In den fünfziger Jahren sprachen die Deutschen von der "nationalsozialistischen Gewaltherrschaft", als sei ihr Land 1933 von einer Besatzungsmacht überfallen worden. In den Sechzigern war dann viel von "der Gesellschaft" die Rede, und abstrakt auch von ihrer "faschistischen Vergangenheit". Doch wie die Deutschen sich im "Dritten Reich" konkret verhalten hatten: Diese Frage blieb weiterhin meist ausgespart. Wohl suchte man nach Antworten, als in den achtziger Jahren die sogenannte Alltagsgeschichte boomte. So richtig aber gerieten die "gewöhnlichen Deutschen" erst in den Neunzigern in den Blick.
Ein Meilenstein dieser neueren Forschungsrichtung war 1993 Christopher Brownings beklemmende Studie über die "ganz normalen Männer" des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101. Kaum einer von ihnen hatte sich auf den "killing fields" in Polen der Mitwirkung an den Massenerschießungen wehrloser Menschen verweigert. Doch außerhalb der Historikerschaft fand Brownings Buch über den Judenmord erst Beachtung, als drei Jahre später Daniel Goldhagens Bestseller über "Hitlers willige Vollstrecker" erschienen war. Dessen simple Thesen stießen in der internationalen Fachwelt zwar auf einhellige Ablehnung, in der Öffentlichkeit aber auf begeisterte Zustimmung.
Es war wohl nicht zuletzt der sensationsheischende Untertitel, der dem Goldhagen-Buch zu seinem phänomenalen Erfolg verhalf: "Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust". Jetzt hofft der Siedler-Verlag offensichtlich, mit Eric A. Johnsons Darstellung des nationalsozialistischen Terrors an seinen alten Kassenschlager anknüpfen zu können. Jedenfalls bedient sich die Neuerscheinung - wiederum ein Wälzer von mehr als 600 Seiten - in auffälliger Weise der Erfolgszeile von damals: "Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche" heißt es nun, und dieser gedankenlose Nachvollzug der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik - als ob die deutschen Juden keine oder "ungewöhnliche" Deutsche gewesen seien - ist leider nicht das einzige Ärgernis.
So ist das Buch auch keineswegs - wie auf dem Rückumschlag werbewirksam behauptet wird - "ein Standardwerk der Holocaust-Forschung". Vielmehr handelt es sich um eine ziemlich spezielle, vor allem aber ziemlich verwirrend dargebotene Regionalstudie zur Rolle der Geheimen Staatspolizei im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, deren Erforschung seit einiger Zeit intensiv voranschreitet.
Natürlich weiß dies unser Autor, und so bemüht er sich in einer umständlichen Einleitung, sein Werk von den bereits erschienenen und den demnächst zu erwartenden Konkurrenzprodukten abzugrenzen. Am Ende dieses Hin und Her zwischen tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen alten Klischees über die Gestapo, neueren Erkenntnissen und überspitzten aktuellen Forschungsthesen dürfte das breite Publikum, an das sich Johnson zu wenden sucht, den Überblick verloren haben - und vielleicht sogar schon die Geduld.
Das aber wäre mindestens insofern schade, als der amerikanische Historiker zu Recht moniert, dass manche seiner Forscherkollegen in den letzten Jahren eine Vorstellung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt haben, die gleich nach dem Krieg aus durchsichtigen Gründen ventiliert wurde: die Vorstellung nämlich von einer allgegenwärtigen Bedrohung durch die Männer in den dunklen Ledermänteln. So erwecken einige Autoren mittlerweile den Eindruck, als sei die Gestapo die meiste Zeit nichts weiter gewesen als ein Haufen chronisch überforderter Dilettanten, der nur deshalb nicht in völliger Ohnmacht versank, weil die Deutschen so gerne denunzierten.
Johnson rückt solche Übertreibungen zurecht. Auf der Basis eigener Quellenstudien kann er zeigen, dass Himmlers politische Polizei keineswegs von der deprimierenden Denunziationsbereitschaft der nationalsozialistischen "Volksgenossen" abhängig war. Gewiss gab es auch an den von Johnson untersuchten Orten - in Köln, in Krefeld und in der niederrheinischen Kleinstadt Bergheim - jenes niederträchtige Bedürfnis, dem Nachbarn etwas anzuhängen, das die neuere Forschung schon in anderen Regionen beobachtet hat. Bei Johnson aber wird deutlich, dass sich die Funktion der Gestapo im Management dieser gesellschaftlichen Selbstkontrolle nicht erschöpfte. Hinzu kam der gezielte Terror.
