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Erasmus von Rotterdam
Ein "Lob der Torheit" für die Erneuerung des Glaubens

Mit seiner Schrift "Lob der Torheit" eckte der Humanist Erasmus von Rotterdam bei vielen seiner Zeitgenossen an, die Kirche setzte sie später sogar auf den Index. Zu offen wandte er sich gegen die weltlichen Auswüchse von Religion und Kirche. Den reformatorischen Geist der Schrift erkannte auch Martin Luther nicht.

Von Astrid Nettling | 01.05.2015
    "Als ich vor einiger Zeit von Italien wieder nach England zog, wollte ich die langen Stunden, die im Sattel zu verbringen waren, nicht alle mit banaler Unterhaltung totgeschlagen haben. Da kam es mir in den Sinn, eine Lobrede auf die Moria, wie die Griechen sagen, auf die Torheit zu verfertigen. Vor allem verdanke ich die Idee deinem Namen, mein lieber Thomas Morus, der dem Namen der Moria gerade so ähnlich ist, wie du selbst ihrem Wesen unähnlich bist."
    Im Sommer des Jahres 1509 überquert der knapp vierzigjährige Erasmus von Rotterdam die Alpenpässe gen Norden. Hinter ihm liegt ein dreijähriger Italienaufenthalt - liegen die Promotion zum Doktor der Theologie, die Vertiefung seiner Kenntnisse der alten Sprachen, vor allem des Griechischen, sowie die erweiterte Neuauflage der "Adagia", seiner Sammlung und Kommentierung antiker Sprichwörter, Redewendungen und Redensarten. Hinter ihm liegt ebenso die Erfahrung, mit welch unbeschreiblicher Prunksucht, Selbstherrlichkeit und weltlichem Machtwahn dort die Kirche regiert und die Frömmigkeit pervertiert wird - Auswüchse, die er "magno cum gemitu", mit großem Seufzen, zur Kenntnis nimmt.
    Erasmus ist auf dem Weg nach England, zurück zu seinen humanistischen Freunden, die er vor seinem Italienaufenthalt besucht hatte. Dazu gehört auch der Staatsphilosoph und spätere Lordkanzler Heinrichs VIII. Thomas Morus, mit dem ihn eine besonders enge Freundschaft verbindet. Ihm, seinem "lieben Morus", widmet er sein Meisterwerk: das "Encomion moriae", wie es auf Griechisch heißt, das "Laus stultitiae", so der lateinische Titel, "Das Lob der Torheit" zu deutsch.
    Die Wahrheit lachend vortragen
    "Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen - denn ich weiß, wie übel auch die ärgsten Toren über die Torheit herziehen -, es ändert nichts daran, dass Götter und Menschen es mir, ja, mir allein und meiner Kraft verdanken, wenn sie heiter und fröhlich sind."
    Mit diesen Worten tritt Frau Torheit vor ihr Publikum - angetan mit dem Talar der Gelehrten, auf dem Kopf die Schellenkappe des Narren.
    "Warum ich heute in dieser ungewöhnlichen Tracht auftrete, sollt ihr sofort vernehmen, falls ihr geruht, mir euer Ohr zu leihen - aber bitte nicht das, womit ihr euch einen frommen Prediger anhört, sondern das andere, das ihr so munter spitzt, sobald ein Marktschreier, ein Hanswurst oder ein Narr seine Witze reißt. Es kam mich nämlich die Lust an, vor euch für ein Stündchen den Sophisten zu spielen. Und da diese nichts lieber taten, als Lobreden zu halten, so werdet auch ihr eine Lobrede hören; nur gilt sie nicht Herkules und nicht Solon, sondern mir selbst, der Torheit."
    Erasmus ahnt, dass dieses Lob der Torheit nicht nur auf offene Ohren stoßen, sondern Unmut hervorrufen wird. Gerade bei denen, die sich selbst für weise und über alle Torheit erhaben dünken. Und Anstoß erregen wird bei denen, die humorlose Verkniffenheit mit geistigem Tiefgang verwechseln. Was aber spricht dagegen, hatte schon der römische Dichter Horaz gefragt, "die Wahrheit lachend vorzutragen"?
    "Allein, wer das Thema zu wenig ernst, zu spielerisch findet, möge beachten, dass ich nicht der erste bin, der solche Wege geht. Vor vielen Menschenaltern sang so Homer vom Froschmäusekrieg, schrieb Vergil vom Kräuterkloß, die Kahlköpfigkeit pries Synesius, die Fliege und den Parasiten Lukian."
    Vor allem den Letzteren, den altgriechischen Satiriker Lukian von Samosata, liebt Erasmus besonders, dessen spöttischen Geist er in seinem Lob der Torheit wiederaufleben lässt. Aber auch die Figur des mittelalterlichen Narren hat bei Frau Torheit Pate gestanden.
