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Ergänzung zum philosophischen Hauptwerk

Es ist sicher unzutreffend, dass sich Philosophen immerzu im Glanz der eigenen Disziplin sonnen. So publizierte bereits 1846 der französische Anarchist Pierre Joseph Proudhon eine Analyse der sozialökonomischen Verhältnisse unter dem Titel "Philosophie des Elends". Wenige Monate später drehte Karl Marx den Spieß um und versuchte, die philosophische Theorie auf den ökonomischen Tatsachen zu gründen. Die Verhältnisse sollten wieder geradegerückt werden, weshalb Marx seine polemische Replik "Das Elend der Philosophie" nannte. Das anspielungsreiche Motto griff nun auch Dolores Lyotard auf, als sie die nachgelassenen Aufsätze und Vorträge ihres Mannes Jean-François Lyotard unter dem Titel "Misère de la philosophie" veröffentlichte.

Beitrag von Klaus Englert | 27.12.2004
    "Die Ehre des Denkens zu retten" – heißt es dort -, sei untrennbar mit der Demut und dem eingestandenen "Elend der Philosophie" verbunden. Lyotard, der 1998 verstarb, hat dieses Motiv in dem vorliegenden Band in verschiedenen Bereichen untersucht - in der Psychoanalyse, in der Kantschen Philosophie, schließlich in Malerei, Film und Architektur. Überall dort spürte Lyotard etwas auf, was er in einem Interview die "Kunst des Schweigens" nannte:

    Was von der Phänomenologie übrig bleibt: Zum Wesen dieses Schweigens, das die Kunstwerke in ihrem Kern prägt, konnte man mit einer phänomenologischen Philosophie nicht vordringen, und zwar weil die Phänomenologie eine Philosophie des Bewußtseins und des bewußten Sprechens, des Aussagens ist. Das schien mir nicht ausreichend.

    Die Texte des vorliegenden Sammelbandes hatte Lyotard zu Lebzeiten in einem Aktenordner versammelt. Er plante sie als Ergänzungsband zu seinem philosophischen Hauptwerk "Le différend". Die Gedanken muten oft allzu assoziativ an, zu wenig am künstlerischen Gegenstand orientiert. Zudem fehlt dem posthumen Werk die argumentative Stringenz und Überzeugungskraft, die noch "Le différend" auszeichnete. Ebensowenig sind einige Übersetzungen dazu geeignet, etwas mehr aufklärerisches Licht in die teils recht dunklen Texte zu werfen.

    Zunächst fällt es schwer, den roten Faden in Lyotards Textsammlung aufzufinden. Bald erkennt man aber, dass Lyotard immer wieder Streifzüge in die Künste unternimmt. Ihn interessieren dabei folgende Fragen: Können philosophische Begriffe unterschiedliche Künste wie Malerei, Film und Architektur angemessen sein? Ist es überhaupt möglich, das tachistische Farbgesprengsel eines Jackson Pollock oder die Farbmagie eines Mark Rothko in eine begriffliche Form zu übertragen? Lyotard ist jedenfalls der Meinung, dass unvermeidlich ein Rest bei dieser Übertragung übrigbleibt, ein Rest, der sich der philosophischen Einverleibung widersetzt.

    Wenn das Werk nicht restlos übertragbar ist, dann liegt dies daran, dass seine Bestimmung ungewiß und hinsichtlich der Züge einer Systematik unsagbar ist. Die gegenwärtige Kunst lotet den Bereich des Unsagbaren und Unsichtbaren aus.

    Es wird sicher viele erstaunen, dass Lyotard ausgerechnet den Aufklärer Immanuel Kant zum Kronzeugen dieser modernen Kunstauffassung macht. Was aber, so fragt sich, kann der Königsberger Philosoph zur Deutung der Kunst unter der "condition postmoderne" beitragen? Lyotard interessiert vor allem seine Ästhetik, die von der Wahrnehmung großer und mächtiger Naturphänomene handelt. Man denke nur an Rossellinis "Stromboli", wo Ingrid Bergman schier verzweifelt niedersinkt vor den Naturgewalten des Meeres und des Vulkans. Sie kann nicht in Worte fassen, was sie sieht. Was derart die Verstandeskräfte und die menschliche Sprachfähigkeit übersteigt, nennt Kant das Erhabene. Lyotard geht über Kant hinaus, wenn er dieses Phänomen auf die Kunst überträgt.

    Ich glaube, dass die Frage des Erhabenen nicht 200 Jahre alt ist, sondern ganz und gar aktuell ist. Schließlich versuche ich einen Weg nachzuzeichnen, den die Geschichte der Künste genommen hat, und zwar am Leitfaden der Avantgarde.

