Um den vielen Mozart-Rätseln, die in diesem heiligen Jahr wieder einmal durchdekliniert werden, sogleich eines hinzuzufügen: Auch das scheint er vorausgewusst zu haben, im Brief an ... unter dem Datum des "28. febro 1778": dass das "Ich", das er einmal war, unter den Bestürmungen seiner Biographen in eine so merkwürdig irreale Vorvergangenheit entrückt werden würde, dass das ganze Mozartdurcheinander inzwischen jede noch irgend "unschuldige" "Vorstellung" davon, "wer Mozart war", eine Sache der Unmöglichkeit geworden ist. "Ich wurde gewesen" ist dabei vielleicht die treffendste Formulierung. Und weil Mozarts eigenes Wort-Werk, dokumentiert und kommentiert in sieben dicken und einem dünneren neuen Ergänzungsband als "Briefe und Aufzeichnungen" von Bärenreiter und dtv in einer knallroten Taschenbuchbox angeboten werden, empfiehlt sich in diesem Jubeljahr vor allem und zuerst einmal die Lektüre dieses ungewöhnlichsten Korrespondenten des 18. Jahrhunderts.
Von den Reiseberichten der Wunderkind-Tourneen bis zu den letzten Bettelbriefen an Freund Puchberg ist, Wagner ausgenommen, kein Komponist so gut dokumentiert. Erst recht keiner reicht an den Autor Mozart heran, und hätten wir keine Note Musik – die Briefe für sich genommen sind schon eine erstrangige kulturgeschichtliche Quelle, und ein literarisches Ereignis dazu: genial sprunghaft, gnadenlos witzig, verspielt, versaut, und immer von einer vollkommenen Freiheit und frappierenden Offenheit, ganz nah am gesprochenen Wort. Das gibt es in alternativen, braven, unkommentierten Auswahlen (bei Diogenes und Manesse) und mit den nötigsten Fußnoten versehen von Stefan Kunze (bei Reclam). Es gibt auch den Versuch, den Autor Mozart als eine Art Jandl des 18. Jahrhunderts zu präsentieren, "aus den Briefen extrahiert und neu arrangiert" von Roger Shatulin (im Manesse Verlag).
Wie einmalig unerhört diese Mozartsche Familienkorrespondenz ist, erfährt man aber viel besser im Zusammenhang von Otto Erich Deutschs epochaler Gesamtausgabe, auch wenn da der erste Wolfgang-Schrieb, eine herzige Briefnachschrift an die "Allerliebste Mama", erst auf Seite 292 steht. Immerhin auch Leopold, der den ersten Band beherrscht, ist ein bemerkenswerter Autor, vor allem, wenn er scharf die Gesellschaft portraitiert, die er mit seinen minderjährigen musikalischen Naturwundern erobern will. Ein kluger Mann, und durchaus nicht das geldgierige Monster, das uns die Leopoldfeinde immer noch weismachen wollen.
Bald dreißig Jahre ist es her, dass Wolfgang Hildesheimers wirkmächtiger "Mozart"-Essay erschien. Suhrkamp hält das Werk zum Jubiläumsanlass gleich doppelt bereit: als Insel-Taschenbuch und in der edlen Bibliothek Suhrkamp. Hildesheimer räumte mit der unangemessenen Kumpelei der Biographen mit ihrem (nämlich immer unerreichbaren) Gegenstand gründlich auf. Den herkömmlichen Lebensbeschreibern und Mozartverstehern schleuderte der Dichter Hildesheimer 1977 ein strenges ER WAR EIN ANDERER! entgegen. Damit leitete er nicht weniger als eine Wende der Rezeptionsgeschichte ein. Es lohnt sich, Hildesheimers Mozartbuch im Gedenkjahr noch einmal neuzulesen. Und sei es, um erstaunt festzustellen, wie er da mit der Geste der Entzauberung aller Mozartmythen, - vom Wunderkind bis zum Frühvollendeten,– nebenbei einen neuen Mythos aufrichtete: den des großen Fremden, von dem uns alles trennt.
"Ich glaube diese Grundthese, an ihm ist alles fremd, das ist wohl auch sehr pro domo gesprochen zu der eigenen Glorifizierung hin, "
meint Eckhard Henscheid, der Hildesheimer während der Entstehung des Mozartbuchs in Italien besucht hatte...
