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Erbkultur

Der Prozess des Übertragens und Weiterreichens setzt immer dann ein, wenn die Schwelle zwischen Leben und Tod überschritten wird - dann, wenn geerbt wird. Die Dramatik dieses Moments hat die Dichtung früh erkannt, und so spiegelt auch kaum eine andere Quelle die Bedeutung der Übertragungskultur so reichhaltig wie die Literatur.

Von Bettina Mittelstraß |
    Solange Haßlau eine Residenz ist, wusste man sich nicht zu erinnern, dass man darin auf etwas mit solcher Neugier gewartet hätte - die Geburt des Erbprinzen ausgenommen - als auf die Eröffnung des Van der Kabelschen Testaments.

    "Ich kam irgendwann drauf, dass dieses Testament, so klein das erscheinen mag als einige Blätter Papier, dass das doch von sehr zentraler Bedeutung ist, wenn man sich fragt, wie entsteht eigentlich Tradition? Was wird weitergegeben? Wie entstehen Genealogien? Welche Konflikte werden übertragen? "

    Die Romanistin Dr. Ulrike Vedder vom Zentrum für Literaturforschung in Berlin.

    "Die ganze Literatur des 19. Jahrhunderts kann man im Grunde genommen als einen Schauplatz von Erbkonflikten betrachten, ... "
    …sagt Professor Sigrid Weigel, die Leiterin des Projekts und Direktorin des Berliner Zentrums für Literaturforschung.

    Der Quellenfundus für das 19. Jahrhundert, auf Literaturwissenschaftler zurück greifen können, ist überwältigend. Oft ist der Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte um Erbkonflikte das Moment der Testamentseröffnung. Das Testament stellt die Weichen für die Dinge, die von den Toten auf die Lebenden übertragen werden – materielle Werte bis hin zu geistigen Vermächtnissen. Ulrike Vedder:

    "Das Interessante am Testament im 19. Jahrhundert, wenn man sich das dort ansieht, ist ja, dass es eigentlich überflüssig ist. Es gibt ein Erbrecht, das legt die Erbfolge fest, man muss kein Testament machen. Dass trotzdem Testamente gemacht werden, und in der Literatur das gern eingesetzt wird, ... das ist ja immer schon ein Zeichen dafür, dass es da um etwas geht. Es geht darum, den eigenen Willen klar zu machen, es geht darum, bestimmte Erben auszuschließen, es geht darum, bestimmte Konflikte auszuhandeln, es geht darum, mehr als nur Eigentum zu übertragen, nämlich Auflagen, Schuldgefühle, Leidenschaften, Machtfragen, Verwerfungen, alles mögliche. "

    Sieben noch lebende weitläuftige Anverwandten von sieben verstorbenen weitläuftigen Anverwandten Kabels machten sich zwar einige Hoffnung auf Plätze im Vermächtnis, weil der Krösus ihnen geschworen, ihrer da zu gedenken; aber die Hoffnungen blieben zu matt, weil man ihm nicht sonderlich trauen wollte.

    "Da gibt es wunderbare Szenen bei Jean Paul in seinem Roman "Die Flegeljahre", wo diese Testamentseröffnung sich so lange hinzieht, weil die erste Auflage in diesem Testament ist – es geht um ein Haus, was da vererbt worden ist – : derjenige, der innerhalb von drei Minuten am ehesten Tränen vergießt, der Anwesenden, der soll das Haus bekommen. Und dann wird wunderbar geschildert, wie diese Anwesenden nun versuchen, sich irgendwie diese Tränen in sich aufsteigen zu lassen, auf verschieden Art und Weisen, um an dieses Haus heran zu kommen. "

