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Erfolglose Straftäter

Medizin.- Wer an ADHS denkt, hat womöglich hyperaktive Kinder vor Augen, die mit Ritalin behandelt werden. Was weit weniger bekannt ist: Viele Betroffene leiden als Erwachsene weiter an der Störung. Und: ADHS kann offenbar kriminelles Verhalten begünstigen.

Von Marieke Degen | 02.04.2012
    ADHS-Patienten können sich nur schwer konzentrieren. Sie haben ihre Gefühle nicht im Griff, reagieren schnell über, sind oft ängstlich, depressiv und schlecht organisiert. Alles in allem keine gute Kombination für eine kriminelle Karriere.

    "Sie werden geschnappt. Weil sie die Überwachungskamera nicht bemerken, oder den Polizisten, der ihnen dabei zusieht, wie sie gerade ein Auto klauen. Sie sind als Straftäter also nicht gerade erfolgreich."

    Susan Young ist Psychologin am King's College in London, sie arbeitet mit Schwerverbrechern im Hochsicherheitstrakt. Kriminelle mit ADHS, sagt sie, werden fünfmal häufiger verhaftet als andere, und sie gehen im Rechtssystem schnell unter. Sie sind nicht in der Lage, ihrem Gerichtsprozess zu folgen. Manchmal geben sie Taten zu, die sie überhaupt nicht begangen haben – nur, um schnell aus der Situation herauszukommen.

    "Im Gefängnis sind sie sehr gefährdet, weil sie ihre Emotionen und ihr Verhalten nicht unter Kontrolle haben. Sie sind diejenigen, die Rabatz machen. Sie reagieren schnell aggressiv – sie werden nicht nur ausfällig, sondern auch gewalttätig, wenn sie sich aufregen. Und sie zerstören Gefängniseigentum."

    Forscher gehen davon aus, dass jeder zweite Insasse in einem Jugendgefängnis an ADHS leidet. Bei den erwachsenen Gefängnisinsassen ist es jeder dritte, bei Frauen jede zehnte. ADHS scheint kriminelles Verhalten also zu begünstigen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine groß angelegte Studie aus Island. Gisli Gudjonsson, forensischer Psychologe am King's College in London, und seine Kollegen haben Fragebögen von mehr als 11.000 Schülern aus Island ausgewertet. Gefragt wurde nach ADHS-Symptomen, Gewaltbereitschaft und Aggression, Selbstkontrolle, kriminellem Verhalten, Drogenabhängigkeit und Freundeskreis.

    "Die ADHS selbst hat wahrscheinlich nur einen geringen Einfluss auf kriminelles Verhalten. Dafür sind eher die Begleiterscheinungen der ADHS verantwortlich. Ihr Sozialverhalten ist gestört, und sie neigen zu Gewalt. Viele ADHS-Patienten werden zum Außenseiter, sie geraten in schlechte Gesellschaft, nehmen harte Drogen wie Heroin und rutschen in die Kriminalität ab. Wir würden folgendes als Intervention empfehlen: Sichergehen, dass diese Jugendlichen Anschluss finden und eben nicht in schlechte Gesellschaft geraten. Außerdem muss man die Drogenabhängigkeit in den Griff kriegen – das ist ganz wichtig."

    Die Island-Studie zeigt aber auch: Es gibt eine Gruppe von jungen ADHS-Patienten, die besonders Gefahr laufen, kriminell zu werden. Es sind die Jugendlichen, die bereits Medikamente gegen ADHS einnehmen.

    "Das liegt nicht an den Medikamenten, sondern daran, dass Jugendliche, die diese Medikamente bekommen, schon so viele Probleme durch die ADHS haben, dass sie solche Medikamente eben brauchen. Sie werden also bereits behandelt, doch offenbar reichen die Medikamente allein nicht aus. Sie brauchen eine zusätzlich Psychotherapie, um das kriminelle Verhalten zu stoppen. "

    Susan Young hat so eine Therapie entwickelt: Eine mehrstufige Verhaltenstherapie für ADHS-Patienten ab 13 Jahren.

    "Wir bringen ihnen unter anderem bei, sich besser zu konzentrieren. Wie sie mit psychologischen Tricks Dinge im Kopf behalten, sich besser organisieren und ihre Impulsivität unter Kontrolle halten können. Und wir zeigen ihnen, wie sie Probleme mit anderen lösen können – dass es eine ganze Bandbreite von Lösungsansätzen gibt, aus denen man wählen kann, und dass man nicht einfach nur das erstbeste machen sollte, was einem in den Sinn kommt."

    Susan Young hat die Therapie bei erwachsenen Straftätern im Hochsicherheitstrakt eingesetzt – mit Erfolg, sagt sie.

    "Die ADHS-Symptome sind bei den Patienten zurückgegangen. Sie können sich besser kontrollieren, rasten nicht mehr so schnell aus, sind weniger ängstlich und depressiv, und ihre Einstellung zu kriminellem Verhalten hat sich verändert. Das sagen sie nicht nur selbst – das sagen auch unabhängige Gutachter, die sich die Patienten angeschaut haben und nicht wussten, ob sie an der Therapie teilgenommen hatten oder nicht."

    Als nächstes will Susan Young die Therapie im Jugendgefängnis testen. Das Programm könnte aber auch schon viel früher zum Einsatz kommen: bei jungen ADHS-Patienten, die abzurutschen drohen, aber noch nicht straffällig geworden sind. Vielleicht ließe sich so die ein oder andere kriminelle Laufbahn verhindern.