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Erbe unterm Hammer

Als Fernando Pessoa im November 1935 starb, hinterließ er Tausende von unveröffentlichten Manuskriptseiten und Notizen in einer Holztruhe, die für viele Literaturfreunde ein fast mythischer Schatz war. Bisher war man immer von einer Truhe ausgegangen. Doch die Familie bot jetzt mehrere Hundert Pessoa-Fragmente auf zwei Auktionen privaten Händlern zum Kauf an.

Von Thilo Wagner | 21.02.2009
    Als Fernando Pessoa im November 1935 starb, hinterließ er Tausende von unveröffentlichten Manuskriptseiten und Notizen in einer Holztruhe, die für viele Literaturfreunde ein fast mythischer Schatz war, aus dem Jahr für Jahr ein neues Meisterwerk gefischt wurde. Bisher war man immer von einer Truhe ausgegangen. Doch die Familie bot jetzt mehrere Hundert Pessoa-Fragmente auf zwei Auktionen privaten Händlern zum Kauf an. Steffen Dix von der Universität Lissabon, der in Kürze mit Forschungsarbeiten zu einer kritischen Gesamtausgabe beginnen wird, erklärt den Ursprung der jetzigen Kontroverse:

    "Aus diesem Grund müsste man eigentlich momentan von "arcas" – also von zwei Truhen sprechen, also im Plural, weil die eine sogenannte Truhe wurde wie gesagt Ende der siebziger Jahre an die Nationalbibliothek, also an den Staat, verkauft, und jetzt auf einmal kommt noch mal eine "arca" in der Familie. Und es sind einige Sachen, soviel ich weiß, von hohem literarischen Wert, zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Fernando Pessoa und Aleister Crowley und einige Fragmente von einem Kriminalroman."
    Von der Bedeutung dieser Dokumente meint die Familie nichts gewusst zu haben, weshalb das Manuskript des Kriminalromans, Werke aus Pessoas Privatbibliothek und Listen von geplanten Projekten ungeordnet in verschiedenen Häusern der Familie aufbewahrt wurden. Manuela Nogueira, die 83-jährige Nichte des Dichters, will den Verkauf des Rest-Nachlasses noch vor ihrem Ableben regeln.

    "Niemand aus meiner Familie interessiert sich für Literatur. Wir haben Mathematiker und Geschäftsmänner usw. Aber für Literatur interessiere nur ich mich. Mein Leben geht zu Ende. Und ich will den ganzen Rest nicht so ungeordnet hinterlassen. Deshalb habe ich habe mich mit meinem Bruder darauf geeinigt, eine Auktion durchzuführen, damit wir wissen, wie viel die Dinge wert sind. Denn das wussten wir nicht."

    Die Familie erhielt bei den Auktionen für ein paar Hundert Gegenstände 300.000 Euro – ungefähr genau so viel, wie sie vor 30 Jahren für den Verkauf der 27.000 Fragmente bekam, inklusive fast aller Originalmanuskripte. Der Wert des Pessoa-Nachlasses ist demnach in den vergangenen Jahren explosionsartig gestiegen. Die Familie hat daraus jetzt Kapital geschlagen, aber weist den Vorwurf zurück, das Werk des Dichters zerstreuen zu wollen:

    "Ich finde es sehr wichtig, dass das literarische Werk von Pessoa in Portugal zusammengehalten wird. Wenn mein Onkel aber zehn Listen von möglichen Anthologien aufstellte, die sich nur dadurch unterscheiden, dass auf einer ein Name ausgetauscht wurde, glaube ich nicht, dass das für das literarische Werk wichtig ist."

    Steffen Dix und andere Literaturwissenschaftler sehen das anders. Da viele bisherige Publikationen unter fachlichen Mängeln leiden, ist für die Herausgeber der kritischen Gesamtausgabe eine genaue Untersuchung des gesamten Nachlasses unabdingbar.

    "Also meiner Ansicht nach sollte der gesamte Nachlass, alles, also das bedeutet die gesamte Bibliothek und alle Fragmente, die im Nachlass gefunden wurden, das sollte alles in der Nationalbibliothek von Portugal aufbewahrt werden – oder an einem Ort, wo Wissenschaftler Zugang haben können und das frei nachschauen können."
    Wegen der Vorwürfe der Forscher, die Familie habe einen Teil der jetzt verkauften Fragmente nicht vorher digitalisieren lassen und zudem einen beschriebenen Buchumschlag versetzen wollen, der vor ein paar Jahren an die Stadt verkauft, aber nicht übergeben wurde, ist das Verhältnis zwischen Wissenschaftlern und den Erben gebrochen.
    Der Staat hat von seinem Vorverkaufsrecht Gebrauch gemacht und Nachlassstücke wie den unfertigen Kriminalroman erstanden. Pessoas Familie und das Kulturministerium wollen in Kürze Verhandlungen über den Verkauf des restlichen Nachlasses führen. Damit könnten weitere umstrittene Auktionen verhindert und der freie Zugang zu großen Teilen des literarischen Gesamtwerkes gesichert werden.

    Ein Gegenstand fiel dem Streit um das Erbe von Fernando Pessoa jedoch zum Opfer: Die sagenumwobene Truhe ging, natürlich ohne Inhalt, für 50.000 Euro an einen privaten Sammler.