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Eric Kandel: "Was ist der Mensch?"
Gehirne auf Abwegen

Abläufe im Gehirn verständlich erklären - das ist nicht leicht. Dem Nobelpreisträger Eric Kandel gelingt es in seinem neuen Buch kenntnisreich und mit einem Schmunzeln. Dabei geht er nicht reduktionistisch vor, sondern mit viel Sinn für Menschlichkeit und zeigt sich dabei als Meister seines Fachs.

Von Michael Lange | 26.10.2018
    Computer Illustration eines menschlichen Gehirns.
    Das Gehirn ist keine Maschine - Kandel zeigt auch das in seinem neuen Buch über Hirnforschung (imago / Roger Harris)
    Der 88-jährige Nobelpreisträger Eric Kandel stellt in seinem neuen Buch eine große Frage: "Was ist der Mensch?". Während er in seinen ersten beiden Büchern viel über sich und seine eigene Forschung schrieb, tritt er nun in den Hintergrund und bietet einen aktuellen Überblick über seine Fachgebiete: Die Psychologie und die Hirnforschung.
    "Über das Gehirn, seine Krankheiten und Störungen haben wir in den letzten hundert Jahren mehr gelernt als in der gesamten Menscheitsgeschichte zuvor."
    Wissensbruchstücke über unser Gehirn
    Mit naturwissenschaftlichen Methoden können Forscher viel über unser Gehirn erfahren, auch wenn sie es nie ganz verstehen werden. Für Eric Kandel sind die zahlreichen Fakten, die er kenntnisreich und gut verständlich präsentiert, aber nur Mittel zum Zweck. Er beschreibt das Gehirn, um die Menschen, zu denen es gehört, besser zu verstehen.
    "Je mehr wir über den ungewöhnlichen Geist wissen, desto eher sind wir als einzelne und als Gesellschaft in der Lage, Menschen zu verstehen, die anders denken als wir, und Mitgefühl mit ihnen zu haben. Entsprechend weniger werden wir sie stigmatisieren und ausgrenzen."
    Das klingt nach hohen Idealen und ist zugleich eine Lebensbilanz nach fast 70 Jahren Wissenschaft. Eric Kandel überzeugt diesmal nicht als Forscher, sondern als Lehrer, der all die kleinen Wissensbruchstücke über unser Gehirn zusammenträgt und mit einem Schmunzeln zu einem Menschenbild zusammenfügt. Ein Beispiel: Das Broca-Zentrum für die Sprachentwicklung und das Wernicke-Zentrum für das Sprachverständnis im Gehirn.
    Biologie - und persönliche Erfahrungen
    "Menschen, bei denen der Bogenstrang zwischen beiden Arealen geschädigt ist, können Sprache verstehen und ausdrücken, aber beide Funktionen arbeiten unabhängig voneinander. Es ist ein wenig, wie bei einer Pressekonferenz des Präsidenten: Information kommt herein, Information geht hinaus, aber zwischen beiden besteht keine logische Verbindung."
    Wer den amtierenden US-Präsidenten hört, weiß was Eric Kandel meint. Ähnlich plastisch und manchmal augenzwinkernd erklärt er Autismus, Schizophrenie, Depression und schließlich auch das Bewusstsein. Alles führt er auf das Gehirn zurück, aber nicht mechanistisch als einfache Kausalkette von Ursache und Wirkung. Bei ihm gehören Biologie und persönliche Erfahrungen stets zusammen. Um das Menschliche zu betonen, präsentiert er längere Abschnitte mit Zitaten: Von Fachleuten und Betroffenen.
    Kay Redfield Jamison ist beides. Die Wissenschaftlerin kämpft mit einer bipolaren Störung.
    "Man ist reizbar, wütend, verängstigt, unbeherrscht und in den dunkelsten Verliesen der Seele gefangen. In Verliesen, von deren Existenz man vorher nichts ahnte. Und das hört niemals auf, denn der Wahnsinn schafft sich seine eigene Realität."
    Eric Kandel schafft es, Abläufe im Gehirn verständlich zu beschreiben und so Verhalten zu erklären. Nicht reduktionistisch – das Gehirn ist keine Maschine - sondern mit viel Sinn für Menschlichkeit.
    Zielgruppe:
    Für alle, denen es nicht in erster Linie um Neuigkeiten aus der Hirnforschung geht, sondern um einen guten Überblick. Geschrieben von einem weisen Meister seines Fachs.
    Erkenntnisgewinn:
    Wenn aus Biologie Verhalten wird, nimmt das dem Menschen nichts von seiner Einzigartigkeit.
    Spaßfaktor:
    Einem guten Lehrer bei seinen Gedanken zu folgen, bereitet nicht nur Erkenntnis, sondern auch Vergnügen.
    Eric Kandel: "Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten."
    Übersetzung Sebastian Vogel
    Siedler-Verlag, 368 Seiten, 30 Euro