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Eric Hobsbawm: Das Gesicht des 21. Jahrhunderts

Es bliebe kein Raum mehr für alles, was wir unter dem Politischen in demokratischen und liberalen Gesellschaften bisher verstanden hätten, sagt der britische Historiker Eric Hobsbawm in seinem neusten Buch, wenn die Sphäre des Öffentlichen zerstört, das Politische zum Derivat des Marktes werde. Nachdem der einst aus Österreich emigrierte Hobsbawm vor 5 Jahren das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme analysiert hat, versucht er nun in seinem neusten Buch im Gespräch mit Antonio Polito 'Das Gesicht des 21. Jahrhunderts' vorausschauend kenntlich zu machen. Bernd Leineweber hat es für uns gelesen:

Bernd Leineweber | 19.06.2000
    Eric Hobsbawm versteht sein Fach nicht im Sinne einer bloßen Beschreibung von Ereignissen. Seiner Ansicht nach muss die Geschichtswissenschaft analytisch verfahren, um die großen geschichtlichen Entwicklungslinien bezeichnen und auf dieser Basis auch Voraussagen machen zu können. Sie muss gleichsam eine Sammlung des Blicks sein, der auf das, was zu tun ist, vorbereitet. Eine solche Sammlung des Blicks auf die bestimmenden Entwicklungslinien des vergangenen, des 20.Jahrhunderts, hat Hobsbawm 1995 mit seinem großen und viel beachteten Werk Das Zeitalter der Extreme vorgelegt. Auf dieses Werk nehmen die Gesprächspartner vielfach Bezug. Hobsbawm zufolge hat das Ende der Sowjetunion von den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts die stärksten Folgen für das kommende. Mit ihm lässt er das von ihm sogenannte "kurze" zwanzigste Jahrhundert enden. Begonnen hatte es im August 1914. Seit dem Ende der Sowjetunion hat nicht nur die marxistische Ideologie vermutlich mindestens auf längere Sicht ihren Ort in der Geschichte verloren. Auch ideologiekritische, sich als wissenschaftlich verstehende Formen des marxistischen Denkens haben Mühe, sich zu behaupten, denn sie müssen sich gegen die kurzschlüssige Gleichsetzung des Marxismus mit dem katastrophal gescheiterten sowjetischen Experiment zur Wehr setzen. Hobsbawm, der 1917 geboren, in Wien und Berlin aufgewachsen und in den dreißiger Jahren nach England emigriert ist, war lange Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei, aber nie bekennender Stalinist. Bei aller Kritik am Sowjetmarxismus und am Stalinismus ist er seinen kommunistischen Idealen treu geblieben, ohne sie mit Wissenschaft zu verwechseln. Diese sowohl politisch als auch intellektuell unbequeme Position könnte eine Zucht des Denkens bewirkt haben, die vielleicht den eigentümlichen skeptischen Optimismus seiner Geschichtsauffassung erklärt. Denn optimistisch darf die Einschätzung genannt werden, die Hobsbawm vom 20.Jahrhundert gibt und die von einem Juden und Kommunisten nicht unbedingt zu erwarten

    Der Zuwachs in der menschlichen Produktion und der Verfügbarkeit von Reichtum ist enorm, und der größere Teil der Weltbevölkerung hat von ihm profitiert. Das ist ein Kennzeichen des 20.Jahrhunderts, das berücksichtig werden muss, wenn man eine Einschätzung versucht, was an einzelnen Jahrhunderten das Beste und was das Schlimmste gewesen ist. Unser Jahrhundert hat mehr Menschen umgebracht als jedes andere, doch an seinem Ende gibt es mehr Menschen, die am Leben geblieben sind und die besser leben und größere Hoffnungen und mehr Chancen haben. Wir wollen hoffen, dass das 21.Jahrhundert einen weiteren Fortschritt erleben wird, aber ohne die Katastrophen. Doch wenn es zu Katastrophen kommen sollte, dann werden es - als ein Ergebnis des 20.Jahrhunderts - andere Katastrophen sein. (S.110)

