Freitag, 29. März 2024

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Erdbebengefahr in Istanbul
Spannung zwischen den Erdplatten steigt

Der Großraum Istanbul ist erdbebengefährdet. Dass die Gefahr stetig zunimmt, zeigt jetzt eine neue Untersuchung. Zwischen den Erdplatten unter dem Meer habe sich eine große Spannung aufgebaut, sagte Projektleiterin Heidrun Knopp im Dlf. Daher seien Beben mit einer Stärke bis 7,4 denkbar.

Heidrun Knopp im Gespräch mit Ralf Krauter | 09.07.2019
Das Foto zeigt eine Landkarte des Marmarameeres mit Istanbul und die Umgebung im Nordwesten der Türkei
Die Erdplatten im Marmarameer seien extrem verhakt, was zu einer enormen Spannung führe, sagte Heidrun Knopp im Dlf (dpa-Bildfunk / Envisat / ESA)
Ralf Krauter: Der Großraum Istanbul ist eine der Metropolregionen dieser Welt, die Erdbebenforschern schlaflose Nächte bereitet. Weil dort im Untergrund zwei Kontinentalplatten zusammenstoßen, kommt es in der Gegend immer wieder zu heftigen Erdbeben. Forscher des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel schreiben im Fachmagazin "Nature Communications", das nächste große Beben könnte die Stärke 7 überschreiten.
Ich habe Projektleiterin Professor Heidrun Kopp vorhin gefragt, anhand welcher Daten sie und ihre Kollegen zu diesem Schluss gekommen sind.
Neues Messnetzwerk zwischen Eurasien und Anatolien
Heidrun Knopp: Wir konnten erstmalig Daten direkt vom Meeresboden nutzen. Der Großraum Istanbul und auch die Türkei insgesamt ist ja ein Hotspot für Seismologen, weil es immer wieder zu starken Erdbeben dort kommt. Bisher war man aber angewiesen rein auf Daten, die man an Land generiert hat, oder auf Satellitendaten.
Beides funktioniert natürlich unter Wasser nicht, Satellitendaten nicht, weil die elektromagnetischen Wellen, die dort genutzt werden, keine besonders große Eindringtiefe in der Wassersäule haben. Das heißt, wir mussten einen ganz neuen Ansatz hier entwickeln – und haben akustische Wellen genutzt, also Schallwellen, die sich hervorragend unter Wasser auch ausbreiten können, und haben ein neues Messnetzwerk entwickelt, dass wir in der Marmarameer installiert haben, über die Plattengrenze hinweg, zwischen Eurasien und Anatolien. Und wir konnten dort also erstmalig in vitro, richtig vor Ort, am Meeresboden die Deformation des Meeresbodens und die Bewegungen der Platten messen.
"Wir haben eine Auflösung im Subzentimeter-Bereich"
Krauter: Wie genau lässt sich mit dem Verfahren, das Sie da jetzt benutzt haben, also mit diesen autonomen Sonden direkt am Meeresgrund denn erfassen, wie sich der Boden da bewegt?
Knopp: Wir haben eine Auflösung im Subzentimeter-Bereich. Das heißt, sobald sich die Platten um einige Millimeter aneinander längs schieben, können wir das messen und sehen. Das passiert natürlich über sehr lange Zeiträume auch sehr langsam, wir sprechen hier über Plattentektonik, also über grundlegende geologisch-tektonische Abläufe, die eben sehr langsam vonstattengehen. Abgesehen davon, wenn es zu einem Erdbeben kommt, dann passieren diese Bewegungen sehr schnell, weil sich die aufgestaute tektonische Spannung dann eben innerhalb von Sekunden oder Minuten freisetzt, und es dort dann zu einem Sprung in dieser Plattenbewegung käme.
Krauter: Jetzt habe ich gelesen, dass im westlichen Teil des Marmarameeres die Eurasische und die Anatolische Erdplatte, um die es ja geht, mit einer Geschwindigkeit von so etwa einem Zentimeter pro Jahr aneinander vorbeischrammen. Wie viel von dieser gegenseitigen Bewegung haben Sie dort gemessen, wo Sie nachgeschaut haben?
Knopp: Das ist genau der spannende Punkt. An unserer Stelle konnten wir nachweisen, dass sich die Platten überhaupt nicht bewegen. Das heißt, wir haben ein sehr komplexes Muster an Plattenbewegungen in der Marmarasee, das setzt sich auch an Land fort, denn diese Plattengrenze verläuft ja zum größten Teil an Land, im Norden der türkischen Republik. Und wir sehen, dass es immer wieder zu einem Wechsel kommt von einem stetigen Gleiten, wie das in der westlichen Marmarasee, in der Nähe der Dardanellen, beobachtet wurde, bis hin zu einem kompletten Verhaken der Platten. Und das ist genau das, was wir an unserer Lokation südlich von Istanbul nun zeigen konnten, dass sich die Platten dort eben überhaupt nicht mehr gegeneinander bewegen. Und wenn ich sage überhaupt nicht mehr, dann bezieht sich das natürlich auf die Auflösung, auf die Messgenauigkeit der Instrumente – und die liegt bei etwa zwei Millimeter pro Jahr.
Platten vermutlich bis in fünf Kilometer Tiefe verhakt
Krauter: Aber das heißt, dort baut sich enorme Spannung auf.
Knopp: Dort baut sich enorme Spannung auf, und wir können jetzt durch diese direkten Messungen eben sagen, dass sich die Platten mindestens bis in eine Tiefe von drei Kilometern, wahrscheinlicher ist eine Tiefe von über fünf Kilometern, komplett ineinander verhakt haben. Das heißt, die Plattenbewegung an der Stelle ist dort nicht mehr möglich, die tektonische Spannung baut sich dort auf und wird sich langfristig in einem Erdbeben dann auch lösen.
Krauter: Kann man denn auf Basis Ihrer Messungen Prognosen wagen, wie stark oder heftig so ein Erdbeben dann ausfallen würde?
Knopp: Ja, wir haben das modelliert, und man kann zurückgehen und sich angucken, wann das letzte starke Erdbeben dort stattgefunden hat – und davon ausgehend können wir ganz klar sagen, dass wenn sich die komplette aufgestaute Spannung lösen würde in einem Erdbeben, dann hätte man einen Versatz der beiden Platten um etwa vier Meter. Und das entspricht einem Erdbeben mit einer Magnitude von etwa 7,1 bis 7,4 auf der Richterskala.
Neue Gefährdungsbewertung für Istanbul
Krauter: Das sind allerdings so Zahlenwerte, die durchaus vorher auch schon im Raum standen, bevor also Ihre Unterwassermessung sozusagen auf den Tisch kam. Worin besteht jetzt der Mehrwert Ihrer Studie? Kann man jetzt das Risiko dann doch besser einschätzen, was da drohen könnte?
Knopp: Bisher war es so, dass man eben auf Landdaten oder auf Satellitendaten zurückgreifen musste. Die sind naturgemäß sehr weit weg von der Lokation der eigentlichen Plattengrenze unter Wasser. Das heißt, man musste diese Daten extrapolieren und man hat dort immer angenommen, dass die beiden Platten sich mit einer Rate zwischen 1,5 und 2,5 Zentimetern pro Jahr bewegen. Wir konnten jetzt zeigen, dass das eben in diesem Bereich nicht der Fall ist, dass die Platten sich komplett verhakt haben – und diese neuen Erkenntnisse müssen jetzt mit einfließen in eine Gefährdungsbewertung für Istanbul und für die Region vor Ort.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.