    Der listige Buchhändler Paßvogel machte sich sogleich still an die Sache selber und durchging flüchtig alles Rührende, was er teils im Verlage hatte, teils in Kommission; und hoffte etwas zu brauen; noch sah er dabei aus wie ein Hund, der das Brechmittel, das ihm der Pariser Hundarzt Hemet auf die Nase gestrichen, langsam ableckt.
    Der reiche Erblasser, mit dessen Vermächtnis Jean Paul den Roman einleitet, war ein Ekel und ein Quälgeist, der noch über seinen Tod hinaus seine Macht über die Gefühle und das Innenleben seiner Mitmenschen ausspielt. In den Romanen des 19. Jahrhunderts findet sich das Motiv vom mächtigen Toten und dessen Zugriff auf seine noch lebende Verwandtschaft auffällig oft. Die Auseinandersetzung mit dem Nachlass der toten Väter ist ein Reflex auf Umbrüche in der Gesellschaft.

    "Die Verabschiedung des Vaters ist ganz deutlich im 19. Jahrhundert. Also seit der französischen Revolution sozusagen die Ablösung der Vaterfiguren durch die aufstrebenden Jungen, die jungen Söhne vor allen Dingen. Gleichzeitig hat aber die Vaterfigur eine unheimliche Macht im 19. Jahrhundert. Also es gibt wirklich ein Ringen darum, sozusagen den Vater abzulösen auf rechtlichem Gebiet, auf ökonomischem Gebiet, innerhalb der Familie. Und nichts desto trotz bleibt der Vater immer in dieser Übervaterposition. "

    "Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer echten Krise der Männlichkeit, also wenn sie an die Dramen des Naturalismus denken, die Generationsdramen, wo die Väter Alkoholiker sind, immer auf dem Sterbebett liegen, Syphiliskrank sind, ihren Söhnen alles Schlechte nur vererben, wobei die Söhne dann auch echte Schwachstellen in diesen Familien sind, wenn man an Ibsens Gespenster denkt. Also diese Väter, die in der Krise sind und auf ihrer Macht beharren, das ist glaube ich eine ganz zentrale Figur im 19. Jahrhundert. Und an denen macht sich fest diese Frage des Erbes. Was kann weitergegeben werden, was wird verworfen?"
    Die Ablehnung der Schattenmacht der Vätergeneration wird nicht nur in Romanen zitiert, betont Ulrike Vedder. Literatur ist in dem Fall mehr als der Spiegel dieser historischen Entwicklung:

    "Diese Krise der Männlichkeit zum Beispiel, von der ich eben sprach, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die wird über die naturalistischen Dramen auf die Bühnen gebracht, dort sehen das die Leute, es wird heiß diskutiert. Also ich denke, es ist vielleicht sogar noch etwas, was die Literatur auch mit vorantreiben kann. "
    Während auf der einen Seite mit den Alten abgerechnet wird, entstehen andererseits um 1800 die großen Nationalmuseen, in denen das Alte bewahrt und alles Neue auf seine Geschichte bezogen wird.
    "Das ist eine Paradoxie, die das 19. Jahrhundert durchzieht und die, denke ich – deshalb ist auch diese Frage des Erbes so zentral, die genau daran sich zeigt: Also es wird weitergegeben, aber es ist immer mit Konflikten, mit schweren Konflikten beladen. "

    "Alles was uns heute an Generationsproblemen wichtig ist bis hin auch zu Spekulationen auch zum Beispiel über die Vermittlung von Traumata durch die Generationen, ja, dass es Familiengeheimnisse gibt, die sich weiter fortzeugen und dergleichen – das gibt es natürlich erst unter den Bedingungen einer sehr intim zusammen lebenden Kleinfamilie mit allen Zugewinnen an Vertrautheit, die dadurch entstehen, aber eben auch mit allen Problemen, Konflikten, die sich so erst ergeben … "
    …ergänzt der Philologe Dr. Stefan Willer. Die bürgerliche Kleinfamilie etablierte sich erst in der Folge sozialer Umbrüche, die mit dem Ende des absolutistischen Herrschaftssystems einhergehen.