    "Sich nicht täuschen zu lassen, das ist das Allerschlimmste"
    Zwar sind auch bei Erasmus "alle Straßen und Gassen voller Narren, doch führt anders als bei diesem kein Weg der Vernunft aus dieser allgemeinen Narretei hinaus. Kein "wyß man", kein "weiser Mann", weist den Weg aus Täuschung und Schein, welche die Welt und das verblendete Treiben der Menschen beherrschen. Wozu auch, fragt Frau Torheit: "Mundus vult decipi", lautet ein lateinisches Sprichwort, "die Welt will getäuscht sein", also, lasse man den Menschen ihre Täuschungen, solange sie damit froh und glücklich werden.
    "Allein mir ist, ich höre die Philosophen widersprechen. 'Unsinn!' rufen sie. 'Gerade das heißt doch unglücklich sein: im Banne der Torheit stehen, sich irren, sich täuschen, nichts wissen.' 'Gefehlt!' sag ich. 'Das heißt Mensch sein!'"
    Unüberhörbar ist der neue Ton, den die Torheit anschlägt. So gilt ihre Rede nicht mehr dem durch Erbsündenlast verworfenen Menschen, der vor Gott sein eitles, sündhaft schändliches Spiel treibt und dem der mittelalterliche Narr seinen moralischen Spiegel vorhält, sondern dem "homo humanus" und seiner menschlich, allzu menschlichen Natur, die ganz im Sinne des Humanismus und seiner Konzilianz gegenüber allem Menschlichen angenommen wird.
    Zwar stellt auch Erasmus die Torheit des Menschen bloß, doch was diesen töricht und lächerlich macht - Täuschung, Illusion und Selbstbetrug -, hilft ihm zugleich, die Kalamitäten des Lebens zu ertragen. Sich täuschen zu lassen, sagt man, sei schlimm. "Nein", hält Frau Torheit dagegen, "sich nicht täuschen zu lassen, das ist das Allerschlimmste". Man muss den Menschen ihre törichten Maskeraden nicht nehmen, gehören sie doch zur 'menschlichen Komödie' unbedingt dazu.
    Denn törichter als diese allzu menschliche Torheit ist für Erasmus derjenige, der sich über alle Torheit erhaben dünkt. Ist die Torheit derjenigen, die im Geruche der Weisheit stehen und nach dieser sogenannten Krone der Menschheit langen. Ihnen vor allem, so Frau Torheit, muss man ihre Masken abreißen, all den dünkelhaften Gelehrten, die ihre scheinbare Weisheit von den Lehrstühlen der Universitäten herab verkünden.
    Demaskierung der Kathedergrößen
    "Gescheiter freilich wäre es, um diese stinkende Hoffart einen Bogen zu machen, denn die Leute sind hochnäsig und empfindlich und schreien gleich: 'Ketzerei!' Da reden sie von Formalitäten, Quidditäten, Ecceitäten, also von Dingen, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommt. Noch spitzer spitzen diese Spitzfindigkeiten die Schulen der Scholastiker, zahllos wie Sand am Meer – man fände sich rascher im Labyrinth zurecht als in dem Knäuel von Realisten, Nominalisten, Thomisten, Albertisten, Occamisten, Scotisten. Ihre Systeme strotzen vor Gelehrsamkeit und sind gespickt mit Diffikultäten."
    So gilt ihre Demaskierung neben den Kathedergrößen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Wilhelm vom Ockham und ihren Schülern sowie sämtlichen gesellschaftlichen Autoritäten: dem anmaßenden Adel, den überheblichen Fürsten und dem selbstherrlichen Machtwahn von Kirchenfürsten und Papst. Denn deutlich ist Erasmus noch jener Karfreitags-Gottesdienst in Rom in Erinnerung, dem beizuwohnen, er ausdrücklich gebeten worden war.
    "Papst Julius war zwar in Rom, musste sich aber zufällig aus gesundheitlichen Gründen der Feier fernhalten. Es war ein gewaltiger Aufzug von Kardinälen und Bischöfen, von vielen Gelehrten. Die Predigt war vollgepackt mit Lobhudeleien auf Julius, der als Jupiter Optimus Maximus gepriesen wurde, in seiner Rechten den Dreizack schwingend sowie den unvermeidbaren Blitz. Aber was hat dies alles zu tun mit dem Julius, der das Haupt der christlichen Religion ist, der Stellvertreter Christi, der Nachfolger von Peter und Paul. Was könnte abgeschmackter und banaler sein."
    Eine solche Veräußerlichung der Frömmigkeit, solch antikisch aufgeputzter Pomp, der, wie er sich in einem Brief empört, "höchste Torheit mit ebenso viel Unverschämtheit" verbindet, stößt Erasmus ab. Das ist es gerade nicht, was er sich als Humanist von einer geistigen Erneuerung erhofft, einer Erneuerung, die ebenso die christliche Glaubenspraxis betreffen sollte.
