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Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten - Ein Leben im 20. Jahrhundert

In Berlin sei er Kommunist geworden, schreibt Eric Hobsbawm, obwohl er erst im Herbst 1936, als er nach Cambridge kam, in die Partei eintrat. Hobsbawm war nie ein orthodoxer Gläubiger - ihn bewegte der Wunsch nach Gerechtigkeit und Überwindung der Selbstsucht -, später, nach 1956, lockerte er seine Bindungen an die Partei - verlassen hat er sie nicht. Nach dem Volksaufstand in Ungarn trug er in sein Tagebuch ein.

Stefan Berkholz | 15.12.2003
    Revolutionäre stellen an sich selbst nicht nur höhere moralische Anforderungen als irgendwer sonst außer den Heiligen, sondern setzen sie auch wirklich in solchen Momenten in die Tat um... In solchen Zeiten repräsentieren sie eine Miniaturversion der Idealgesellschaft, in der alle Menschen Brüder sind und alles für die Allgemeinheit opfern, ohne doch ihre Individualität aufzugeben. Wenn dies innerhalb ihrer Bewegung möglich ist, warum dann nicht überall?

    Warum er dann aber nicht aus der Partei austrat, in jenem schicksalhaften Jahr 1956 - Hobsbawm nennt es: das kommunistische Krisenjahr -, das erklärt der Historiker zunächst mit den Versprechungen der Lehre:

    Die leninistische Partei als 'Vorhut der Arbeiterklasse’ war eine Verbindung aus Disziplin, organisatorischer Effizienz, einer extremen emotionalen Identifikation und einem Gefühl der totalen Hingabe. (...) Unser Leben drehte sich um die Partei. Wir gaben ihr alles, was wir hatten. Dafür bekamen wir von ihr die Gewissheit unseres Siegs und das Erlebnis der Brüderlichkeit.

    Eric Hobsbawm wurde 1917 in Ägypten geboren. Sein Vater war ein britischer Kolonialbeamter aus kleinen Verhältnissen, seine Mutter stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Österreich. Mit drei Jahren kam Hobsbawm nach Wien - und erlebte als Kind die Inflation und den sozialen Abstieg der Eltern. 1929 starb sein Vater, da war Hobsbawm elf; zweieinhalb Jahre später die Mutter. Mit vierzehn Jahren war Hobsbawm Waise geworden. Er geht nach Berlin zu Onkel und Tante. Es waren die aufgewühlten anderthalb Jahre am Ende der Weimarer Republik, radikalisiert, unsicher, bedrohlich. Er selbst erlebte diese Zeit ohne festen Boden unter den Füßen, ohne gesicherte Autorität, er war viel auf sich allein gestellt.

    Die Monate in Berlin machten einen lebenslangen Kommunisten aus mir oder zumindest einen Mann, dessen Leben ohne das politische Projekt, dem er sich als Schuljunge verschrieben hatte, seinen Charakter und seine Bedeutung verlieren würde, auch wenn das Projekt nachweislich gescheitert ist und, wie ich heute weiß, scheitern musste. Der Traum der Oktoberrevolution ist immer noch irgendwo in meinem Innern da, so wie gelöschte Dateien irgendwo auf der Festplatte eines Computers noch immer darauf warten, von Experten wiederhergestellt zu werden. Ich habe es aufgegeben, ja verworfen, aber es ist nicht zerstört worden.

    Warum trat Hobsbawm also nicht spätestens 1956 aus der kommunistischen Partei aus, sondern blieb bis zu ihrer Auflösung 1991? 1956, das war das Jahr des 20. Parteitages der KPdSU: Stalins Verbrechen wurden angedeutet. Das musste jeden Kommunisten erschüttern. Und ein paar Monate später dann der Volksaufstand in Ungarn und die Niederschlagung durch russische Panzer. Hobsbawm zählt auf, was ihn in der Geschichte der kommunistischen Partei faszinierte: Da war zum einen - noch immer - die Hoffnung auf die Wandlung der Welt und die Überwindung des Kapitalismus. Da waren zum anderen Helden und Vorbilder, denen er nacheifern wollte, der unerschrockene Georgi Dimitroff zum Beispiel, der, unter Lebensgefahr, Göring getrotzt hatte. Es war so etwas wie Stolz und vielleicht auch Eitelkeit, dieser "Bewegung der Auserwählten" angehören zu wollen. Am Ende seiner Erklärungen bekennt Hobsbawm:

    Politisch gesehen - obwohl ich formell erst 1936 in die Kommunistische Partei eingetreten bin - gehöre ich zur Ära der antifaschistischen Einheits- und der Volksfront. Das bestimmt mein strategisches politisches Denken bis heute. Doch - und hier spreche ich als Autobiograph und nicht als Historiker - ich darf ein persönliches Gefühl nicht vergessen: Stolz. Wenn ich das Handikap meiner KP-Zugehörigkeit abgestreift hätte, wäre dies meiner Karriere zugute gekommen. Nicht zuletzt in den USA. Es wäre ein leichtes gewesen, sich in aller Stille zu verabschieden. Aber ich konnte mich vor mir selbst beweisen, wenn ich als bekannter Kommunist erfolgreich sein würde - was immer 'Erfolg’ bedeutete -, trotz dieses Handikaps und mitten im Kalten Krieg. Ich verteidige diese Form des Egoismus nicht, aber ich verleugne auch nicht ihre Macht. Also blieb ich.

    Stefan Berkholz über Eric Hobsbawm, "Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert", Hanser Verlag, München und Wien, 480 Seiten, 24,90 Euro.