"denn wenn man an einem Genie wie Mozart alles als fremd erklärt, dann ist man ja Teilhaber an dieser Fremde. Insofern ein bisschen inter pares, da hab ich ihn schon im Verdacht, das ihm das sehr gut gefallen hat, mit Mozart einen Zweierclub aufzumachen. Die beide wissen, wie fremd alles ist, was um sie herum passiert und mit ihnen. "
"Nah kommen wir Mozart nicht", lautete Hildesheimers methodische Voraussetzung. Nähme man das ernst, es dürften gar keine Mozartbiografien mehr erscheinen. Doch obwohl es in den Neuerscheinungen dieses Jahres noch reichlich hildesheimert: Das grimmige Verdikt scheint die biographische Branche eher zu stimulieren. Mit bisweilen fragwürdigen Resultaten. "Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie" des italienischen Historikers Piero Melagrani im Siedler Verlag etwa verspricht
die glänzend erzählte Lebensgeschichte eines Genies".
Und das liest sich dann so:
"Mozart wurde ein großer Musiker, weil er die Welt der Noten von ganzem Herzen liebte.
Das wäre immerhin eine Erklärung. Überhaupt: so undurchschaubar scheint der Fall Mozart gar nicht zu sein, legt uns Melagrani nahe.- Man muss nur die Zeichen deuten:
"Der Name Wolfgang (also einer, der ‚wie ein Wolf geht’) deutet auf den Mut, die Fertigkeit, die Schnelligkeit hin."
– Wie Melagrani mit dem Wolf tanzt, liest man bald mit wachsender Konträrfaszination, staunend vor der Unbekümmertheit, mit der (nicht nur hier) die wenigen verbürgten Mozartbilder neben hundert Jahre spätere Illustrationen der Mozart-Legende gestellt werden.
"Der junge Mozart wird Kaiserin Maria Theresia durch Joseph II. vorgestellt. Schloß Schönbrunn, 13. Oktober 1762",
steht unter dem Bildchen auf der Seite, wo gerade von Wolferls Busserl auf die kaiserlich Wange berichtet wird. Da steht auch "Gemälde von Eduard Ender, 1869". Aber die herzige Szene: den artigen Wolfgang, die gnadenreich die Arme öffnende Maria Theresia wird man kaum noch los. Was verschlägt’s, wenn die Darstellung so schön "anschaulich" wird.
"Das ist ein Bild wie die Madonna mit dem Jesuskind. "
- Professor Gernot Gruber, Musikwissenschafter in Wien -
"Sie können das in der Wiener Staatsoper sich ansehen, das ist dann hundert Jahre später auch gemalt worden und die Erklärung für mich ist die Bildkraft. Gewisse Bilder kriegen wir nicht los, wir werden auch den Beethoven mit zerfurchten Haaren nicht los."
- Nur in einer modernen Biographie haben sie nichts zu suchen, außer im Kapitel "Rezeptionsgeschichte". Wenn der Historiker Melagrani von den Zeitumständen erzählt, vom entstehenden freien Markt für Musik, von der Wasserqualität im Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts, oder über die englische Tuchindustrie, dann liest sich das hinreichend zuverlässig. Doch je näher er seinem Gegenstand Mozart kommt, desto wackliger wird’s. Und wenn es gar um Mozartmusik geht, dann ist die einfach dauernd und immer wieder "wunderbar" (KV 22), "größtenteils sehr gelungen" (La Finta semplice), "von bemerkenswertem Rang" (La Betulia liberata), "beachtlich" (KV 112), "brillant und mitreißend" (KV 114), auch: "hinreißend" (KV 334) und so weiter. Es bleibt ein Rätsel, wie Großkritiker Joachim Kaiser in der "Süddeutschen Zeitung" Melagranis Machwerk "Eindringlichkeit" bescheinigen konnte.
Der ciarlattano Melagrani wäre kaum der Rede wert, wäre solch biographischer Bockmist nicht auch Symptom einer Mozartindustrie, deren Betriebsausstoß längst in keinem Verhältnis zur Solidität ihrer Produkte mehr steht. Wenn es so schnell gehen muss wie in dumonts "Schnellkurs Mozart", dann bleibt sogar mal ein falsches Geburtsdatum stehen: 28. Januar, knapp daneben ist aber auch vorbei. Wer es eilig hat, wird mit Gernot Grubers Kurzeinführung in C.H. Becks Wissen-Reihe am besten bedient: die Spitze eines Mozartexpertenwissen-Eisbergs, zuverlässig und dabei locker ausgestreut in sympathischem Parlando.
