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Ereignislandschaft

Was geschah zum Beispiel am 6. Juni 1994? Was ist, außer einigen besonders eindrücklichen Fernsehbildern an diesem Tag, da man des 6. Juni 1944 gedachte, im Gedächtnis geblieben? Aus der singulären Erinnerung ist die damalige Schlacht in der Normandie verbannt. Paul Virilio spricht in seinem neuen Buch "Ereignislandschaft" von einer Art des Vergessens, dessen Arbeitsinstrument der Bildschirm ist. Genauso wie die Alzheimer-Krankheit zerstöre das Fernsehen unsere früheren Eindrücke. Die "große Zeit der multimedialen Offensive" - auch eine Art Schlacht - hat begonnen! Und unter dem Datum vom 30. Januar 1992 notiert er: Der schon aus dem Blick geratene Golfkrieg verschwinde mit der Geschwindigkeit eines Meteoriten, der "beinahe die Erde gestreift hätte, in die unendliche Leere des kollektiven Bewußtseins ... kaum gesehen, und schon aus dem Blick verloren".

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Weder Tagebuch noch Essay, weder Forschung noch Studie. Und doch auch von allem etwas hat das neue Buch Paul Virilios an sich. Unter dem Titel "Ereignislandschaft" präsentiert der Philosoph, Architektur- und Stadttheoretiker Aufzeichnungen, die großenteils im Stil eines gelehrten Alleinunterhalters geschrieben und lose miteinander verknüpft sind. Wenn sie nicht ein zentraler Gedanke zusammenhielte - daß sich die Wirklichkeit immer mehr auflöst und nur noch in Inszenierungen und Simulationen existiert -, könnte man sie auch als Tages- oder Traumaufzeichnungen lesen. Assoziativ verbindet sich Dieses mit Jenem - oder bleibt unverbunden. Oft scheint nur ein umgekehrt chronologisches Prinzip maßgeblich gewesen zu sein; die Textfolge beginnt mit dem 15. Mai 1996 und endet mit dem 26. Dezember 1984. Wenn jedes der Kapitel an einem einzigen Tag geschrieben wurde, wie dies die tagebuchartige Form der Texte nahelegt, dann wäre dies in der Tat eine Meisterleistung, und man könnte sich keinen authentischeren Beleg für die These des Autors von einer maßlos beschleunigten (und letztlich zum Stillstand gekommenen) Kultur denken!

    Ein wahrhaft kosmopolitischer Denker ist hier am Werk! Er unterwirft sich keinen hausbackenen Regeln und Zwängen, jongliert statt dessen frei mit Reflexionen, Assoziationen und Phänomenbeschreibungen - "ich bin Phänomenologe und 'Gestaltist' ", hatte er einmal bekannt - , mißachtet die wissenschaftlich-literarischen Gattungsgrenzen und unterläuft die Erwartungen eines auf Stringenz und Kontinuität getrimmten Lesers.

    Er schreibt, wie andere sich noch nicht mal zu reden trauen. Und übersieht dabei keine Kultur (zumindest nicht innerhalb der westlichen Welt); und die historische Perspektive gerät niemals in Vergessenheit - bei all diesen Expeditionen und Schnelläufen durch die gegenwärtigen und zukünftigen Welten, und immer wieder durch die von Kriegen geprägten "Landschaften".

    Der Krieg sei seine Jugend gewesen und er werde, äußerte er einmal, "vom und im Krieg leben". Diese existentielle Bindung hat er in seinen Schriften zu einer geradezu manischen Deskription und Analyse erweitert: der totale Krieg, meint ViriIio, habe sich von einem extensiven zu einem intensiven Krieg gewandelt, er sei mikrophysikalisch geworden. Diese Reduktion auf die Größe eines Bildschirms, diese Miniaturisierung sei auch kennzeichnend für die Wissenschaften, die den Krieg zu einem atomaren ("elementaren") Krieg gemacht haben. Virilio zitiert einen Bauer, der auf die Frage, was er für das größte Unheil der modernen Zeit halte, antwortete: die Nachrichten, denn jetzt habe man beständig den Eindruck, als würde unmittelbar ein Krieg oder eine Katastrophe bevorstehen. Virilio stellt eine fatale Wechselwirkung zwischen dem Realitätsmangel im Privatleben und einer extrem großen echtzeitlichen Gegenwart der Fernsehnachrichten fest. Es bestehe die Gefahr, daß "die Telemanipulation unserer Meinungen und unseres Zeitplans sich zu einer elektronischen Folter, einem der Inquisition würdigen Verhör entwickelt."