    "Handbüchlein des christlichen Streiters"
    Bereits etliche Jahre zuvor hatte Erasmus eine kleine Streitschrift verfasst, das "Enchiridion militis Christiani" - geschrieben für einen Waffenmeister am burgundischen Hof.
    "Ich habe dir ein Enchiridion, das ist ein kleines Handschwert, verfertigt, das du niemals aus der Hand geben sollst. Es ist ein sehr kleines Schwert, mit dem du aber doch, wenn du es geschickt mit dem Schild des Glaubens verwendest, den Angriff der Feinde abwehren kannst."
    Mit diesen Worten beginnt sein "Enchiridion militis Christiani", sein "Handbüchlein des christlichen Streiters". "Handbüchlein" bedeutet es im übertragenen Sinne, wörtlich genommen ist es der "Dolch", mit dem Erasmus bereits in dieser frühen Streitschrift seine Stöße wider die offizielle Theologie sowie die weltlichen Auswüchse von Religion und Kirche ausführt. Darin rät er, statt dessen den Weg der Verinnerlichung zu beschreiten, den Weg lebendiger, sinnerfüllter Religiosität, die sich nicht an Zeremonie, Ritus oder Vorschrift orientiert, sondern an der ursprünglichen Gestalt und Lehre Jesu Christi.
    "Hüte dich davor, dass du nicht die Augen deines Herzens abkehrst von deinem Vorbild Christus. Nur dazu mahne ich dich: Sieh das Wesen der Frömmigkeit nicht in Speise noch Kult noch in irgendetwas Sichtbarem, sondern in dem, was wir überliefert haben. Wo du aber das wahre Bild Christi findest, da schließe dich an."
    Während sein "Enchiridion militis Christiani" mit spitzem Dolch dafür streitet, da führt sein "Lob der Torheit" die scharfe Spitze des Spotts ins Feld. Und beide streiten für dieselbe Sache. Zu diesem Zweck schlüpft Frau Torheit sogar in das Gewand des Theologen.
    Das Werk auf den Index gesetzt
    "So wollen wir denn, falls es beliebt, auch durch Worte Heiliger Schrift unsern Anspruch auf Lob und Ehre rechtfertigen. Spricht doch Christus allen hörbar in den heiligen Psalmen zu seinem Vater: 'Du weißt meine Torheit.' Nicht von ungefähr gefallen dem Herrn die Toren so ausnehmend gut. Genau so will Christus von diesen Weisen, die auf ihre Klugheit pochen, nichts wissen, und verdammt sie. Das bezeugt Paulus, wenn er sagt: 'Gott hat beschlossen, durch die Torheit die Welt zu retten', da sie durch die Weisheit nicht konnte erlöst werden. Dieselbe Autorität verordnet klar und deutlich Torheit als unentbehrliche und unfehlbar wirkende Arznei mit den Worten: 'Wer unter euch weise scheint, soll töricht werden, damit er weise sei.'"
    Zwischen der allzu menschlichen Torheit von jedermann und der törichten Weisheit der Gelehrten bildet diese christliche Torheit den wahren Weg zu einem sinn- und glückerfüllten Leben im Sinne einer "Philosophia christiana". Es ist zugleich der Weg zwischen geistiger Unbedarftheit und eingebildetem Wissen, die beide auf ihre Weise töricht und beschränkt sind. Denn beiden fehlt das "Ich weiß, dass ich nicht weiß", fehlt die tiefe Sokratische Einsicht in die Fragwürdigkeit allen menschlichen Treibens und Wissens, worin sich für den Humanisten und Christen Erasmus die weise Torheit selbst eines heidnischen Philosophen bekundet.
    Torheit aber bleibt sie dennoch. Denn beseitigen – wie andere Denker – will Erasmus die Torheit nicht. Hat sie doch so oder so lebendigen Anteil an der Natur des Menschen. Angegriffen wurde sein "Lob der Torheit" trotzdem. "Da Erasmus seine Moria schrieb, hat er eine Tochter gezeugt, die seiner wert ist", vermerkt Martin Luther verkniffen und unempfänglich für den Humor wie für den zutiefst reformerischen Geist dieser Schrift. Die Bewahrer der alten Kirche setzten das Werk sogar 1545, fast zehn Jahre nach Erasmus' Tod, auf den Index - wie die meisten seiner Bücher. Geschadet hat es der Torheit und ihrer Beliebtheit allerdings nicht.
    "Bin ich euch etwa zu keck oder zu geschwätzig gewesen, so sagt euch eben, ich sei ein Weib; nur denkt mir auch an den griechischen Vers: 'Oft schon warf auch ein törichter Mann ein treffendes Wort hin' - oder meint ihr, er gelte für Frauenzimmer nicht?"