Steinbach: Das liegt in der Geschichte unseres Landes begründet. Über Jahrzehnte hinweg war das Thema ‚Vertreibung’ ein doch mehr oder weniger stigmatisiertes Thema. Das war allerdings nach dem Kriege direkt anders. Da war also gemeinschaftlich von allen Parteien – ob links oder rechts oder Mitte – eine Solidarität vorhanden für die Menschen, die vertrieben worden sind. Dann verschärfte sich das Klima mit der Ostpolitik, die seitens der Bundesregierung in die Wege geleitet wurde, und damit geriet das Thema zwischen die Mahlsteine der politischen Diskussion und damit dann auch in das Fahrwasser, wo es dann auch als Instrument für oder gegen etwas benutzt werden konnte.
Müchler: Heute machen Sie Politik für Vertriebene – 50 Jahre nach der Vertreibung. Das wirkt ein bisschen antiquiert.
Steinbach: Das ist ganz aktuell. Also, es leben ja noch –zig Tausende von Menschen, die das persönlich erlebt haben. Ich selber bin ja auch ein Flüchtlingskind, ich kann mich allerdings nicht mehr an die Flucht und Vertreibung erinnern. Aber es gibt noch die Erlebnisgeneration, und für die ist es nach wie vor – für viele Menschen – ein traumatisches Erlebnis. Man merkt es an Gesprächen gerade auch mit älteren Frauen, wo ja Tausende mehrfach vergewaltigt wurden, zum Teil über Monate hinweg, dass da tiefe Verletzungen seelischer und körperlicher Art zurückgeblieben sind. Aber darüber hinaus ist das natürlich auch ein Thema, was die Nichtvertriebenen interessieren muss in Deutschland. Es ist ein einschneidender Teil deutscher Geschichte, denn Deutschland hat sich dramatisch verändert durch den Zuzug von so vielen entwurzelten Menschen, die ihre jeweils eigene kulturelle Kleinidentität – so will ich es mal bezeichnen – mitgebracht haben. Das haben sie hierher getragen; und in ein Land sind sie gekommen, wo die Städte zertrümmert waren und wo sie auch nicht mit großer Begeisterung aufgenommen worden sind. Vor diesem Hintergrund bin ich überzeugt davon: Es ist ein Anliegen nicht nur der Vertriebenen selbst, sondern es muss ein Anliegen auch der Nichtvertriebenen sein und auch der Regierung in Bund und in Ländern und auch in Gemeinden.
Müchler: Nun haben Sie vor wenigen Jahren – im Jahr 2000 – zusammen mit Peter Glotz eine Stiftung ins Leben gerufen, eine Stiftung ‚Zentrum gegen Vertreibungen’ – richtig zitiert? . . .
Steinbach: . . . der Plural ist wichtig, ja . . .
Müchler: . . . ja, dazu kommen wir gleich noch. Sie und Peter Glotz haben diese Stiftung ins Leben gerufen. Inzwischen macht gegen dieses Projekt nicht nur Tschechien Front, besonders heftig machen die Polen dagegen Front, aber auch Kanzler und Außenminister sind dagegen. Haben Sie mit so viel Gegenwind gerechnet?
Steinbach: Wir haben ja sehr frühzeitig – Peter Glotz und ich – die Botschaften unserer Nachbarländer über unser Vorhaben informiert, weil wir deutlich machen wollten: Dieses Projekt, diese Einrichtung, die wir in Berlin errichten wollen, soll kein Pranger sein, an den sich Regierungen und Länder gestellt fühlen müssen, sondern es soll eine Einrichtung sein, in der auf der einen Seite die Vertreibung der Deutschen sichtbar wird, auf der anderen Seite auch gezeigt wird, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Vertreibungen gewesen ist – von dem Genozid und der Vertreibung des armenischen Volkes zu Beginn des Jahrhunderts bis hin zur Vertreibung der Kosovo-Albaner, und heute umgekehrt das, was die Kosovo-Albaner den Serben in ihrem Land antun – zu zeigen, dass Vertreibung kein Mittel von Politik sein darf. Und vor diesem Hintergrund waren die ersten zwei Jahre in einem sehr ruhigen Fahrwasser. Die Botschaften haben weder positiv noch negativ reagiert, und bei den meisten Ländern ist es bis heute der Fall. Der dramatische Aufschrei, der aus polnischem Munde kommt heute, hat uns eigentlich schon sehr erstaunt. Und da glaube ich, ist eine gewisse deutsche Mitverantwortung auch nicht zu leugnen, denn das begann mit einem Vorschlag aus Deutschland, man könne doch so ein Zentrum nicht in Deutschland errichten, sondern man müsse das, wenn überhaupt, in Breslau errichten. Man muss sich allerdings vorstellen: Hätten wir bei der Schaffung der Stiftung seitens des Bundes der Vertriebenen von uns aus gesagt, wir möchten so etwas in Breslau haben, wäre das ja mit Sicherheit und auch mit Recht als purer Revanchismus ausgelegt worden – neue Landnahme auf die eine oder andere Weise. Ich glaube allerdings, dass wir einen so hervorragenden Ansatz gefunden haben, das macht ja auch die Zahl unserer Mitstreiter deutlich – von Joachim Gauck über Ralph Giordano und Graf Lambsdorff, viele Intellektuelle, Helga Hirsch –, die mitmachen, Professor Lothar Gall oder Arnulf Baring, György Konrád, auch einer der großen ungarischen Männer, die selbst unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. All das macht deutlich, dass wir einen guten Ansatz haben.
Müchler: Aber vielleicht ist es eben doch nicht gelungen, für alle klar genug zu machen, worum es geht. Also, es geistert ja die Vorstellung auch durch die Lande, hier handle es sich um eine Denkmalsidee. Dann – wir sind eben darauf zu sprechen gekommen – ist es offenbar schwer, deutlich zu machen, dass hier wirklich der Plural auch gemeint ist, dass es nicht nur gehen soll um die 14, 15 Millionen vertriebener Deutscher nach dem zweiten Weltkrieg, sondern dass hier der Versuch gemacht werden soll – wenn ich Sie richtig verstehe –, Vertreibung als ein europäisches Gesamtphänomen aufzugreifen, als ein Schicksal des europäischen 20. Jahrhunderts.