Im Geschwindschritt saust auch Clemens Prokop durch "die Geschichte eines schnellen Lebens". "Mozart der Spieler" (im Verlag Bärenreiter) fokussiert sich nicht auf die letzten Jahre des Genies, und die Frage, ob sich die Schulden des durchaus zu den Besserverdienenden zählenden Komponisten aus geheimer Zockerei erklären lassen, bleibt sogar unbeleuchtet. Das Bild vom "Spieler" Mozart zielt hier auf eine grundsätzlich "experimentelle" Haltung in Bezug auf Leben und Werk. Das schmale Bändchen gibt sich ein wenig zu absichtsvoll "erfrischend", glänzt mit vielen Bildchen – und krankt selbst an einer gewissen Verspieltheit, berichtet dies und das, von Allem etwas und nichts wirklich befriedigend. Dem coolen Ton widerspricht ein Hang zum allzugewiss Apodiktischen. Die Begegnung mit "alter" Musik in den Matineen des Wiener Bibliothekars und Barons Gottfried van Swieten habe ihm Einsicht in kontrapunktische Künste vermittelt; die Arbeit für die schlicht musizierenden Freimauerbrüder aber noch mehr gegeben:
"Mozart hat etwas Wichtigeres und Schwereres gelernt: Verzicht."
Hildesheimer, hilf!
Von anderem Kaliber, aber auch anderen Dimensionen ist Maynard Solomons "Mozart. Ein Leben". Zehn Jahre nach Erscheinen des amerikanischen Originals legt Bärenreiter eine sorgfältig betreute Übersetzung dieses wichtigen Buchs vor. Solomon scheut die Annäherung auch mit den Werkzeugen der Psychoanalyse durchaus nicht, und bleibt doch seriös und gebremst spekulativ. Vor allem: in vielen Details wirkt dieses Buch anregend. Brillant das Portrait Leopold Mozarts: ein Schwieriger, uneins mit sich und der Welt und vor allem mit seinen Autoritäten. Frappierend Solomons differenzierte Interpretation des Bilds vom "Kind" Mozart in der Rezeptionsgeschichte, die Aufspaltung in das "gute", das "schlimme" Kind, schließlich das "unschuldige", "göttliche":
"Der historische, vollendete Mozart wurde zum Duplikat einer ‚Porzellan-Kinderfigur’ und das göttliche Kind überlebte seinen eigenen Tod. Ein kränkelndes Kind, mit großem Kopf und schmächtigem Körper, ein gewinnender Jüngling mit schelmischem Lächeln und unerschütterlicher Zuversicht, ein kleiner Magier, begabt mit den erstaunlichsten Fähigkeiten, glänzte in wunderbaren Vorstellungen vor gekrönten Häuptern und Honoriatoren Europas, während überall Vorhersagen seines frühen Untergangs zu hören waren."
Wer kannte Mozart, der sich so deutlich zu erkennen gab? Seine Salzburger vielleicht am wenigsten.
"Salzbourg ist kein ort für mich. ja ganz sicher!" –
Von den Missverständnissen zwischen Salzburg und seinem größten Sohn berichtet Eva Gesine Baur in "Mozarts Salzburg" (bei C.H. Beck) mit immerhin einigem Vergegenwärtigungsschwung. Nirgends erfährt man mehr über den Mozart-Familiensport des Bölzlschießens (auf Scheiben), und das Ganze dient noch als Salzburg-Reiseführer, inklusive Öffnungszeiten. Ein Kann. – Nützlich ist: "Mozarts Opern. Alles von ‚Apollo und Hyacinth’ bis zur ‚Zauberflöte’", die gesammelten und aktualisierten Mozart-Artikel aus "Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters". Zuverlässig und ein wenig dröge: Ulrich Konrads "Wolfgang Amadé Mozart. Leben Musik Werkbestand" (bei Bärenreiter), "hervorgegangen" aus Konrads Mozart-Artikel in der Neufassung der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart".
Bei soviel verstreutem Wissen ist ein "Mozart Lexikon" eine schöne Idee: eine Art Kursbuch in die Spezialdisziplinen der Mozartologie. Aber so weit ist der Kosmos Mozart, dass der Versuch, ihn alphabetisch zu verstichworten, kaum gelingen kann. Leider verspielt das von der Mozart-Koryphäe Gernot Gruber und dem Salzburger Musikhistoriker Joachim Brügge herausgegebene Neunhundertseiten-Werk die Chance, einmal jenseits der gängigen Systematik auch interessant Peripheres zu beleuchten. Das Artikelverzeichnis bringt wenig mehr als das Erwartbare: Werkgruppen, Biographien der Mozartfamilie, des Umkreises und bedeutender Mozartianer. Unter "KARAJAN, Herbert (Heribert, Ritter von)" lernen wir, am Ende einer üblichen Stationenbiographie wie sie so ähnlich in jedem anderen Lexikon stehen könnte:
"In seiner umfangreichen Diskographie sind die Werke Mozarts zahlreich vertreten, so die großen Sinfonien und andere Orchesterwerke sowie die Opern Così fan tutte, Le nozze die Figaro und Die Zauberflöte."