    "Wir gehen in der Projektarbeit von der These aus, die sich aber in unseren weiteren Forschungen immer wieder bestätigt, dass im späten 18. Jahrhundert in ganz verschiedenen Feldern Umbrüche geschehen, die mit Fragen von Vererbung und Generationenverhältnissen zu tun haben. Eine Sache, die sehr wichtig ist, ist das Entstehen neuer physiologischer, biologischer Vererbungstheorien. Also tatsächlich das Formulieren eines Zusammenhangs von Generations- und Zeugungstheorien und Vererbung, den es so vorher nicht gegeben hat. Ein zweiter, wichtiger Aspekt ist das Ende gewisser dynastischer Vorstellungen der Vererbung und Weitergabe von Macht und Herrschaft, das also mit der französischen Revolution zusammenhängt, das Ende des Ancien Regime, das sehr stark auf Vererbung ausgerichtet war und in dieser Zeit ganz vehement natürlich in Zweifel gezogen wird. "
    Wo die Rede ist von Umbrüchen und Veränderungen, da stellt sich rasch die Frage: was war denn vorher? Wie entstand vor 1800 Tradition? Wie wurde Kultur in der so genannten Vormoderne weitergegeben? Wie wurden Güter vererbt, bevor der Code Napoleon, das bürgerliche Gesetzbuch die Erbangelegenheiten regelte? Die Wissenschaftler am Berliner Zentrum für Literaturforschung arbeiten deshalb Disziplinen übergreifend mit Historikern der Universität Bielefeld zusammen wie dem Mittelalterhistoriker Professor Bernhard Jussen:
    "Wir müssen mit dieser Frage, wie war es in der Vormoderne, irgendwie umgehen, und wir müssen damit umgehen, dass es sich eingebürgert hat, dass man um 1800 einen Fundamentalwandel annimmt, mit dem man den Beginn der Moderne ansetzt. Und unser Forschungsziel ist einerseits zu verifizieren oder falsifizieren, ob an dieser Leitvorstellung "um 1800 ändert sich alles" überhaupt was dran ist, oder ob man das nicht zumindest entzerren muss, oder ob das nicht daran liegt, dass moderne Historiker grundsätzlich stereotype Vorstellungen von Vormoderne haben. "

    Als Vormoderne gilt etwa die Zeit von 600 bis 1800, also rund 1200 Jahre. Für diese lange Zeitspanne lässt sich wenig Allgemeingültiges über "eine" Erbpraxis sagen. Was man sicher sagen kann, ist, dass ein Erblasser nicht völlig willkürlich bestimmen konnte, was mit seinen Gütern nach seinem Tod geschehen sollte. Niemand konnte handeln wie im Märchen: der schlaue kleine Stiefsohn erbt alles und wird König und die eigenen Kinder gehen leer aus und betteln fortan durch die Lande. Die Neuzeithistorikerin Karin Gottschalk von der Bielefelder Universität:

    "Es ist nicht so, dass in der Vormoderne die ganz große Testierfreiheit geherrscht hat. Man kann überhaupt nur testieren, wenn man keine Kinder hat, denn die Rechte der Kinder sind immer sehr stark gesichert, und auch die Rechte der Ehegatten. Das ist zum Beispiel mal ein Kontinuum, was sich vom Mittelalter in die Moderne zieht: die Sicherung von Kindern und Ehegatten. "
    Wer vererbte, bedachte also auch früher schon den engeren Familienzusammenhang – auch wenn das Erbrecht der Anverwandten zwar nicht durch ein Gesetz geregelt war, so gab es doch unterschiedlichste Gewohnheitsrechte. Wenn es keinen nahen Kreis an Erbberechtigten gab, zum Beispiel durch Kindstod oder Unfruchtbarkeit, dann, so Bernhard Jussen, griffen zunächst eine Reihe von Korrekturtechniken, die für Erbfolge sorgen sollten: Adoption zum Beispiel oder Polygamie – Mehrehe - die für mehr Kinder sorgen sollte, sowie Scheidungen und Wiederheirat.