Steinbach: Das ist aus unserer Konzeption aber auch ganz deutlich zu entnehmen. Und diejenigen, die etwas Gegenteiliges behaupten, tun das auch wider besseres Wissen. Es sind ja keine Dummköpfe, die sich da artikulieren, sondern es sind ja zum Teil hochintelligente Menschen, die aber ganz bewusst ausblenden, wie der Ansatz unserer Stiftung ist. Und das halte ich schon für hochgradig unredlich, und vor diesem Hintergrund muss man sehen: Da steckt Kalkül dahinter und nicht die ehrliche Absicht, sich mit einer Thematik auseinander zu setzen. Was natürlich sehr erfreulich ist: Die Stiftung hat dazu beigetragen, dass das Thema ‚Vertreibung’ heute europaweit diskutiert wird, dass man jetzt überlegt, machen wir ein Netzwerk gegen Vertreibung – ein europäisches Netzwerk –, wo Glotz und ich dann sagen: ‚Wunderbar, da machen wir auch mit, es ist eine gute Sache, wenn in allen Ländern so etwas entsteht’. Insofern haben wir schon eine Menge damit erreicht, dass man über die Thematik diskutiert und einen wesentlichen Teil unseres Ansatzes sogar aufnimmt in die andere Konzeption, hier nämlich zu sagen: ‚Ja, Vertreibungen im 20. Jahrhundert wollen wir zeigen’. Das verdankt man unserem Ansatz, weil wir es drin enthalten haben. Man braucht nur unsere Internet-Seiten anzuklicken. Da können Sie sehen die mehr als 30 vertriebenen Völker Europas, die davon betroffen waren. Sie können das Schicksal der Deutschen entnehmen mit all ihren Facetten, die ja nicht nur aus dem früheren Ostdeutschland kommen, sondern aus ganz Mittel-, Ost- und Südost-Europa. Es ist also ein wirklich weites Feld, um es mit Günter Grass zu sagen.
Müchler: Und trotzdem, Sie haben eben darauf hingewiesen, dass die Reaktion, die heftige Reaktion in Polen sehr spät kam, Sie aber in ihrer Heftigkeit dann auch überrascht hat. Und tatsächlich ist es doch so, dass der Widerstand, der sich in Polen regt, von links bis rechts geht, Politik aber auch Intellektuelle gleichermaßen erfasst hat, ob das Bartoszewski ist, Geremek, Kolakowski. Alle werfen der Stiftung vor, dass es darum gehe – wie Bartoszewski gesagt hat –, die deutschen Verbrechen zu relativieren. Dass dies in Berlin stattfinden solle, wird für besonders schädlich gehalten. Wie ist das zu erklären – diese umfassende Kritik, die es in Polen an der Idee der Stiftung gibt?
Steinbach: Ich war ja in Warschau, einfach um auf eine ganz ruhige Art und Weise die Stiftung zu erläutern und hatte auch die Gelegenheit, dass in aller Ruhe zu tun. Da gab es unterschiedliche Verhaltensmuster. Die einen sagten: ‚Ja, wir hören das, wir haben es auch gelesen, aber wir glauben es nicht’. Die anderen ignorieren das schlicht und ergreifend und sagen, ohne auf das Rücksicht zu nehmen, was wir wollen, die sagen einfach: ‚Die Geschichte wird auf den Kopf gestellt’. Mir scheint ein wenig, dass auf der einen Seite in Polen die Sorge vorherrscht – das wurde auch artikuliert, wurde wirklich nachdrücklich gesagt –: ‚Dann gibt es nur noch den Holocaust an den Juden, über den gesprochen wird, und die Leiden der Deutschen. Und was ist mit den Leiden der Polen? Das fällt unter den Tisch’. Aber gerade dann müsste man begeistert für unsere Stiftung sein, weil ja nur mit unserer Stiftung zum Beispiel eine deutsche Schulklasse in Berlin die Möglichkeit hätte, zu sehen, dass es auch vertriebene Ostpolen gegeben hat oder vertriebene Polen, die von Hitler aus ihren Siedlungsgebieten in westlichen polnischen Bereichen deportiert worden sind nach Zentralpolen. Es macht eigentlich keinen Sinn. Es mag mit dahinter stecken, dass es für Polen schwer begreifbar ist, die ja über Jahrzehnte etwas anderes gehört haben. Sie haben sich als ein lupenreines Opfervolk gesehen. Das wurde schon einmal durchbrochen durch die Jedwabne-Diskussion wegen der ermordeten Juden in Jedwabne. Jetzt liegt vielleicht eine latente Furcht darin, dass man glaubt, jetzt werden wir schon wieder als diejenigen hingestellt, die nicht nur Opfer waren, sondern die auch in einem anderen Falle Täter gewesen sind. Das mag alles eine Rolle spielen, nur: Ähnliche intensive Diskussionen gibt es in keinem anderen europäischen Nachbarland.
Müchler: Nun könnte man sagen: Das ist traurig, was da in Polen geschieht, es ist schade, dass man sich nicht verständlich machen kann, wie man das möchte. Aber jede Idee hat ihre Zeit, vielleicht kommt diese Idee zu früh. Also, warum die Idee nicht fallen lassen?
Steinbach: Ich glaube, es ist eigentlich noch nicht einmal traurig, dass solche Reaktionen erfolgen, sondern sie machen deutlich, dass es dort massive Ängste gibt. Und ich glaube, es ist wichtig, dass sich solche Ängste dann auch artikulieren, dass wir nicht in dem Irrglauben sind, es sei alles zum Besten bestellt, dass alles aufgearbeitet ist. Dahinter stecken ja traumatische Erlebnisse, so wie sie hier in Deutschland bei vielen vorhanden sind, bei den Vertriebenen, die ihre Traumata auch zum Teil schwer überwinden können. So ist das in Polen natürlich auch der Fall. Letzten Endes ist es wahrscheinlich ein heilsamer Prozess. Und Glotz und ich sind der Auffassung, dass es kein Lösungsweg wäre für das Miteinander unserer Völker, diese Stiftung aufzugeben. Damit würde man nichts verbessern, sondern man würde ein Thema verschieben – erst mal im Moment den Deckel auf den Topf tun, aber irgendwann wird der Topf trotzdem explodieren, wenn man nicht die Dinge aufarbeitet, die noch nicht richtig ausgesprochen sind. Und da halte ich es denn doch mit dem polnischen Intellektuellen Jan Josef Lipski, der sehr früh mal gesagt hat, bezogen auf Polen und Deutsche: ‚Wir müssen uns alles sagen’. Ich glaube, Wahrhaftigkeit ist notwendig.