    Kants Begriff des Erhabenen soll einen neuen Zugang zur Kunst eröffnen. Lyotard grenzt sich ab vom philosophischen Kommentar, der das Kunstwerk "vergewaltige". Er grenzt sich ab von den Philosophen, die stets nach der vermeintlichen Bedeutung des Kunstwerks fragen. Und dabei das Sinnliche, das Körperhafte der Kunst übersehen.

    Viele mag die Rehabilitierung des Idealisten Kant wenig überzeugen. Denn immerhin hat sich der Königsberger Philosoph nur mit sparsamen Worten über die Kunst geäußert. Doch Lyotard hält dagegen: Kants Erhabenes ist etwas, was über die sichtbare Form des Kunstwerks hinausweist.

    Seit jeher lag das, was im literarischen und künstlerischen Ausdruck das Wesentliche ist, genau darin, dass sich die Bedeutung nicht in der künstlerischen Form darstellen lässt. Dass also die Form etwas durchläßt, was nicht zur Form gehört und damit 'Unform' ist, wie Kant sagt.

    Diese Empfindung des Unmöglichen, Undarstellbaren, Unsagbaren liegt vornehmlich der Avantgardekunst zugrunde. Bis zu seinem Tod ließ Lyotard dieses Thema nicht mehr los. 1987 veröffentlichte er ein zweibändiges Buch über die Künstler Adami, Arakawa und Buren – ein Werk, dessen Titelbild Cézannes berühmte "Montagne Sainte-Victoire" schmückt. Von dem Altmeister Cézanne bis zu den Gegenwartsmalern versucht Lyotard nachzuweisen, dass sich die Kunst von der Darstellung sinnlicher Präsenz losgesagt hat. In den späteren ästhetischen Texten schreibt er über die Farbfelder eines Barnett Newman und erkennt in ihnen die Hauptmotive moderner Kunst: Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Schließlich beschreibt Lyotard in Das "Elend der Philosophie", wie Paul Cézanne seine Malweise Emile Bernard erklärte: In seinen vielen Anläufen, die "Montagne Sainte-Victoire" zu malen, verfolge er keineswegs eine getreue Wiedergabe des Berges. Ganz im Gegenteil. In einem fiktiven Dialog mit seinem Malerfreund legt ihm Lyotard folgende Worte in den Mund:

    Ich möchte ein paar Sensationen darstellen. Kleine Umrisse, Spuren von Nichts, die auf ihren besessenen Abstufungen beharren, die fernen Indigos, die gesättigten Karminrottöne.

    Kommentierend fügt Lyotard hinzu: Cézanne fühlt die Sprache der Objekte, er empfindet genau, wie ihn das Gebirge ansieht. Dabei könnte man meinen, Cézanne habe verschiedene Berge gemalt. Doch es ist immer wieder die Montagne Sainte-Victoire, mit anderen Kontrasten und Beziehungen zwischen Farbflecken und Farbtönen.

    Lyotard meint, Cézanne habe sozusagen den 6. Sinn: Er empfinde die im Entstehen befindliche Realität, bevor sie sich in der normalen Wahrnehmung vervollständigt. Der Maler rührt also ans Erhabene, wenn er das Überwältigende der Gebirgslandschaft erblickt, die man weder mit der normalen Sprache noch mit der gewohnten Maltechnik darstellen könne. Lyotard schreibt dazu:

    Man kann auch sagen, dass das Unheimliche der dem Gebirge und den Früchten gewidmeten Ölgemälde und Aquarelle sowohl von einem tiefen Sinn des Verschwindens der Erscheinungen herrührt, als auch von dem Untergang der sichtbaren Welt.

    Diese Spannung zwischen Erscheinung und Verschwinden durchmessen auch die weiteren Abhandlungen und Vorträge in "Das Elend der Philosophie". Während eines Besuchs von Le Corbusiers Klosteranlage La Tourette schwärmt Lyotard im Gespräch mit einem Mönch vom "Konzert der Volumen und Stimmen". La Tourette sei für ihn Ordnung und Unordnung – beides zusammen. Und in den stillgestellten Einstellungen des neorealistischen Films entdeckt er so etwas wie einen transzendenten Raum – einen Raum, aus dem erst Ruhe und Bewegung entstehen. Auch hier spürt Lyotard das Erhabene auf - das Nicht-Visuelle im visuellen Medium:

    Die Kunst also, zum Beispiel eine Bewegung wie der Minimalismus oder die große abstrakte Kunst, gibt sehr wenig zu sehen und daher viel zu denken.