    Digitaler Terror, Auflösung beziehungsweise Fragmentarisierung der Wirklichkeit und ein grundlegend verändertes Raum- und Zeitverhältnis bestimmen den Gang von ViriIios Gedanken. Der Besessenheit für diesen Blick auf die Welt werden auch die Werke der Literatur und Kunst erbarmungslos geopfert. Ob Degas oder Eluard - was sie gesagt und geschrieben haben, scheint nur in bezug auf ihre Verwertbarkeit für die vorgebrachte These zu gelten. Alles wird zum Material für einen scharfen, aber auch angestrengten Blick. Immer nimmt dieser das eine wahr: die Welt, die sich zunehmend der Verfügungsgewalt des Menschen entzieht. Von nicht zu überbietender Stringenz sind die Beweise, die Virilio dafür vorbringt. General Gallots, einer der Väter der französischen Atomstrategie, fordert, daß atomare Vergeltungsmaßnahmen nach einem "vollkommen automatisierten Schema" ablaufen müßten; sie hätten etwas "gleichsam Schicksalhaftes". Indem man jede menschliche Eingriffsmöglichkeit in die Schleife Ortung-Wahl-Kontrolle ausschließt, so Virilio, liefere man sich "dem Verhängnis eines kybernetischen Verfahrens aus."

    Virilios Diagnosefähigkeit ist extrem gut ausgebildet. Würde er auf der anderen Seite stehen - auf derjenigen der bewußtlosen Technologen und Fortschrittsgläubigen -, könnte man ihn maßlos ausbeuten für die Manifeste eines Geschwindigkeitsrausches und einer sich selbst als grenzenlos feiernden automatisierten, kybernetischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die ihre Ereignisse in ein "echtes technologisches Jenseits" verlagert, in eine jenseitige Zeit, über die nichts und niemand mehr Macht hat.

    Der Mensch überdimensioniert sich - und reibt sich doch an den verbliebenen Grenzen der Welt. Er kann am "Überschall-Golfturnier" teilnehmen und muß doch noch immer mit seinen alten Füßen ins Flugzeug einsteigen. Die Information hat längst zum "Staatsstreich" angesetzt - und doch sind da noch die alten vier Wände, wo irgendwo auf einem Nierentisch die alte Flimmerkiste steht. Die Macht der Kathodenstrahlröhre besteht in der absoluten Geschwindigkeit der Bilder- und Nachrichtenübertragung. "Während Schreiben und Lesen immer geistige Bilder erzeugen (...), schließt die digitalisierte Ausstrahlung von Nachrichten im Fernsehen jede Form der aktiven Speicherung aus und läßt nur eine emotionale Reaktion zu, deren einziges Kriterium die passive Gewalt ist."

    ViriIio möchte sich noch entschiedener von Großereignissen abwenden und die unbemerkt gebliebenen oder unterdrückten Begebenheiten am Rande registrieren. Und dennoch, das macht dieses Buch überdeutlich, konturiert sich das Periphere nur in Relation zum Zentralen, die Gestalt ist doch immer auch auf die Struktur verwiesen. Um, so Virilios Fazit, das Verschwinden der ethischen und politischen Ideale, der klassischen Denk- und Wahmehmungsformen und der Gesellschaften zu gewahren und auszuhalten, müsse man "Abstand halten und sich entfernen."