Müchler: Also, Sie halten fest an der Stiftung, an dem Zentrum, und auch an dem Standort – an Berlin, kategorisch?
Steinbach: Der Standort Berlin ist einfach der richtige Standort, weil da ein so gravierender Einschnitt für uns Deutsche gewesen ist und letzten Endes das Kumulieren deutscher Geschichte in Berlin stattfindet, gehört es auch hierher.
Müchler: Nun könnte man sagen, und auch das ist eingewendet worden, Berlin steht symbolhaft für Germanisierungspolitik, in Berlin hat es die Wannsee-Konferenz gegeben, also die Vernichtung des europäischen Judentums ist dort beschlossen worden. Also, warum um Gotteswillen, Berlin?
Steinbach: Dann hätte man, wenn man das wirklich so ernsthaft bewerten wollte und das für eine tragfähige Argumentation halten würde, dann hätte Berlin niemals deutsche Hauptstadt werden dürfen. Aber jetzt ist es die deutsche Hauptstadt, und da gehören nun alle Facetten deutscher Geschichte in diese Hauptstadt hinein. Davon sind wir nun fest überzeugt.
Müchler: Sie haben zu recht darauf hingewiesen – Regierung und Parlament sind ja schon vor etlichen Jahren nach Berlin gezogen. Muss man aus der Diskussion, über die wir jetzt gesprochen haben, nicht rückschließen, dass der Firnes doch noch sehr dünn ist?
Steinbach: Das ist deutlich geworden. Das ist wirklich deutlich geworden, und insofern ist auch die Stiftung ein Stück auf dem Weg zum Heilungsprozess eines der Elemente, die notwendig gewesen sind. Bislang hat man das Thema ‚Vertreibung der Deutschen’ und andere Vertreibung – die europäische Dimension – überhaupt nicht betrachtet, und Vertreibung der Deutschen von Heimatstuben bis zu landsmannschaftlichen Museen und Einrichtungen, aber es gab nichts, wo man sich über den Gesamtkomplex informieren konnte. Aber wir haben, glaube ich, damit etwas geschaffen, was uns und unseren Nachbarvölkern auf Dauer wirklich hilfreich sein wird, mit uns ins Reine zu kommen. Und wenn man sich gegenseitig seine Ängste erzählt, manchmal vielleicht auch etwas zu aggressiv – ich nehme das unseren polnischen Nachbarn nicht übel, dass sie aggressiv sind, ich bin nur am Anfang sehr erstaunt gewesen, weil ich das nicht erwartet habe, denn ich habe Polen immer sehr verteidigt im Verhältnis zum Beispiel mancher Reaktion der Tschechischen Republik, weil ich sagte, da gibt es vieles an Diskussionspartnern, an Gesprächspartnern, auch ein offeneres Klima. Und ich weiß ja doch von meinen Landsmannschaften: Da gibt es unendlich viele freundschaftliche Kontakte von Mensch zu Mensch, von den vertriebenen Deutschen zu den Menschen, die heute in den Häusern leben, wo die Vertriebenen hergekommen sind. Da gibt es Patenschaften dieser Städte, aus denen sie kamen, mit den Heimatkreisgemschaften hier in Deutschland, so dass am Fundament von Mensch zu Mensch ja so vieles schon auf einem guten Wege ist. An der politischen Spitze scheint es mir manchmal sogar fast schwieriger zu sein, obwohl da die Verantwortung für den gemeinsamen Weg liegt.
Müchler: Aber es gibt ja auch Probleme. Es gibt Vorgänge, die verständlicherweise Besorgnisse und Unruhe, etwa in Polen, auslösen könnten. Ich denke da zum Beispiel an die sogenannte ‚Preußische Treuhand’, die in institutionalisierter Form Restitutionsansprüche erhebt.
Steinbach: Der Bund der Vertriebenen, das Präsidium, hat sich schon vor Weihnachten von diesem Weg distanziert. Das ist nicht der Weg meines Verbandes, das ist auch ein einstimmiger Beschluss unseres Präsidiums gewesen – unabhängig davon, dass alle Bundesregierungen bis hin zu der jetzigen Bundesregierung immer wieder deutlich machen, dass die Vermögensfrage nach wie vor ungelöst und offen ist. Und die Ängste in Polen und auch in der Tschechischen Republik kann ich nachvollziehen, weil einfach diese Länder auch nicht dafür gesorgt haben, dass es europäisch tragbare Lösungen gibt. Ungarn hat das geschafft. Die haben schon 1992 ein Restitutionsgesetz auf den Weg gebracht, was Bestand haben wird vor allen europäischen Gerichten. Es war eine symbolische Lösung, aber erstens die von dort vertriebenen Deutsch-Ungarn haben gesagt, da ist der gute Wille erkennbar, und zum Zweiten: Der materielle Teil war wirklich marginal. Aber das spielt für die meisten Vertriebenen nicht die Rolle, sondern das Gefühl, dass die andere Seite sagt: Es war verkehrt. Und das sehen wir heute, dass es verkehrt gewesen ist, und wir tun das im Rahmen unserer Möglichkeiten. Dass diese Möglichkeiten nicht üppig sind überall in den Ländern östlich unserer Grenzen, wo ja doch der Lebensstandart und die materiellen Möglichkeiten nicht sehr umfangreich sind, das kann man nachempfinden. Aber es geht den meisten Vertriebenen auch nicht ums Geld.