– Aha. Derlei macht einen nicht wirklich schlauer. Dafür vermisst man (nur zum Beispiel) einen Eintrag, der die schwankenden Informationen über Mozarts Physis einmal gesichert zusammenbrächte. "Das Mozart Lexikon" im Laaber Verlag ist der letzte Teil eines auf sechs Bände angelegten Mozart-Handbuchs, zu dessen Mitherausgebern auch der Germanist Dieter Borchmeyer zählt, der hier nicht als Autor erscheint. Hätte er doch den Artikel "Goethe" geschrieben, und am besten noch einen über "Empfindsamkeit" dazu. Denn der Goethe-Eintrag referiert ein wenig flach, und das Stichwort Empfindsamkeit fehlt ganz (und weil es kein Register gibt, ist es auch nicht zu finden). Das kann aber, wenn Borchmeyer in seiner Studie "Mozart oder Die Entdeckung der Liebe" (im Insel Verlag) recht hat, nur ein Irrtum sein. Denn hier wird aus dem gegen die höfische Galanterie gerichtete neue Liebescode "Empfindsamkeit" nun gleich der ganze Mozart der sogenannten "Meisteropern" erklärt. Borchmeyer stellt die Empfindsamkeitsthese vor einen fabelhaft gelehrten Horizont, vor dem seine Spezial- und Lieblingshelden Goethe und Wagner vielleicht allzu leuchtturmhaft in der geistesgeschichtlichen Landschaft stehen. Dennoch: Unter den vielen Mozartabschreibern hat Borchmeyer den Vorzug, ein Selbstdenker zu sein, und wenn er seine alleserklärenden Lieblingsmotive bisweilen überstrapaziert, bleibt er doch ein erfrischender Demystifikator und sein Buch ein selten bissfester Brocken im Meer des Mozartkugelbreis.
Wo sind die Grenzen unseres Mozart-Wissens?
"Es scheint an der Zeit zu sein, die Kontingenz des Kunstwerks anzuerkennen: das Unverfügbare, nicht Auszurechnende, nicht Logische"
steht in Martin Gecks mit leichter Hand verfasstem Mozart-Buch bei Rowohlt. Dieses Unverfügbare findet Geck bei Mozart, indem er ihn als Harlequin zeigt. Der hüpft nun aber, als Agent einer musikalischen Spieltheorie, viel weiter als der purzelbaumschlagende Klischee-Amadeus. Es hüpft bis an jenen Kraterrand, der, nach Anselm Kiefer, das Verstehen alles Schönen begrenzt. Wo einst Hildesheimer im Universum Mozart das Große Geheimnis als ein Art schwarzes Loch umzäunte, beugt sich, dreißig Jahre danach, Martin Geck neugierig über den Rand, und wir mir ihm. Sich mit Gecks kenntnisreicher, dabei aber"zärtlicher Wissenschaft" über Mozart immer weiter und neu zu wundern, zählt zu den Hauptfreuden dieses Jubeljahrs.
Bücherliste
Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Erweiterte Ausgabe ... hg. von Ulrich Konrad. Bärenreiter/dtv. Acht Bände, 4550 Seiten,
Wolfgang Hildesheimer: Mozart. Insel Verlag, 423 Seiten, 10,00
Piero Melagrani: Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie. Siedler Verlag, 350 Seiten, 22 EUR
Clemens Prokop: Mozart der Spieler. Die Geschichte eines schnellen Lebens. Bärenreiter, 150 Seiten,
Gernot Gruber: Wolfgang Amadeus Mozart. C.H. Beck-wissen. 144 Seiten, EUR 7,90.
Mozarts Opern. Alles von "Apollo und Hyacinth" bis zur "Zauberflöte". Hg. vom Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Piper Verlag. 317 Seiten
Das Mozart Lexikon. Hg. von Gernot Gruber und Joachim Brügge. Laaber Verlag. 933 Seiten,
Dieter Borchmeyer: Mozart oder Die Entdeckung der Liebe. Insel Verlag. 425 Seiten, 19,80.