    Jussen: "Die interessante Frage "Erbe und Verwandtschaft im Mittelalter" ist im Grunde vor etwa 20 Jahren gestellt worden, in einem Buch von Jack Goody, das heißt "Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa". Und was sich eigentlich als Konsens herausgebildet hat, ist, dass die Kirchen-Politiker, wenn sie so wollen, in der Formierungsphase der frühmittelalterlichen Gesellschaften, also 5., 6. Jahrhundert, erfolgreich in die Erbschaftsstrategien eingegriffen haben, indem sie im Grunde die Korrekturtechniken des biologischen Zufalls, die Verwandtschaften normalerweise ausbilden, systematisch unterbunden haben. "
    Die Zahl der erblosen Erblasser war dadurch größer, was der Kirche zu Gute kam. Denn ohne leibliche Erben durfte das ganze Vermögen testamentarisch der Kirche überschrieben werden. Das Verbot der Vielehe oder Scheidung lag also in mehrfacher Hinsicht im Interesse der Kirche.

    Jussen: "Ob strategisch oder nicht, darüber kann man lange streiten, aber faktisch sind die Korrekturtechniken des biologischen Zufalls im Frühmittelalter alle verschwunden. Und dies hatte natürlich starke Auswirkungen auf die Erbgänge. "
    Auch das Inzestverbot der Kirche hatte Auswirkungen auf die Familienbildung. Verboten wurde vor allem die viel praktizierte Ehe zwischen direkten Vettern und Kusinen und das konzentrierte die Familie auf einen überschaubaren, innersten Kreis.

    Jussen: "Die frühchristlichen Inzestregeln haben offenbar, so ist im Moment die Forschungsdiskussion, gezielt diese Fern-Ehen verhindert. Also die Inzestverbote zielen gar nicht so sehr darauf, dass man nicht seinen Bruder heiraten darf. Offenbar, weil das sowieso keiner getan hat. Sondern sie zielen darauf, dass man nicht gewissermaßen diese Allianzen mit einem anderen Clan durch immer neue Heiraten stabilisieren kann. Was dadurch passiert ist, dass eben langfristige Clanstrukturen und Allianzstrukturen aufgebrochen werden. "

    Auf alle Fälle hab ich mein Testament gemacht;
    Es wiegt nicht viel, was von mir übrig bleibt,
    jedoch genug, dass ein Scribent sich daran reibt
    und hinterher noch eine Schmähschrift schreibt.

    Francois Villons Kommentar zu Erbe und Vermächtnis aus dem 15. Jahrhundert – hier in einer Nachdichtung von Paul Zech.

    Es gibt jenseits aller historischer Veränderungen eine große literarische Tradition, wie Testamente verfasst wurden. Seit der Antike arbeiten literarische Testamente mit denselben Formeln wie ihre sachlich gehaltenen Vorbilder. Rhetorische Strategien werden wiederholt, aber ganz andere Inhalte transportiert. Ulrike Vedder:

    "Es gibt die große Tradition der satirischen Testamente in der Literatur. In der lateinischen Literatur gab es dieses testamentum pur caeli, also ein Tiertestament, in dem sozusagen eine Abrechnung mit den Überlebenden stattfindet. Im Altenglischen, Mittelenglischen, diese mog testaments, also satirische Testamente, was Francois Villon aufgenommen hat, also eine Abrechnung mit Priestern, mit Verwandten, mit Machthabern und so weiter. "

    Item vermach ich meinem Leib-Barbier,
    was er vom Haar mir einst herunterschnitt.
    Er drehe daraus Stricke, dreie oder vier
    Für die Verwandtschaft, manches hohe Tier
    Gehört dazu. Und was von all dem andern Kram
    Noch übrig bleibt, die Stiefel ohne Sohlen
    Und Hosen ohne Boden, soll der Händler Abraham,
    der mir die Sachen lieh, sich aus dem Hafthaus holen.