Müchler: Das Thema Flucht und Vertreibung war in der Bundesrepublik über Jahrzehnte tabuisiert. Jedenfalls gab es eine weit verbreitete Scheu, sich mit dem Thema zu befassen, was dazu geführt hat, dass das Schicksal privatisiert wurde, dass es keine Öffentlichkeit für Vertriebene in dem Sinne gegeben hat. Dann kam das Grass-Buch über den Untergang der Wilhelm-Gustloff, es kam die Hoffnung auf Versachlichung, jetzt Widerstand, Entrüstung, mangelhafte Unterstützung. Was erwarten Sie von der Bundesregierung? Es muss ja jemand auch in Amt und Würden Ihnen helfen.
Steinbach: Im Grunde genommen erwarte ich das, was Bundeskanzler Schröder mir bei unserem ersten Gespräch zu dem Thema gesagt hatte, dass er dieser Frage offen gegenüber steht. Otto Schily ist einer unserer Verbündeten, der hat sich sehr frühzeitig für diese Stiftung ausgesprochen – mehrfach öffentlich auch, im vorigen Jahr gerade anlässlich des Jubiläums ‚50 Jahre Bundesvertriebenengesetz’. Aber diese Bundesregierung hat auch eine Verpflichtung, diesen Teil deutscher Geschichte fürsorglich zu begleiten und nicht einfach zu sagen: ‚Ja, also damit wecken wir Ängste in Polen’. Ich glaube außerdem, dass man keinen guten Weg geht, wenn man unseren Nachbarn – unseren polnischen Nachbarn – nicht deutlich macht: Was nützt Euch ein Deutschland, das unfähig ist, über seine eigenen Opfer zu trauern. Glaubt man denn wirklich, dass ein Land, das nicht über seine eigenen Opfer trauern kann – so wie eine Familie, die nicht über den Tod der eigenen Großmutter trauern kann –, dass das ehrlich Anteil nimmt dann am Schicksal der Opfer Polens? Ein kaltes Herz bleibt immer kalt. Wenn man über eigene Opfer nicht trauern kann, kann man über andere Opfer erst recht nicht trauern.
Müchler: Gesine Schwan, Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, gehört auch zu denen, die Front gegen das Zentrum gemacht haben und Sie ganz persönlich sehr scharf attackiert hat. Ich zitiere einmal: Frau Schwan hält Sie für unfähig, das Vertreibungsschicksal in den Kontext des zweiten Weltkrieges zu stellen, was eigentlich auf deutsch heißt: Sie leugnen, dass der Nationalsozialismus, dass der zweite Weltkrieg – der Hitler-Krieg – die Prima Causa der Vertreibung der Deutschen gewesen sei. Was sagen Sie dazu, das ist ja starker Tobak?
Steinbach: Das ist eine Unverschämtheit, eine andere Vokabel dafür gibt es nicht, denn Frau Schwan kennt unsere Konzeption. Und Frau Schwan weiß genau, wie unser Ansatz ist. Darüber hinaus muss man eines auch sehen – da sie mich nun persönlich sehr intensiv attackiert hat –: Einer meiner Großonkel ist der Euthanasie zum Opfer gefallen, die ersten Opfer Hitlers in Deutschland waren zunächst einmal die Behinderten, die umgebracht worden sind – schlicht und ergreifend als menschenunwürdig, als lebensunwertes Leben. Und wenn man sich die Vertreibungshistorie betrachtet: Der andere Bundespräsidentenkandidat kommt ja aus Bessarabien – dessen Familie. Die Bessarabien-Deutschen und die Deutsch-Balten sind Opfer von Hitler und Stalin geworden, sie waren also in einer Zeit schon Opfer, wo also nicht einmal das Vertreibungsgeschehen durch Polen und durch Tschechien begonnen hatte. Die Vertriebenen haben Hitler nichts zu verdanken, im Gegenteil. Wir wissen, dass ohne den zweiten Weltkrieg die Vertreibung, selbst die latenten Vertreibungswünsche, die natürlich vorhanden waren – im tschechischen Bereich gab es da Ansätze, es gab auch im polnischen Bereich Ideen von einem Polen bis an die Elbe – noch nach 1918 direkt. Aber das hätte sich alles nicht umsetzten lassen ohne Hitler. Und die Vertriebenen, die ersten deutschen Heimatvertriebenen, das waren dann auch noch unsere jüdischen Mitbürger, die Deutschland verlassen haben aus Angst – erst die Stigmatisierung, was wird uns noch alles widerfahren. Und dann waren es eben die Deutsch-Balten und die Bessarabien-Deutschen, die ihre Heimat verloren haben durch Hitler, durch Stalin - die Südtiroler zum Beispiel, die auch durch Hitler und Mussolini komplett ausgesiedelt werden sollten. Das heißt, diese Verzahnung – wir wissen sehr wohl, was das bedeutet, und Frau Schwan weiß es auch, dass wir es wissen.
Müchler: Peter Glotz hat einmal gesagt, das Zentrum solle den Chauvinismus, Nationalismus analysieren und ihn bekämpfen, das sei eine ganz wichtige Aufgabe dieses Zentrums. Sie sehen es auch so?
Steinbach: Ja, wir haben ja schon in unserer Konzeption deutlich gemacht, dass letzten Endes die Wurzeln für das, was im 20. Jahrhundert an Vertreibungen und – in Anführungszeichen – ‚ethnischen Säuberungen’, eigentlich eine makabere Formulierung, von ‚Säuberung’ zu sprechen, geschehen ist, ja seine Urgründe im 19. Jahrhundert gehabt hat – mit dem Aufkommen des Nationalismus, wo man dann in völkisch reinen Kategorien gedacht hat und versucht hat, sich aller missliebigen Menschengruppen davon zu befreien in den jeweiligen Nationalstaaten. Da liegt die Ursache. Und er hat es ja auch sehr schön in seinem Buch über die Geschichte der Deutschen und der Tschechen – der Sudetendeutschen – dargelegt, wie verzahnt und wie verschachtelt und wie ausgewuchert dieses Thema dann im 20. Jahrhundert ist, in die schrecklichsten Facetten hinein.
Müchler: Und gleichzeitig war das, was wir inzwischen ‚ethnische Säuberungen’ nennen, über viele Jahrzehnte ein anerkanntes Mittel der Politik, ein Mittel der Konfliktbewältigung vom Frieden von Lausanne 1923 im Grunde bis Bosnien-Herzegowina.