"Der Schlüssel zum Verständnis des zeitweise brutalen, zeitweise quasi-legalistischen, aber stets wirksamen nationalsozialistischen Terrors [liegt] in seiner selektiven Natur. Er wurde nicht pauschal oder willkürlich eingesetzt, sondern richtete sich erbarmungslos gegen die rassischen, politischen und sozialen ‚Feinde' des NS-Regimes. Gleichzeitig ignorierte oder überging er milde Ausdrucksformen eines Nonkonformismus oder Ungehorsams auf Seiten der übrigen deutschen Bürger."
In dieser Fähigkeit der Gestapo, über mancherlei Abweichungen vom Idealbild des "Volksgenossen" hinwegzusehen, erkennt Johnson geradezu ein Geheimnis ihrer Wirkungsmacht. Jedoch unterschätzt er die Breite der Zustimmung, die das Regime parallel dazu fand, und seine Perspektive auf den nationalsozialistischen Terror ist selbst dort nicht eben klar, wo er sich um eine Art Definition bemüht:
"Tatsächlich nahmen viele Deutsche den Terror nicht als persönliche Bedrohung wahr, sondern als etwas, das ihren Interessen diente, indem er Gefahren für ihr materielles Wohlergehen und ihr Gefühl von Gemeinschaft und Anstand beseitigte. Diese Akzeptanz sorgte mit dafür, dass die maßgeblichen Terrororgane wie die Gestapo trotz ihrer beschränkten personellen und finanziellen Ausstattung effektiv arbeiten konnten."
Je weiter man Johnsons oft langatmigen Darlegungen folgt, desto unklarer wird allerdings, worum es ihm eigentlich zu tun ist. In der Fülle reportierter Einzelheiten verliert sein Buch nicht nur das mögliche Ziel einer stringenten Veranschaulichung der Funktionsweise des Terrors aus dem Blick. Ungeklärt bleibt auch, ob das so bereitwillig aufgenommene Wort von den "gewöhnlichen Deutschen" analytisch überhaupt trägt. Am Ende verfehlt Johnson gerade dadurch die Dynamik des nationalsozialistischen Gegnerbegriffs - und jene Potentialität, die Terror erst ausmacht.
Als außerordentlich ungeschickt erweist sich in diesem Zusammenhang freilich schon die Gliederung des Buches, die für jede soziale Gruppe immer wieder neu anhebt. So steht das Hauptkapitel "Terror gegen die Juden" vor dem Kapitel über den Terror gegen die Linke - obwohl es doch, wie der Autor selbst schreibt, in den ersten Jahren vor allem die Kommunisten und aktive Sozialdemokraten waren, auf deren Ausschaltung sich die Geheimpolizei konzentrierte. Juden gerieten in der Anfangszeit eigentlich nur als politische Gegner ins Visier der Gestapo, ebenso wie die wenigen konservativen und kirchlichen Kritiker des Regimes.
Unbefriedigend bleibt schließlich auch Johnsons Versuch über "Die Gestapo, ‚gewöhnliche' Deutsche und de[n] Massenmord an den Juden". Ohne hinreichende methodische Abklärung verwendet er in diesem Kapitel Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Zufallsstichprobe, die 1993 - also ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen - unter 188 Kölnern durchgeführt wurde. Dem Autor zufolge gab dabei ein knappes Viertel, nach anderer Lesart vielleicht sogar gut die Hälfte der Befragten "preis,
dass ihnen der Massenmord an den Juden während der Hitlerzeit nicht verborgen geblieben war".
Mindestens so vage wie diese Ergebnisse sind die Schlussfolgerungen, die Johnson daraus zieht:
"Die wenigsten Deutschen wussten alles über die Judenvernichtung. Möglicherweise wusste nicht einmal Hitler alles darüber. Doch wie unsere Umfrage zeigt, war Millionen gewöhnlicher Deutscher aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit den verschiedensten religiösen und politischen Orientierungen bekannt, dass Juden in großer Zahl umgebracht wurden. Manche Deutsche erfuhren davon erst relativ spät während des Krieges, zahlreiche wussten es schon wesentlich früher."