Maynard Solomon: Mozart. Ein Leben. Bärenreiter/Metzler 618 Seiten,
Eva Gesine Baur: Mozarts Salzburg. C.H. Beck 174 Seiten, EUR 16,90.
Claudia Maria Knispel: Wolfgang Amadeus Mozart. Sein Leben, seine Zeit. Reclam Leipzig. 208 Seiten,
Martin Geck: Mozart. Eine Biographie. Rowohlt. 480 Seiten, 24,90.
Von den Reiseberichten der Wunderkind-Tourneen bis zu den letzten Bettelbriefen an Freund Puchberg ist, Wagner ausgenommen, kein Komponist so gut dokumentiert. Erst recht keiner reicht an den Autor Mozart heran, und hätten wir keine Note Musik – die Briefe für sich genommen sind schon eine erstrangige kulturgeschichtliche Quelle, und ein literarisches Ereignis dazu: genial sprunghaft, gnadenlos witzig, verspielt, versaut, und immer von einer vollkommenen Freiheit und frappierenden Offenheit, ganz nah am gesprochenen Wort. Das gibt es in alternativen, braven, unkommentierten Auswahlen (bei Diogenes und Manesse) und mit den nötigsten Fußnoten versehen von Stefan Kunze (bei Reclam). Es gibt auch den Versuch, den Autor Mozart als eine Art Jandl des 18. Jahrhunderts zu präsentieren, "aus den Briefen extrahiert und neu arrangiert" von Roger Shatulin (im Manesse Verlag).
Wie einmalig unerhört diese Mozartsche Familienkorrespondenz ist, erfährt man aber viel besser im Zusammenhang von Otto Erich Deutschs epochaler Gesamtausgabe, auch wenn da der erste Wolfgang-Schrieb, eine herzige Briefnachschrift an die "Allerliebste Mama", erst auf Seite 292 steht. Immerhin auch Leopold, der den ersten Band beherrscht, ist ein bemerkenswerter Autor, vor allem, wenn er scharf die Gesellschaft portraitiert, die er mit seinen minderjährigen musikalischen Naturwundern erobern will. Ein kluger Mann, und durchaus nicht das geldgierige Monster, das uns die Leopoldfeinde immer noch weismachen wollen.
Bald dreißig Jahre ist es her, dass Wolfgang Hildesheimers wirkmächtiger "Mozart"-Essay erschien. Suhrkamp hält das Werk zum Jubiläumsanlass gleich doppelt bereit: als Insel-Taschenbuch und in der edlen Bibliothek Suhrkamp. Hildesheimer räumte mit der unangemessenen Kumpelei der Biographen mit ihrem (nämlich immer unerreichbaren) Gegenstand gründlich auf. Den herkömmlichen Lebensbeschreibern und Mozartverstehern schleuderte der Dichter Hildesheimer 1977 ein strenges ER WAR EIN ANDERER! entgegen. Damit leitete er nicht weniger als eine Wende der Rezeptionsgeschichte ein. Es lohnt sich, Hildesheimers Mozartbuch im Gedenkjahr noch einmal neuzulesen. Und sei es, um erstaunt festzustellen, wie er da mit der Geste der Entzauberung aller Mozartmythen, - vom Wunderkind bis zum Frühvollendeten,– nebenbei einen neuen Mythos aufrichtete: den des großen Fremden, von dem uns alles trennt.
"Ich glaube diese Grundthese, an ihm ist alles fremd, das ist wohl auch sehr pro domo gesprochen zu der eigenen Glorifizierung hin, "
meint Eckhard Henscheid, der Hildesheimer während der Entstehung des Mozartbuchs in Italien besucht hatte...
"denn wenn man an einem Genie wie Mozart alles als fremd erklärt, dann ist man ja Teilhaber an dieser Fremde. Insofern ein bisschen inter pares, da hab ich ihn schon im Verdacht, das ihm das sehr gut gefallen hat, mit Mozart einen Zweierclub aufzumachen. Die beide wissen, wie fremd alles ist, was um sie herum passiert und mit ihnen. "
"Nah kommen wir Mozart nicht", lautete Hildesheimers methodische Voraussetzung. Nähme man das ernst, es dürften gar keine Mozartbiografien mehr erscheinen. Doch obwohl es in den Neuerscheinungen dieses Jahres noch reichlich hildesheimert: Das grimmige Verdikt scheint die biographische Branche eher zu stimulieren. Mit bisweilen fragwürdigen Resultaten. "Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie" des italienischen Historikers Piero Melagrani im Siedler Verlag etwa verspricht
die glänzend erzählte Lebensgeschichte eines Genies".