Steinbach: Richtig, aber man hat einfach Menschen benutzt, vielleicht sogar teilweise in gutem Willen - die Völkerumschichtungen Griechen und Türken -, vom Völkerbund abgesegnet. Man dachte, man befriedet damit die Dinge. Aber da Menschen ja nun sehr beweglich sind und immer wieder anders hin sich bewegen – wir sehen ja auch, in Deutschland haben wir eine starke Gruppe von Türken im Lande leben, wir haben starke andere ethnische Gruppen inzwischen hier leben. Wenn man in diesen ethnisch reinen Kategorien denkt und glaubt, man könne nur befriedet leben in einem Land, wo es nur eine Sorte Menschen gibt, dann müssen ja ständig wieder Vertreibungen geschehen oder man müsste alle Wanderungen schlicht unterbinden.
Müchler: Frau Steinbach, Sie sind Präsidentin des Bundes der Vertriebenen seit – ich glaube – fünf Jahren. Sie führen den Verband anders, der Verband ist unter Ihnen ein anderer, als er mal war. Es hat mal einen Kongress gegeben mit einem sehr umstrittenen Motto – ‚Schlesien ist unser’. Wäre es nicht, um zum Kontext unseres Gespräches wieder zurückzukommen, vielleicht hilfreich, wenn es aus Ihrem Munde ein distanzierendes Wort dazu, zu diesem seinerzeitigen Kongress, gäbe?
Steinbach: Man muss natürlich die politischen Rahmenbedingungen sehen. Es gab ein Schlesiertreffen Mitte der 60er Jahre, da wurde den Schlesiern ein Grußtelegramm geschickt von den Sozialdemokraten, unterschrieben von Willy Brandt und Herbert Wehner. Das enthielt den Satz – bezogen auf die deutschen Ostgebiete: ‚Verzicht ist Verrat’. In diesem Zusammenhang, in diesem Kontext standen auch die landsmannschaftlichen Treffen. Es war eine monochrome Geisteshaltung in Deutschland, es war nicht nur Verbandspolitik, es war Politik der Sozialdemokraten, Politik der Christdemokraten, Politik der Freien Demokraten. Und letzten Endes basierte das auch auf dem, was ja das Verfassungsgericht bestätigt hatte und was ja erst mit dem Grenzbestätigungsvertrag mit Polen dann geändert wurde – parlamentarisch geändert wurde –, dass die Grenzen natürlich anders gesehen wurden als wir sie heute betrachten. Also, man darf die Dinge nicht aus der heutigen Perspektive betrachten, sondern man muss sie in der Zeit sehen. In dieser Zeit was es politisch noch unumstritten, dass man sagte: Die deutschen Ostgrenzen sind natürlich die, wo auch die deutschen Ostgebiete hineingehörten. Heute ist die Grenzfrage keine Frage mehr. Die ist für meinen Verband keine Frage, die ist parlamentarisch abgesegnet, das ist in unserer Demokratie auch so gewollt. Und vor diesem Hintergrund ist die Grenzfrage für uns keine Frage mehr.
Müchler: Heute machen Sie Politik für Vertriebene – 50 Jahre nach der Vertreibung. Das wirkt ein bisschen antiquiert.
Steinbach: Das ist ganz aktuell. Also, es leben ja noch –zig Tausende von Menschen, die das persönlich erlebt haben. Ich selber bin ja auch ein Flüchtlingskind, ich kann mich allerdings nicht mehr an die Flucht und Vertreibung erinnern. Aber es gibt noch die Erlebnisgeneration, und für die ist es nach wie vor – für viele Menschen – ein traumatisches Erlebnis. Man merkt es an Gesprächen gerade auch mit älteren Frauen, wo ja Tausende mehrfach vergewaltigt wurden, zum Teil über Monate hinweg, dass da tiefe Verletzungen seelischer und körperlicher Art zurückgeblieben sind. Aber darüber hinaus ist das natürlich auch ein Thema, was die Nichtvertriebenen interessieren muss in Deutschland. Es ist ein einschneidender Teil deutscher Geschichte, denn Deutschland hat sich dramatisch verändert durch den Zuzug von so vielen entwurzelten Menschen, die ihre jeweils eigene kulturelle Kleinidentität – so will ich es mal bezeichnen – mitgebracht haben. Das haben sie hierher getragen; und in ein Land sind sie gekommen, wo die Städte zertrümmert waren und wo sie auch nicht mit großer Begeisterung aufgenommen worden sind. Vor diesem Hintergrund bin ich überzeugt davon: Es ist ein Anliegen nicht nur der Vertriebenen selbst, sondern es muss ein Anliegen auch der Nichtvertriebenen sein und auch der Regierung in Bund und in Ländern und auch in Gemeinden.
Müchler: Nun haben Sie vor wenigen Jahren – im Jahr 2000 – zusammen mit Peter Glotz eine Stiftung ins Leben gerufen, eine Stiftung ‚Zentrum gegen Vertreibungen’ – richtig zitiert? . . .
Steinbach: . . . der Plural ist wichtig, ja . . .
Müchler: . . . ja, dazu kommen wir gleich noch. Sie und Peter Glotz haben diese Stiftung ins Leben gerufen. Inzwischen macht gegen dieses Projekt nicht nur Tschechien Front, besonders heftig machen die Polen dagegen Front, aber auch Kanzler und Außenminister sind dagegen. Haben Sie mit so viel Gegenwind gerechnet?