Schriebe hier nicht einer über den Holocaust, man wäre versucht auszurufen: So genau will ich es gar nicht wissen!
Norbert Frei besprach "Der nationalsozialistische Terror. Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche" von Eric A. Johnson. Übersetzt wurde das im Siedler Verlag erschienene Buch von Udo Remmert. Es hat 639 Seiten und kostet 69 Mark.
Ein Meilenstein dieser neueren Forschungsrichtung war 1993 Christopher Brownings beklemmende Studie über die "ganz normalen Männer" des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101. Kaum einer von ihnen hatte sich auf den "killing fields" in Polen der Mitwirkung an den Massenerschießungen wehrloser Menschen verweigert. Doch außerhalb der Historikerschaft fand Brownings Buch über den Judenmord erst Beachtung, als drei Jahre später Daniel Goldhagens Bestseller über "Hitlers willige Vollstrecker" erschienen war. Dessen simple Thesen stießen in der internationalen Fachwelt zwar auf einhellige Ablehnung, in der Öffentlichkeit aber auf begeisterte Zustimmung.
Es war wohl nicht zuletzt der sensationsheischende Untertitel, der dem Goldhagen-Buch zu seinem phänomenalen Erfolg verhalf: "Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust". Jetzt hofft der Siedler-Verlag offensichtlich, mit Eric A. Johnsons Darstellung des nationalsozialistischen Terrors an seinen alten Kassenschlager anknüpfen zu können. Jedenfalls bedient sich die Neuerscheinung - wiederum ein Wälzer von mehr als 600 Seiten - in auffälliger Weise der Erfolgszeile von damals: "Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche" heißt es nun, und dieser gedankenlose Nachvollzug der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik - als ob die deutschen Juden keine oder "ungewöhnliche" Deutsche gewesen seien - ist leider nicht das einzige Ärgernis.
So ist das Buch auch keineswegs - wie auf dem Rückumschlag werbewirksam behauptet wird - "ein Standardwerk der Holocaust-Forschung". Vielmehr handelt es sich um eine ziemlich spezielle, vor allem aber ziemlich verwirrend dargebotene Regionalstudie zur Rolle der Geheimen Staatspolizei im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, deren Erforschung seit einiger Zeit intensiv voranschreitet.
Natürlich weiß dies unser Autor, und so bemüht er sich in einer umständlichen Einleitung, sein Werk von den bereits erschienenen und den demnächst zu erwartenden Konkurrenzprodukten abzugrenzen. Am Ende dieses Hin und Her zwischen tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen alten Klischees über die Gestapo, neueren Erkenntnissen und überspitzten aktuellen Forschungsthesen dürfte das breite Publikum, an das sich Johnson zu wenden sucht, den Überblick verloren haben - und vielleicht sogar schon die Geduld.
Das aber wäre mindestens insofern schade, als der amerikanische Historiker zu Recht moniert, dass manche seiner Forscherkollegen in den letzten Jahren eine Vorstellung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt haben, die gleich nach dem Krieg aus durchsichtigen Gründen ventiliert wurde: die Vorstellung nämlich von einer allgegenwärtigen Bedrohung durch die Männer in den dunklen Ledermänteln. So erwecken einige Autoren mittlerweile den Eindruck, als sei die Gestapo die meiste Zeit nichts weiter gewesen als ein Haufen chronisch überforderter Dilettanten, der nur deshalb nicht in völliger Ohnmacht versank, weil die Deutschen so gerne denunzierten.
Johnson rückt solche Übertreibungen zurecht. Auf der Basis eigener Quellenstudien kann er zeigen, dass Himmlers politische Polizei keineswegs von der deprimierenden Denunziationsbereitschaft der nationalsozialistischen "Volksgenossen" abhängig war. Gewiss gab es auch an den von Johnson untersuchten Orten - in Köln, in Krefeld und in der niederrheinischen Kleinstadt Bergheim - jenes niederträchtige Bedürfnis, dem Nachbarn etwas anzuhängen, das die neuere Forschung schon in anderen Regionen beobachtet hat. Bei Johnson aber wird deutlich, dass sich die Funktion der Gestapo im Management dieser gesellschaftlichen Selbstkontrolle nicht erschöpfte. Hinzu kam der gezielte Terror.
