hat der Mensch in Nigeria und der Schriftsteller an seiner Seite natürlich noch ein paar andere Probleme, als sich gegen die kolonialistische Vergangenheit zu wenden und diese Dinge abzuarbeiten. Das Land an sich ist relativ reich, aber es wurde über lange Strecken sehr schlecht und sehr korrupt regiert. Wie hat sich Achebe in dem Zusammenhang verhalten?
Loimeier: Achebe war es immer wichtig, sich dann zuletzt nicht mehr vereinnahmen zu lassen für eine eindeutige politische Stellungnahme. Seine Position war immer, dass er sich für Humanität ausgesprochen hat, für Frieden und Verständigung.
Müller-Ullrich: Vielen Dank für diese Auskünfte. - Das war der Literaturwissenschaftler und Afrika-Spezialist Manfred Loimeier über den nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe, der heute in Boston gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Manfred Loimeier: Das Verhältnis der beiden war auf Kollegenebene sehr gut. Die beiden unterscheiden sich allerdings literarish sehr deutlich, weil Wole Soyinka ein Autor ist, der eigentlich mehr für das Theater arbeitete, also für die darstellende Kunst, während Chinua Achebe ein klassischer Romanautor ist, der mit Prosa arbeitet.
Müller-Ullrich: Achebe hat ja angefangen sozusagen aus einem Ablehnungsimpuls heraus. Er war nicht zufrieden mit dem Bild seines Landes in der bestehenden englischen Literatur in dem Fall. Und das war wohl eine Motivation für ihn, etwas eigenes zu machen. Wie sieht es aus, sich auf nigerianische Literaturtradition zu berufen? Was gab es da?
Loimeier: Es gab in der englischen Sprache relativ wenig bekannte Literatur. Aber es gab natürlich eine große langjährige afrikanische Literaturtradition, die nicht in dem Maße verschriftlicht war und die sich natürlich auch durch andere stilistische Elemente auszeichnet, unter anderem eine ausgeprägte Mündigkeit, also auch im Schriftlichen, und da war es Chinua Achebe, dass er gleich mit seinem allerersten Roman "Alles zerfällt" – da ist ja auch vergangenes Jahr eine neue Übersetzung erschienen – quasi die englische Sprache nun adaptiert hat, so dass sie in der Lage war, die literarischen Formen aufzunehmen, mit denen Achebe vor dem Hintergrund seiner eigenen literarischen Tradition gearbeitet hat.
Müller-Ullrich: Dieser Roman, den Sie jetzt genannt haben, der war ja auf Anhieb ein Erfolg, Ende der 50er-Jahre war das schon, wurde dann später in 45 Sprachen übersetzt und mehrere Millionen Mal verkauft. Wie hat sich das auf das Leben des Autors ausgewirkt?
Loimeier: Es hat sein Leben zunächst komplett verändert. Es hat ihm die Möglichkeit gegeben, als Autor zu arbeiten. Das war schon damals sehr ungewöhnlich, dass das einem afrikanischen Autor möglich ist. Er konnte weitere Romane publizieren. Und dann kam eben der nigerianische Bürgerkrieg, bei uns bekannt als der Biafra-Krieg, dazwischen, in dem Achebe eine Position für die Loslösung Biafras von Nigeria sich ausgesprochen hat.
Müller-Ullrich: …, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sein Stamm, also die Ibo in diesem Gebiet lebt.
Loimeier: Genau. Als Intellektuellen hat Achebe das quasi etwas desavouiert, was auch immer der Grund war, möglicherweise, warum Wole Soyinka der Preis zugesprochen wurde, der sich da vermittelnder geäußert hatte. Und Chinua Achebe blieb dann in seiner Ibo-Heimat und wurde dann Professor an der Universität in Suka. Er schlug also eine akademische Laufbahn ein und hat auf dieser Schiene auch sehr viele Autoren beeinflusst, die wir heute auch hier in Deutschland lesen. Dazu zählt beispielsweise Adichie oder Flora Nwapa, die auch jüngst in Übersetzungen erschienen ist und die sich auf das Werk von Chinua Achebe beziehen, insbesondere eben den Roman "Alles zerfällt".
Müller-Ullrich: Wenn man von Nigeria spricht, wenn man von nigerianischer Literatur spricht, dann ist das ja eigentlich ein Konstrukt. Sie sprachen gerade vom Bürgerkrieg, das zeigt es schon: das Land zerfällt, es besteht aus Hunderten von Ethnien im Grunde. Was ist eigentlich Nigeria und was kann dann nigerianische Literatur sein?
Loimeier: Nigeria ist in der Tat, wie Sie sagen, eine … Nun, viele wünschen, es wäre eine Föderation verschiedener Völker. Die Grenzen sind festgelegt worden noch zu Zeiten, als Nigeria britische Kolonie war. Das führte zu Schwierigkeiten, weil diese Grenzen, sei es im Norden und Westen oder Osten, Volksgruppen durchschneiden. Die nigerianische Literatur ist von daher als Begriff ebenfalls sehr schwierig und kommt eigentlich eher unserem westlichen Verständnis entgegen, denn nigerianische Literatur genau genommen meint ja nicht nur die englischsprachige Literatur, sondern beispielsweise auch die Literatur eben der Ibo, also der Volksgruppe, aus der Achebe kommt, oder der Literatur der Yoba, von der Wole Soyinka herkommt, oder aber im Norden die Literatur der Ausah, die muslimisch geprägt ist. Also das ist eine Vielfältigkeit, die mit unseren westlichen akademischen Begriffen so gar nicht getroffen werden kann.
Müller-Ullrich: Jetzt hat der Mensch in Nigeria und der Schriftsteller an seiner Seite natürlich noch ein paar andere Probleme, als sich gegen die kolonialistische Vergangenheit zu wenden und diese Dinge abzuarbeiten. Das Land an sich ist relativ reich, aber es wurde über lange Strecken sehr schlecht und sehr korrupt regiert. Wie hat sich Achebe in dem Zusammenhang verhalten?
Loimeier: Achebe war es immer wichtig, sich dann zuletzt nicht mehr vereinnahmen zu lassen für eine eindeutige politische Stellungnahme. Seine Position war immer, dass er sich für Humanität ausgesprochen hat, für Frieden und Verständigung.
Müller-Ullrich: Vielen Dank für diese Auskünfte. - Das war der Literaturwissenschaftler und Afrika-Spezialist Manfred Loimeier über den nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe, der heute in Boston gestorben ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.