Steinbach: Wir haben ja sehr frühzeitig – Peter Glotz und ich – die Botschaften unserer Nachbarländer über unser Vorhaben informiert, weil wir deutlich machen wollten: Dieses Projekt, diese Einrichtung, die wir in Berlin errichten wollen, soll kein Pranger sein, an den sich Regierungen und Länder gestellt fühlen müssen, sondern es soll eine Einrichtung sein, in der auf der einen Seite die Vertreibung der Deutschen sichtbar wird, auf der anderen Seite auch gezeigt wird, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Vertreibungen gewesen ist – von dem Genozid und der Vertreibung des armenischen Volkes zu Beginn des Jahrhunderts bis hin zur Vertreibung der Kosovo-Albaner, und heute umgekehrt das, was die Kosovo-Albaner den Serben in ihrem Land antun – zu zeigen, dass Vertreibung kein Mittel von Politik sein darf. Und vor diesem Hintergrund waren die ersten zwei Jahre in einem sehr ruhigen Fahrwasser. Die Botschaften haben weder positiv noch negativ reagiert, und bei den meisten Ländern ist es bis heute der Fall. Der dramatische Aufschrei, der aus polnischem Munde kommt heute, hat uns eigentlich schon sehr erstaunt. Und da glaube ich, ist eine gewisse deutsche Mitverantwortung auch nicht zu leugnen, denn das begann mit einem Vorschlag aus Deutschland, man könne doch so ein Zentrum nicht in Deutschland errichten, sondern man müsse das, wenn überhaupt, in Breslau errichten. Man muss sich allerdings vorstellen: Hätten wir bei der Schaffung der Stiftung seitens des Bundes der Vertriebenen von uns aus gesagt, wir möchten so etwas in Breslau haben, wäre das ja mit Sicherheit und auch mit Recht als purer Revanchismus ausgelegt worden – neue Landnahme auf die eine oder andere Weise. Ich glaube allerdings, dass wir einen so hervorragenden Ansatz gefunden haben, das macht ja auch die Zahl unserer Mitstreiter deutlich – von Joachim Gauck über Ralph Giordano und Graf Lambsdorff, viele Intellektuelle, Helga Hirsch –, die mitmachen, Professor Lothar Gall oder Arnulf Baring, György Konrád, auch einer der großen ungarischen Männer, die selbst unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. All das macht deutlich, dass wir einen guten Ansatz haben.
Müchler: Aber vielleicht ist es eben doch nicht gelungen, für alle klar genug zu machen, worum es geht. Also, es geistert ja die Vorstellung auch durch die Lande, hier handle es sich um eine Denkmalsidee. Dann – wir sind eben darauf zu sprechen gekommen – ist es offenbar schwer, deutlich zu machen, dass hier wirklich der Plural auch gemeint ist, dass es nicht nur gehen soll um die 14, 15 Millionen vertriebener Deutscher nach dem zweiten Weltkrieg, sondern dass hier der Versuch gemacht werden soll – wenn ich Sie richtig verstehe –, Vertreibung als ein europäisches Gesamtphänomen aufzugreifen, als ein Schicksal des europäischen 20. Jahrhunderts.
Steinbach: Das ist aus unserer Konzeption aber auch ganz deutlich zu entnehmen. Und diejenigen, die etwas Gegenteiliges behaupten, tun das auch wider besseres Wissen. Es sind ja keine Dummköpfe, die sich da artikulieren, sondern es sind ja zum Teil hochintelligente Menschen, die aber ganz bewusst ausblenden, wie der Ansatz unserer Stiftung ist. Und das halte ich schon für hochgradig unredlich, und vor diesem Hintergrund muss man sehen: Da steckt Kalkül dahinter und nicht die ehrliche Absicht, sich mit einer Thematik auseinander zu setzen. Was natürlich sehr erfreulich ist: Die Stiftung hat dazu beigetragen, dass das Thema ‚Vertreibung’ heute europaweit diskutiert wird, dass man jetzt überlegt, machen wir ein Netzwerk gegen Vertreibung – ein europäisches Netzwerk –, wo Glotz und ich dann sagen: ‚Wunderbar, da machen wir auch mit, es ist eine gute Sache, wenn in allen Ländern so etwas entsteht’. Insofern haben wir schon eine Menge damit erreicht, dass man über die Thematik diskutiert und einen wesentlichen Teil unseres Ansatzes sogar aufnimmt in die andere Konzeption, hier nämlich zu sagen: ‚Ja, Vertreibungen im 20. Jahrhundert wollen wir zeigen’. Das verdankt man unserem Ansatz, weil wir es drin enthalten haben. Man braucht nur unsere Internet-Seiten anzuklicken. Da können Sie sehen die mehr als 30 vertriebenen Völker Europas, die davon betroffen waren. Sie können das Schicksal der Deutschen entnehmen mit all ihren Facetten, die ja nicht nur aus dem früheren Ostdeutschland kommen, sondern aus ganz Mittel-, Ost- und Südost-Europa. Es ist also ein wirklich weites Feld, um es mit Günter Grass zu sagen.
Müchler: Und trotzdem, Sie haben eben darauf hingewiesen, dass die Reaktion, die heftige Reaktion in Polen sehr spät kam, Sie aber in ihrer Heftigkeit dann auch überrascht hat. Und tatsächlich ist es doch so, dass der Widerstand, der sich in Polen regt, von links bis rechts geht, Politik aber auch Intellektuelle gleichermaßen erfasst hat, ob das Bartoszewski ist, Geremek, Kolakowski. Alle werfen der Stiftung vor, dass es darum gehe – wie Bartoszewski gesagt hat –, die deutschen Verbrechen zu relativieren. Dass dies in Berlin stattfinden solle, wird für besonders schädlich gehalten. Wie ist das zu erklären – diese umfassende Kritik, die es in Polen an der Idee der Stiftung gibt?
Steinbach: Ich war ja in Warschau, einfach um auf eine ganz ruhige Art und Weise die Stiftung zu erläutern und hatte auch die Gelegenheit, dass in aller Ruhe zu tun. Da gab es unterschiedliche Verhaltensmuster. Die einen sagten: ‚Ja, wir hören das, wir haben es auch gelesen, aber wir glauben es nicht’. Die anderen ignorieren das schlicht und ergreifend und sagen, ohne auf das Rücksicht zu nehmen, was wir wollen, die sagen einfach: ‚Die Geschichte wird auf den Kopf gestellt’. Mir scheint ein wenig, dass auf der einen Seite in Polen die Sorge vorherrscht – das wurde auch artikuliert, wurde wirklich nachdrücklich gesagt –: ‚Dann gibt es nur noch den Holocaust an den Juden, über den gesprochen wird, und die Leiden der Deutschen. Und was ist mit den Leiden der Polen? Das fällt unter den Tisch’. Aber gerade dann müsste man begeistert für unsere Stiftung sein, weil ja nur mit unserer Stiftung zum Beispiel eine deutsche Schulklasse in Berlin die Möglichkeit hätte, zu sehen, dass es auch vertriebene Ostpolen gegeben hat oder vertriebene Polen, die von Hitler aus ihren Siedlungsgebieten in westlichen polnischen Bereichen deportiert worden sind nach Zentralpolen. Es macht eigentlich keinen Sinn. Es mag mit dahinter stecken, dass es für Polen schwer begreifbar ist, die ja über Jahrzehnte etwas anderes gehört haben. Sie haben sich als ein lupenreines Opfervolk gesehen. Das wurde schon einmal durchbrochen durch die Jedwabne-Diskussion wegen der ermordeten Juden in Jedwabne. Jetzt liegt vielleicht eine latente Furcht darin, dass man glaubt, jetzt werden wir schon wieder als diejenigen hingestellt, die nicht nur Opfer waren, sondern die auch in einem anderen Falle Täter gewesen sind. Das mag alles eine Rolle spielen, nur: Ähnliche intensive Diskussionen gibt es in keinem anderen europäischen Nachbarland.
