"Ich schau mal ganz kurz auf die Uhr. Wir haben noch zehn Minuten."
Andreas Hartmann steht allein an einer Straßenbahnhaltestelle am Rande Erfurts. Mit Wanderschuhen, Rucksack, Sonnenhut. Es ist Freitagabend kurz vor Sechs. Nach und nach kommen drei Frauen und zwei Männer dazu, auch sie wandergerecht gekleidet. Hartmann begrüßt alle freundlich und erzählt, wie ihn sein Leben in seiner Softwarefirma immer mehr gestresst hat, wie er den Burn-out mit 900 Kilometern auf dem Jakobsweg bekämpft hat und wie ihm der Weg Antworten auf Fragen gab, die er gar nicht gestellt hatte.
"Also, für mich hat es mein Denken sehr stark verändert. Daraufhin habe ich auch meinen Job aufgegeben, meine Firma verkauft und habe dann noch mal einen ganz anderen Weg eingeschlagen. In die Sozialwirtschaft gegangen, arbeite jetzt als Kinder- und Jugendcoach. Und mache jetzt noch mal ein Studium: Praktische Theologie und soziale Arbeit."
Nun kann und will nicht jeder mal eben für sechs Wochen pilgern gehen. Aber Hartmann als Spätberufener will seine Erfahrungen gern weitergeben. Also lädt er zum "Feierabendpilgern". Drei Stunden am Freitag nach der Arbeit – als Ausklang und Gegenentwurf zur Arbeitswoche, zu den Gewohnheiten und Ritualen des Alltags.
"Wer könnte sich den vorstellen, was zu lesen?"
"Vorzulesen oder was?"
Andreas Hartmann verteilt an jeden ein Blatt mit Texten zum Pilgern.
"Wir starten den Pilgerweg mit einem alten Pilgergruß, der kommt in einem Lied vor, einem französischen Pilgerlied. Die alten Pilger haben sich mit dem Wort 'Ultrea' begrüßt. 'Ultrea' heißt so viel wie 'Vorwärts'."
Nach ein paar Übungen klappt der Text.
"Und jetzt alle zusammen: Deus adjuva nos. Das heißt, 'Gott mit uns', Deus adjuva nos."
"Deus adjuva nos."
"Gut, dann wünsche ich euch allen einen guten Weg. Und die nächste Station ist der Amtmann-Kästner-Platz."
Es geht weg vom Neubaugebiet, durch ein Dorf am Stadtrand. Noch reden nur die miteinander, die sich schon vorher kannten. Auf dem Dorfplatz unter Bäumen die erste Unterbrechung.
"Wir stellen uns am besten im Kreis auf. Was wir jetzt machen wollen, ist eine Übung, die nennt sich 'Finde dein Gleichgewicht!'"
Wer mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen nach vorn kippt, soll sich bremsen, wer nach hinten neigt, zur Aktion schreiten.
"Und das Schöne ist daran, dass wir auch wissen, was brauchen wir, automatisch, um in unser Gleichgewicht zu kommen, ne."
Manche steigen aus
Es folgt das erste Gebet, aus dem schon zwei aussteigen: Wandern, Pilgern ja, aber man sei dann doch kein Christ. Auf dem weiteren Weg, raus aus dem Dorf, kommen dann alle ins Gespräch.
"Na ja ich hatte auch mal den Gedanken, einen Pilgerweg zu gehen. Klein anfangen, einfach so! Um zu sehen, Anschluss zu kriegen, mal was anderes zu machen. Möchte schon mal gern andere Leute kennenlernen und außerdem die Gegend, weil: Ich komme ja nicht von hier. Ja, das hat mich eigentlich bewogen. Schönes Wetter."
Sie ist Altenpflegerin. Und ist hier dabei für die Beine und den Kopf.
"Ja. Vielleicht sogar noch der Kopf mehr. Weiß nicht."
"Wie ist der Untergrund? Wie ist das Wetter? Ist mein Rucksack zu schwer? Also, es ist ein Kommen und Gehen der Gedanken. Aber du hast eben nicht in der Anstrengung darüber nachgedacht, wie es häufig im Alltag so ist. Entspanntes Nachdenken, so würde ich's mal sagen."
Schritte und Geh-Bote
Die Stadt liegt hinter uns. Im hohen Gras die nächste Übung: Ganz langsam Schritt für Schritt gehen, Fuß vor Fuß. Dazu ein paar Geh-Bote.
"Die Dinge werden nicht besser, wenn du sie schnell machst. Und die Wege kannst du erst genießen, wenn deine Augen schweifen können, deine Ohren weghören und deine Nase hinriechen darf."
Jeder ist mal mit Lesen dran. Gebete, Gedanken über den Alltag und das, was er verdeckt. Auf einem Teilstück wird geschwiegen, auf einem anderen sollen wir uns gegenseitig erzählen, wem wir segnen wollen oder einfach nur Gutes wünschen. Wenn auch manche etwas zögern, so machen doch alle mit. Berichten dann sogar vor allen über ihr Empfinden. Über.
Zum Abschluss ein Stück Brot
Nach knapp drei Stunden sind wir zurück in der Stadt. In einem Park schenkt Andreas Traubensaft aus und jeder bricht sich ein Stück Brot. Feier-Abend.
"Einfach Danke sagen, Danke für diesen Tag, für diese Zeit, für diesen Weg, und für unsere Gemeinschaft. Prost!"
"Prost!"