Und das liest sich dann so:
"Mozart wurde ein großer Musiker, weil er die Welt der Noten von ganzem Herzen liebte.
Das wäre immerhin eine Erklärung. Überhaupt: so undurchschaubar scheint der Fall Mozart gar nicht zu sein, legt uns Melagrani nahe.- Man muss nur die Zeichen deuten:
"Der Name Wolfgang (also einer, der ‚wie ein Wolf geht’) deutet auf den Mut, die Fertigkeit, die Schnelligkeit hin."
– Wie Melagrani mit dem Wolf tanzt, liest man bald mit wachsender Konträrfaszination, staunend vor der Unbekümmertheit, mit der (nicht nur hier) die wenigen verbürgten Mozartbilder neben hundert Jahre spätere Illustrationen der Mozart-Legende gestellt werden.
"Der junge Mozart wird Kaiserin Maria Theresia durch Joseph II. vorgestellt. Schloß Schönbrunn, 13. Oktober 1762",
steht unter dem Bildchen auf der Seite, wo gerade von Wolferls Busserl auf die kaiserlich Wange berichtet wird. Da steht auch "Gemälde von Eduard Ender, 1869". Aber die herzige Szene: den artigen Wolfgang, die gnadenreich die Arme öffnende Maria Theresia wird man kaum noch los. Was verschlägt’s, wenn die Darstellung so schön "anschaulich" wird.
"Das ist ein Bild wie die Madonna mit dem Jesuskind. "
- Professor Gernot Gruber, Musikwissenschafter in Wien -
"Sie können das in der Wiener Staatsoper sich ansehen, das ist dann hundert Jahre später auch gemalt worden und die Erklärung für mich ist die Bildkraft. Gewisse Bilder kriegen wir nicht los, wir werden auch den Beethoven mit zerfurchten Haaren nicht los."
- Nur in einer modernen Biographie haben sie nichts zu suchen, außer im Kapitel "Rezeptionsgeschichte". Wenn der Historiker Melagrani von den Zeitumständen erzählt, vom entstehenden freien Markt für Musik, von der Wasserqualität im Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts, oder über die englische Tuchindustrie, dann liest sich das hinreichend zuverlässig. Doch je näher er seinem Gegenstand Mozart kommt, desto wackliger wird’s. Und wenn es gar um Mozartmusik geht, dann ist die einfach dauernd und immer wieder "wunderbar" (KV 22), "größtenteils sehr gelungen" (La Finta semplice), "von bemerkenswertem Rang" (La Betulia liberata), "beachtlich" (KV 112), "brillant und mitreißend" (KV 114), auch: "hinreißend" (KV 334) und so weiter. Es bleibt ein Rätsel, wie Großkritiker Joachim Kaiser in der "Süddeutschen Zeitung" Melagranis Machwerk "Eindringlichkeit" bescheinigen konnte.
Der ciarlattano Melagrani wäre kaum der Rede wert, wäre solch biographischer Bockmist nicht auch Symptom einer Mozartindustrie, deren Betriebsausstoß längst in keinem Verhältnis zur Solidität ihrer Produkte mehr steht. Wenn es so schnell gehen muss wie in dumonts "Schnellkurs Mozart", dann bleibt sogar mal ein falsches Geburtsdatum stehen: 28. Januar, knapp daneben ist aber auch vorbei. Wer es eilig hat, wird mit Gernot Grubers Kurzeinführung in C.H. Becks Wissen-Reihe am besten bedient: die Spitze eines Mozartexpertenwissen-Eisbergs, zuverlässig und dabei locker ausgestreut in sympathischem Parlando.
Im Geschwindschritt saust auch Clemens Prokop durch "die Geschichte eines schnellen Lebens". "Mozart der Spieler" (im Verlag Bärenreiter) fokussiert sich nicht auf die letzten Jahre des Genies, und die Frage, ob sich die Schulden des durchaus zu den Besserverdienenden zählenden Komponisten aus geheimer Zockerei erklären lassen, bleibt sogar unbeleuchtet. Das Bild vom "Spieler" Mozart zielt hier auf eine grundsätzlich "experimentelle" Haltung in Bezug auf Leben und Werk. Das schmale Bändchen gibt sich ein wenig zu absichtsvoll "erfrischend", glänzt mit vielen Bildchen – und krankt selbst an einer gewissen Verspieltheit, berichtet dies und das, von Allem etwas und nichts wirklich befriedigend. Dem coolen Ton widerspricht ein Hang zum allzugewiss Apodiktischen. Die Begegnung mit "alter" Musik in den Matineen des Wiener Bibliothekars und Barons Gottfried van Swieten habe ihm Einsicht in kontrapunktische Künste vermittelt; die Arbeit für die schlicht musizierenden Freimauerbrüder aber noch mehr gegeben:
"Mozart hat etwas Wichtigeres und Schwereres gelernt: Verzicht."