    Wie kann man nach diesem 20.Jahrhundert, nach den Katastrophen dieses Jahrhunderts noch von "Fortschritt" reden? Wie ist dieser Optimismus zu verstehen? Ein Anhaltspunkt ist die starke Überzeugung, mit der Hobsbawm am marxistischen Credo eines Forschritts der Geschichte der menschlichen Gattung durch die immer weitere "Entfaltung der Produktivkräfte" festhält. Es ist das Credo, an dem er seit seinen politischen Anfängen in der kommunistischen Partei, der er 1932 in Berlin beitrat, festgehalten hat. Vehement vertritt er seine Aktualität: in der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung, die durch die globale Verbreitung hocheffizienter Transportmittel und Informationstechniken und die Dominanz einer neoliberalistischen Wirtschaftspolitik der führenden Industrieländer und der internationalen Finanzorganisationen bestimmt sei, komme es mehr denn je darauf an, für eine größere Gerechtigkeit der Verteilung des wachsenden wirtschaftlichen Reichtums einzutreten. Mit dieser Auffassung weiß Hobsbawm sich einig mit einer wachsenden Zahl von Kritikern des sogenannten freien Weltmarkts. Die Frage, die vor allem von jüngeren Leuten gestellt wird, ist aber, ob die Kritik am weltweiten Vordringen des freien Markts in dieser Form zureicht, ob sie nicht auch dem produktivistischen Fortschrittsmodell zu gelten hat, das ihr zugrunde liegt. Der gegenwärtige Antikapitalismus ist nicht mehr der marxistische, so wie das für Intellektuelle aus Hobsbawms Generation oder noch in der Generation der sechziger Jahre galt. Für die Jüngeren ist der Marxismus vielleicht gerade einmal ein Erbe, das es zu bewahren gilt, um sich den Blick für die menschenverachtenden Folgen eines entfesselten Kapitalismus zu erhalten. Als Theorie aber, die einen geschichtlichen Fortschritt und als dessen Motor die "Entfaltung der Produktivkräfte" annimmt, der immer mehr gewachsene Kulturen und Ökosysteme zum Opfer fallen, ist sie fragwürdig geworden. Welche Rolle wird der Marxismus im kommenden Jahrhundert also noch spielen? Das letzte Jahrhundert hat der Marxismus wie kaum eine andere Denkrichtung bestimmt. Diese Seite des Jahrhunderts wird in Hobsbawms großartigen analytischen Durchblicken zu verschiedenen aktuellen Themenbereichen besonders lebendig. Dazu trägt die Gesprächsform, die für diese Betrachtungen gewählt wurde, in erheblichem Maße bei. Es ist Hobsbawm gelungen, auch für Nichtmarxisten ein erkennbares Gesicht des 20.Jahrhunderts zu beschreiben. Es ist ihm gelungen, noch einmal die ganze geschichtliche Erklärungs- und Verklärungskraft des Marxismus aufleuchten zu lassen, die diesem fast in jeder Generation des vergangenen Jahrhunderts immer wieder aufs neue begeisterte Anhänger zugeführt hat. Wie gehen aber heute Kommunisten mit den Erfahrungen des Stalinismus um?

    Ich weiß sehr wohl, dass die Sache, der ich mich verschrieben hatte, nicht funktionieren konnte. Das hat sich ja auch gezeigt. Vielleicht hätte ich nicht darauf setzen sollen. Aber auf der anderen Seite, wenn die Menschen kein Ideal einer besseren Welt haben, dann entgeht ihnen etwas. ... Das Problem ist nicht der Wunsch nach einer besseren Welt, sondern der Glaube an die Utopie einer vollkommenen Welt. Liberale Denker haben recht, wenn sie darauf verweisen, dass einer der schlimmsten Aspekte nicht nur am Kommunismus, sondern an allen großen Sachen der Umstand ist, dass sie so großartig sind, dass sie alle Opfer rechtfertigen ... Dennoch bin ich einfach davon überzeugt, dass die Menschheit nicht leben kann ohne hohe Ziele und unbedingte Leidenschaften, selbst wenn diese an der Wirklichkeit scheitern und wenn deutlich wird, dass menschliches Handeln menschliches Unglück nicht beseitigen kann. (S.215f.)

    In diesen abschließenden Sätzen, die - wenn es so etwas gibt - wie marxistische Meditationen klingen, lässt sich ein Widerhall des zu Ende gegangenen Jahrhunderts vernehmen. Der Leser kann sich unter einer höchst kompetenten Führung gleichsam auf eine Zeitreise durch das marxistische Paradigma mitnehmen lassen - und dabei spüren, unter welchem Druck kritische Geschichts- und Gesellschaftstheorien stehen, wenn sie die geschichtliche Wirklichkeit im Licht einer möglichen besseren Welt erklären wollen, und wie schwer sie es andererseits haben, ohne die Unterstellung dieser Möglichkeit auch nur annähernd eine solche Erklärungskraft zu erreichen, wie sie der Marxismus besaß.

    Bernd Leineweber besprach: Das Gesicht des 21 Jahrhunderts. Eric Hobsbawm im Gespräch mit Antonio Polito, übersetzt von Udo Rennert. Erschienen ist der 224seitige Band im Carl Hanser Verlag und kostet 34 Mark.