"Der Schlüssel zum Verständnis des zeitweise brutalen, zeitweise quasi-legalistischen, aber stets wirksamen nationalsozialistischen Terrors [liegt] in seiner selektiven Natur. Er wurde nicht pauschal oder willkürlich eingesetzt, sondern richtete sich erbarmungslos gegen die rassischen, politischen und sozialen ‚Feinde' des NS-Regimes. Gleichzeitig ignorierte oder überging er milde Ausdrucksformen eines Nonkonformismus oder Ungehorsams auf Seiten der übrigen deutschen Bürger."
In dieser Fähigkeit der Gestapo, über mancherlei Abweichungen vom Idealbild des "Volksgenossen" hinwegzusehen, erkennt Johnson geradezu ein Geheimnis ihrer Wirkungsmacht. Jedoch unterschätzt er die Breite der Zustimmung, die das Regime parallel dazu fand, und seine Perspektive auf den nationalsozialistischen Terror ist selbst dort nicht eben klar, wo er sich um eine Art Definition bemüht:
"Tatsächlich nahmen viele Deutsche den Terror nicht als persönliche Bedrohung wahr, sondern als etwas, das ihren Interessen diente, indem er Gefahren für ihr materielles Wohlergehen und ihr Gefühl von Gemeinschaft und Anstand beseitigte. Diese Akzeptanz sorgte mit dafür, dass die maßgeblichen Terrororgane wie die Gestapo trotz ihrer beschränkten personellen und finanziellen Ausstattung effektiv arbeiten konnten."
Je weiter man Johnsons oft langatmigen Darlegungen folgt, desto unklarer wird allerdings, worum es ihm eigentlich zu tun ist. In der Fülle reportierter Einzelheiten verliert sein Buch nicht nur das mögliche Ziel einer stringenten Veranschaulichung der Funktionsweise des Terrors aus dem Blick. Ungeklärt bleibt auch, ob das so bereitwillig aufgenommene Wort von den "gewöhnlichen Deutschen" analytisch überhaupt trägt. Am Ende verfehlt Johnson gerade dadurch die Dynamik des nationalsozialistischen Gegnerbegriffs - und jene Potentialität, die Terror erst ausmacht.
Als außerordentlich ungeschickt erweist sich in diesem Zusammenhang freilich schon die Gliederung des Buches, die für jede soziale Gruppe immer wieder neu anhebt. So steht das Hauptkapitel "Terror gegen die Juden" vor dem Kapitel über den Terror gegen die Linke - obwohl es doch, wie der Autor selbst schreibt, in den ersten Jahren vor allem die Kommunisten und aktive Sozialdemokraten waren, auf deren Ausschaltung sich die Geheimpolizei konzentrierte. Juden gerieten in der Anfangszeit eigentlich nur als politische Gegner ins Visier der Gestapo, ebenso wie die wenigen konservativen und kirchlichen Kritiker des Regimes.
Unbefriedigend bleibt schließlich auch Johnsons Versuch über "Die Gestapo, ‚gewöhnliche' Deutsche und de[n] Massenmord an den Juden". Ohne hinreichende methodische Abklärung verwendet er in diesem Kapitel Ergebnisse einer sozialwissenschaftlichen Zufallsstichprobe, die 1993 - also ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen - unter 188 Kölnern durchgeführt wurde. Dem Autor zufolge gab dabei ein knappes Viertel, nach anderer Lesart vielleicht sogar gut die Hälfte der Befragten "preis,
dass ihnen der Massenmord an den Juden während der Hitlerzeit nicht verborgen geblieben war".
Mindestens so vage wie diese Ergebnisse sind die Schlussfolgerungen, die Johnson daraus zieht:
"Die wenigsten Deutschen wussten alles über die Judenvernichtung. Möglicherweise wusste nicht einmal Hitler alles darüber. Doch wie unsere Umfrage zeigt, war Millionen gewöhnlicher Deutscher aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit den verschiedensten religiösen und politischen Orientierungen bekannt, dass Juden in großer Zahl umgebracht wurden. Manche Deutsche erfuhren davon erst relativ spät während des Krieges, zahlreiche wussten es schon wesentlich früher."
Schriebe hier nicht einer über den Holocaust, man wäre versucht auszurufen: So genau will ich es gar nicht wissen!
Norbert Frei besprach "Der nationalsozialistische Terror. Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche" von Eric A. Johnson. Übersetzt wurde das im Siedler Verlag erschienene Buch von Udo Remmert. Es hat 639 Seiten und kostet 69 Mark.