Hildesheimer, hilf!
Von anderem Kaliber, aber auch anderen Dimensionen ist Maynard Solomons "Mozart. Ein Leben". Zehn Jahre nach Erscheinen des amerikanischen Originals legt Bärenreiter eine sorgfältig betreute Übersetzung dieses wichtigen Buchs vor. Solomon scheut die Annäherung auch mit den Werkzeugen der Psychoanalyse durchaus nicht, und bleibt doch seriös und gebremst spekulativ. Vor allem: in vielen Details wirkt dieses Buch anregend. Brillant das Portrait Leopold Mozarts: ein Schwieriger, uneins mit sich und der Welt und vor allem mit seinen Autoritäten. Frappierend Solomons differenzierte Interpretation des Bilds vom "Kind" Mozart in der Rezeptionsgeschichte, die Aufspaltung in das "gute", das "schlimme" Kind, schließlich das "unschuldige", "göttliche":
"Der historische, vollendete Mozart wurde zum Duplikat einer ‚Porzellan-Kinderfigur’ und das göttliche Kind überlebte seinen eigenen Tod. Ein kränkelndes Kind, mit großem Kopf und schmächtigem Körper, ein gewinnender Jüngling mit schelmischem Lächeln und unerschütterlicher Zuversicht, ein kleiner Magier, begabt mit den erstaunlichsten Fähigkeiten, glänzte in wunderbaren Vorstellungen vor gekrönten Häuptern und Honoriatoren Europas, während überall Vorhersagen seines frühen Untergangs zu hören waren."
Wer kannte Mozart, der sich so deutlich zu erkennen gab? Seine Salzburger vielleicht am wenigsten.
"Salzbourg ist kein ort für mich. ja ganz sicher!" –
Von den Missverständnissen zwischen Salzburg und seinem größten Sohn berichtet Eva Gesine Baur in "Mozarts Salzburg" (bei C.H. Beck) mit immerhin einigem Vergegenwärtigungsschwung. Nirgends erfährt man mehr über den Mozart-Familiensport des Bölzlschießens (auf Scheiben), und das Ganze dient noch als Salzburg-Reiseführer, inklusive Öffnungszeiten. Ein Kann. – Nützlich ist: "Mozarts Opern. Alles von ‚Apollo und Hyacinth’ bis zur ‚Zauberflöte’", die gesammelten und aktualisierten Mozart-Artikel aus "Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters". Zuverlässig und ein wenig dröge: Ulrich Konrads "Wolfgang Amadé Mozart. Leben Musik Werkbestand" (bei Bärenreiter), "hervorgegangen" aus Konrads Mozart-Artikel in der Neufassung der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart".
Bei soviel verstreutem Wissen ist ein "Mozart Lexikon" eine schöne Idee: eine Art Kursbuch in die Spezialdisziplinen der Mozartologie. Aber so weit ist der Kosmos Mozart, dass der Versuch, ihn alphabetisch zu verstichworten, kaum gelingen kann. Leider verspielt das von der Mozart-Koryphäe Gernot Gruber und dem Salzburger Musikhistoriker Joachim Brügge herausgegebene Neunhundertseiten-Werk die Chance, einmal jenseits der gängigen Systematik auch interessant Peripheres zu beleuchten. Das Artikelverzeichnis bringt wenig mehr als das Erwartbare: Werkgruppen, Biographien der Mozartfamilie, des Umkreises und bedeutender Mozartianer. Unter "KARAJAN, Herbert (Heribert, Ritter von)" lernen wir, am Ende einer üblichen Stationenbiographie wie sie so ähnlich in jedem anderen Lexikon stehen könnte:
"In seiner umfangreichen Diskographie sind die Werke Mozarts zahlreich vertreten, so die großen Sinfonien und andere Orchesterwerke sowie die Opern Così fan tutte, Le nozze die Figaro und Die Zauberflöte."