Müchler: Nun könnte man sagen: Das ist traurig, was da in Polen geschieht, es ist schade, dass man sich nicht verständlich machen kann, wie man das möchte. Aber jede Idee hat ihre Zeit, vielleicht kommt diese Idee zu früh. Also, warum die Idee nicht fallen lassen?
Steinbach: Ich glaube, es ist eigentlich noch nicht einmal traurig, dass solche Reaktionen erfolgen, sondern sie machen deutlich, dass es dort massive Ängste gibt. Und ich glaube, es ist wichtig, dass sich solche Ängste dann auch artikulieren, dass wir nicht in dem Irrglauben sind, es sei alles zum Besten bestellt, dass alles aufgearbeitet ist. Dahinter stecken ja traumatische Erlebnisse, so wie sie hier in Deutschland bei vielen vorhanden sind, bei den Vertriebenen, die ihre Traumata auch zum Teil schwer überwinden können. So ist das in Polen natürlich auch der Fall. Letzten Endes ist es wahrscheinlich ein heilsamer Prozess. Und Glotz und ich sind der Auffassung, dass es kein Lösungsweg wäre für das Miteinander unserer Völker, diese Stiftung aufzugeben. Damit würde man nichts verbessern, sondern man würde ein Thema verschieben – erst mal im Moment den Deckel auf den Topf tun, aber irgendwann wird der Topf trotzdem explodieren, wenn man nicht die Dinge aufarbeitet, die noch nicht richtig ausgesprochen sind. Und da halte ich es denn doch mit dem polnischen Intellektuellen Jan Josef Lipski, der sehr früh mal gesagt hat, bezogen auf Polen und Deutsche: ‚Wir müssen uns alles sagen’. Ich glaube, Wahrhaftigkeit ist notwendig.
Müchler: Also, Sie halten fest an der Stiftung, an dem Zentrum, und auch an dem Standort – an Berlin, kategorisch?
Steinbach: Der Standort Berlin ist einfach der richtige Standort, weil da ein so gravierender Einschnitt für uns Deutsche gewesen ist und letzten Endes das Kumulieren deutscher Geschichte in Berlin stattfindet, gehört es auch hierher.
Müchler: Nun könnte man sagen, und auch das ist eingewendet worden, Berlin steht symbolhaft für Germanisierungspolitik, in Berlin hat es die Wannsee-Konferenz gegeben, also die Vernichtung des europäischen Judentums ist dort beschlossen worden. Also, warum um Gotteswillen, Berlin?
Steinbach: Dann hätte man, wenn man das wirklich so ernsthaft bewerten wollte und das für eine tragfähige Argumentation halten würde, dann hätte Berlin niemals deutsche Hauptstadt werden dürfen. Aber jetzt ist es die deutsche Hauptstadt, und da gehören nun alle Facetten deutscher Geschichte in diese Hauptstadt hinein. Davon sind wir nun fest überzeugt.
Müchler: Sie haben zu recht darauf hingewiesen – Regierung und Parlament sind ja schon vor etlichen Jahren nach Berlin gezogen. Muss man aus der Diskussion, über die wir jetzt gesprochen haben, nicht rückschließen, dass der Firnes doch noch sehr dünn ist?
Steinbach: Das ist deutlich geworden. Das ist wirklich deutlich geworden, und insofern ist auch die Stiftung ein Stück auf dem Weg zum Heilungsprozess eines der Elemente, die notwendig gewesen sind. Bislang hat man das Thema ‚Vertreibung der Deutschen’ und andere Vertreibung – die europäische Dimension – überhaupt nicht betrachtet, und Vertreibung der Deutschen von Heimatstuben bis zu landsmannschaftlichen Museen und Einrichtungen, aber es gab nichts, wo man sich über den Gesamtkomplex informieren konnte. Aber wir haben, glaube ich, damit etwas geschaffen, was uns und unseren Nachbarvölkern auf Dauer wirklich hilfreich sein wird, mit uns ins Reine zu kommen. Und wenn man sich gegenseitig seine Ängste erzählt, manchmal vielleicht auch etwas zu aggressiv – ich nehme das unseren polnischen Nachbarn nicht übel, dass sie aggressiv sind, ich bin nur am Anfang sehr erstaunt gewesen, weil ich das nicht erwartet habe, denn ich habe Polen immer sehr verteidigt im Verhältnis zum Beispiel mancher Reaktion der Tschechischen Republik, weil ich sagte, da gibt es vieles an Diskussionspartnern, an Gesprächspartnern, auch ein offeneres Klima. Und ich weiß ja doch von meinen Landsmannschaften: Da gibt es unendlich viele freundschaftliche Kontakte von Mensch zu Mensch, von den vertriebenen Deutschen zu den Menschen, die heute in den Häusern leben, wo die Vertriebenen hergekommen sind. Da gibt es Patenschaften dieser Städte, aus denen sie kamen, mit den Heimatkreisgemschaften hier in Deutschland, so dass am Fundament von Mensch zu Mensch ja so vieles schon auf einem guten Wege ist. An der politischen Spitze scheint es mir manchmal sogar fast schwieriger zu sein, obwohl da die Verantwortung für den gemeinsamen Weg liegt.
