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Erika Mustermann 2010

Ab morgen ist er gültig und erhältlich. Der neue Personalausweis macht aus seinem Träger ein Bündel von Daten, die Person verschwindet dahinter. Er müsste also eher Menschendatenausweis heißen.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 31.10.2010
    Das Problem der Identität ist hochkomplex und zugleich kinderleicht. Das Einfache daran ist die überwältigende Klarheit der Empfindung: Bis auf wenige klinische Ausnahmefälle weiß eigentlich jeder, wer er ist. Der Mensch spürt seine Identität, ohne darüber nachdenken, ohne irgendwo nachlesen oder nachschlagen zu müssen. Er hält sich – im Normalfall – nicht für zwei oder drei verschiedene Individuen, und er hat ein Gefühl für seine eigene Kontinuität.

    Dieses kompakte Selbstbewusstsein wird aber von den Verhältnissen in der modernen Lebenswelt kräftig strapaziert. Denn unsere soziale Identität schmiegt sich ständig neuen Gegebenheiten an, auch die Masse unserer Körperzellen formt sich dauernd um, und das Geistig-Seelische ist sowieso immer im Fluss: heute hetero, morgen Migrant und übermorgen ein neues Herz und eine neue Niere: Wer will da schon sagen, wo das Individuum genau beginnt und wo es aufhört?

    Kein Wunder also, dass Fragen der Identität zu einer Art Nebengeräusch unserer Kultur geworden sind. Identitätssuche, Identitätsstiftung gehören zu den geläufigsten Vokabeln im Zusammenhang mit jedweder künstlerischen Aktivität. Diese latente philosophische Alarmstimmung hat mit der aktuellen Diskussion um den neuen Personalausweis durchaus zu tun, ja sie ist deren verborgener Treibstoff. Die zwiespältigen Gefühle, die man gegenüber einer elektronischen Identitätskarte hegen kann, kommen nicht zuletzt daher, dass wir proteische Persönlichkeiten gerne selber mal den Kernbestand unserer Identität erfassen würden, wenn das denn ginge.

    Es geht aber nicht, weil das moderne Ich zerborsten und zersplittert ist, weil wir, in den Worten Hugo von Hofmannsthals, "durch Nachdenken einen doppelten Menschen aus uns gemacht" haben. Genauso dient die ganze raffinierte Chiptechnologie des neuen Personalausweises nur der Simulation von Sicherheit, weil zwischen dem Datenträger und dem Individuum weiterhin eine Lücke klafft, solange der Chip nicht jedem Staatsbürger direkt implantiert wird.

    An dieser Lücke arbeitet die Staatsverwaltung seit ungefähr 150 Jahren. Es war ein britischer Kolonialbeamter in Indien, der hierfür die ersten Grundlagen schuf. William James Herschel sollte den Einheimischen Geld für geleistete Dienste auszahlen, bemerkte aber, dass sich manche Empfänger mehrfach an der Kasse anstellten. Um Verwechslungen auszuschließen, sammelte er die Fingerabdrücke der Leute und verglich sie mit denen, die er in einem Verzeichnis gesammelt hatte. Das war zugleich der Beginn der modernen Kriminalistik.

    Fast rührend mutet es an, dass auf dem Superpersonalausweis der Zukunft auch unsere Fingerabdrücke gespeichert werden können. Gewiss wird die Möglichkeit besserer Identifizierung im Internet eine Menge verwaltungstechnischer Vereinfachungen mit sich bringen. Ämter und Behörden schwelgen in Online-Bürgernähe, und natürlich bedeutet es einen gewissen Komfort, wenn man Wege spart. Doch so leicht, wie man Personalausweis und Passwort weitergeben kann, war es nie, eine Unterschrift zu fälschen.