– Aha. Derlei macht einen nicht wirklich schlauer. Dafür vermisst man (nur zum Beispiel) einen Eintrag, der die schwankenden Informationen über Mozarts Physis einmal gesichert zusammenbrächte. "Das Mozart Lexikon" im Laaber Verlag ist der letzte Teil eines auf sechs Bände angelegten Mozart-Handbuchs, zu dessen Mitherausgebern auch der Germanist Dieter Borchmeyer zählt, der hier nicht als Autor erscheint. Hätte er doch den Artikel "Goethe" geschrieben, und am besten noch einen über "Empfindsamkeit" dazu. Denn der Goethe-Eintrag referiert ein wenig flach, und das Stichwort Empfindsamkeit fehlt ganz (und weil es kein Register gibt, ist es auch nicht zu finden). Das kann aber, wenn Borchmeyer in seiner Studie "Mozart oder Die Entdeckung der Liebe" (im Insel Verlag) recht hat, nur ein Irrtum sein. Denn hier wird aus dem gegen die höfische Galanterie gerichtete neue Liebescode "Empfindsamkeit" nun gleich der ganze Mozart der sogenannten "Meisteropern" erklärt. Borchmeyer stellt die Empfindsamkeitsthese vor einen fabelhaft gelehrten Horizont, vor dem seine Spezial- und Lieblingshelden Goethe und Wagner vielleicht allzu leuchtturmhaft in der geistesgeschichtlichen Landschaft stehen. Dennoch: Unter den vielen Mozartabschreibern hat Borchmeyer den Vorzug, ein Selbstdenker zu sein, und wenn er seine alleserklärenden Lieblingsmotive bisweilen überstrapaziert, bleibt er doch ein erfrischender Demystifikator und sein Buch ein selten bissfester Brocken im Meer des Mozartkugelbreis.
Wo sind die Grenzen unseres Mozart-Wissens?
"Es scheint an der Zeit zu sein, die Kontingenz des Kunstwerks anzuerkennen: das Unverfügbare, nicht Auszurechnende, nicht Logische"
steht in Martin Gecks mit leichter Hand verfasstem Mozart-Buch bei Rowohlt. Dieses Unverfügbare findet Geck bei Mozart, indem er ihn als Harlequin zeigt. Der hüpft nun aber, als Agent einer musikalischen Spieltheorie, viel weiter als der purzelbaumschlagende Klischee-Amadeus. Es hüpft bis an jenen Kraterrand, der, nach Anselm Kiefer, das Verstehen alles Schönen begrenzt. Wo einst Hildesheimer im Universum Mozart das Große Geheimnis als ein Art schwarzes Loch umzäunte, beugt sich, dreißig Jahre danach, Martin Geck neugierig über den Rand, und wir mir ihm. Sich mit Gecks kenntnisreicher, dabei aber"zärtlicher Wissenschaft" über Mozart immer weiter und neu zu wundern, zählt zu den Hauptfreuden dieses Jubeljahrs.
Bücherliste
Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Erweiterte Ausgabe ... hg. von Ulrich Konrad. Bärenreiter/dtv. Acht Bände, 4550 Seiten,
Wolfgang Hildesheimer: Mozart. Insel Verlag, 423 Seiten, 10,00
Piero Melagrani: Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie. Siedler Verlag, 350 Seiten, 22 EUR
Clemens Prokop: Mozart der Spieler. Die Geschichte eines schnellen Lebens. Bärenreiter, 150 Seiten,
Gernot Gruber: Wolfgang Amadeus Mozart. C.H. Beck-wissen. 144 Seiten, EUR 7,90.
Mozarts Opern. Alles von "Apollo und Hyacinth" bis zur "Zauberflöte". Hg. vom Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Piper Verlag. 317 Seiten
Das Mozart Lexikon. Hg. von Gernot Gruber und Joachim Brügge. Laaber Verlag. 933 Seiten,
Dieter Borchmeyer: Mozart oder Die Entdeckung der Liebe. Insel Verlag. 425 Seiten, 19,80.
Maynard Solomon: Mozart. Ein Leben. Bärenreiter/Metzler 618 Seiten,
Eva Gesine Baur: Mozarts Salzburg. C.H. Beck 174 Seiten, EUR 16,90.
Claudia Maria Knispel: Wolfgang Amadeus Mozart. Sein Leben, seine Zeit. Reclam Leipzig. 208 Seiten,
Martin Geck: Mozart. Eine Biographie. Rowohlt. 480 Seiten, 24,90.