Müchler: Aber es gibt ja auch Probleme. Es gibt Vorgänge, die verständlicherweise Besorgnisse und Unruhe, etwa in Polen, auslösen könnten. Ich denke da zum Beispiel an die sogenannte ‚Preußische Treuhand’, die in institutionalisierter Form Restitutionsansprüche erhebt.
Steinbach: Der Bund der Vertriebenen, das Präsidium, hat sich schon vor Weihnachten von diesem Weg distanziert. Das ist nicht der Weg meines Verbandes, das ist auch ein einstimmiger Beschluss unseres Präsidiums gewesen – unabhängig davon, dass alle Bundesregierungen bis hin zu der jetzigen Bundesregierung immer wieder deutlich machen, dass die Vermögensfrage nach wie vor ungelöst und offen ist. Und die Ängste in Polen und auch in der Tschechischen Republik kann ich nachvollziehen, weil einfach diese Länder auch nicht dafür gesorgt haben, dass es europäisch tragbare Lösungen gibt. Ungarn hat das geschafft. Die haben schon 1992 ein Restitutionsgesetz auf den Weg gebracht, was Bestand haben wird vor allen europäischen Gerichten. Es war eine symbolische Lösung, aber erstens die von dort vertriebenen Deutsch-Ungarn haben gesagt, da ist der gute Wille erkennbar, und zum Zweiten: Der materielle Teil war wirklich marginal. Aber das spielt für die meisten Vertriebenen nicht die Rolle, sondern das Gefühl, dass die andere Seite sagt: Es war verkehrt. Und das sehen wir heute, dass es verkehrt gewesen ist, und wir tun das im Rahmen unserer Möglichkeiten. Dass diese Möglichkeiten nicht üppig sind überall in den Ländern östlich unserer Grenzen, wo ja doch der Lebensstandart und die materiellen Möglichkeiten nicht sehr umfangreich sind, das kann man nachempfinden. Aber es geht den meisten Vertriebenen auch nicht ums Geld.
Müchler: Das Thema Flucht und Vertreibung war in der Bundesrepublik über Jahrzehnte tabuisiert. Jedenfalls gab es eine weit verbreitete Scheu, sich mit dem Thema zu befassen, was dazu geführt hat, dass das Schicksal privatisiert wurde, dass es keine Öffentlichkeit für Vertriebene in dem Sinne gegeben hat. Dann kam das Grass-Buch über den Untergang der Wilhelm-Gustloff, es kam die Hoffnung auf Versachlichung, jetzt Widerstand, Entrüstung, mangelhafte Unterstützung. Was erwarten Sie von der Bundesregierung? Es muss ja jemand auch in Amt und Würden Ihnen helfen.
Steinbach: Im Grunde genommen erwarte ich das, was Bundeskanzler Schröder mir bei unserem ersten Gespräch zu dem Thema gesagt hatte, dass er dieser Frage offen gegenüber steht. Otto Schily ist einer unserer Verbündeten, der hat sich sehr frühzeitig für diese Stiftung ausgesprochen – mehrfach öffentlich auch, im vorigen Jahr gerade anlässlich des Jubiläums ‚50 Jahre Bundesvertriebenengesetz’. Aber diese Bundesregierung hat auch eine Verpflichtung, diesen Teil deutscher Geschichte fürsorglich zu begleiten und nicht einfach zu sagen: ‚Ja, also damit wecken wir Ängste in Polen’. Ich glaube außerdem, dass man keinen guten Weg geht, wenn man unseren Nachbarn – unseren polnischen Nachbarn – nicht deutlich macht: Was nützt Euch ein Deutschland, das unfähig ist, über seine eigenen Opfer zu trauern. Glaubt man denn wirklich, dass ein Land, das nicht über seine eigenen Opfer trauern kann – so wie eine Familie, die nicht über den Tod der eigenen Großmutter trauern kann –, dass das ehrlich Anteil nimmt dann am Schicksal der Opfer Polens? Ein kaltes Herz bleibt immer kalt. Wenn man über eigene Opfer nicht trauern kann, kann man über andere Opfer erst recht nicht trauern.
Müchler: Gesine Schwan, Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, gehört auch zu denen, die Front gegen das Zentrum gemacht haben und Sie ganz persönlich sehr scharf attackiert hat. Ich zitiere einmal: Frau Schwan hält Sie für unfähig, das Vertreibungsschicksal in den Kontext des zweiten Weltkrieges zu stellen, was eigentlich auf deutsch heißt: Sie leugnen, dass der Nationalsozialismus, dass der zweite Weltkrieg – der Hitler-Krieg – die Prima Causa der Vertreibung der Deutschen gewesen sei. Was sagen Sie dazu, das ist ja starker Tobak?
Steinbach: Das ist eine Unverschämtheit, eine andere Vokabel dafür gibt es nicht, denn Frau Schwan kennt unsere Konzeption. Und Frau Schwan weiß genau, wie unser Ansatz ist. Darüber hinaus muss man eines auch sehen – da sie mich nun persönlich sehr intensiv attackiert hat –: Einer meiner Großonkel ist der Euthanasie zum Opfer gefallen, die ersten Opfer Hitlers in Deutschland waren zunächst einmal die Behinderten, die umgebracht worden sind – schlicht und ergreifend als menschenunwürdig, als lebensunwertes Leben. Und wenn man sich die Vertreibungshistorie betrachtet: Der andere Bundespräsidentenkandidat kommt ja aus Bessarabien – dessen Familie. Die Bessarabien-Deutschen und die Deutsch-Balten sind Opfer von Hitler und Stalin geworden, sie waren also in einer Zeit schon Opfer, wo also nicht einmal das Vertreibungsgeschehen durch Polen und durch Tschechien begonnen hatte. Die Vertriebenen haben Hitler nichts zu verdanken, im Gegenteil. Wir wissen, dass ohne den zweiten Weltkrieg die Vertreibung, selbst die latenten Vertreibungswünsche, die natürlich vorhanden waren – im tschechischen Bereich gab es da Ansätze, es gab auch im polnischen Bereich Ideen von einem Polen bis an die Elbe – noch nach 1918 direkt. Aber das hätte sich alles nicht umsetzten lassen ohne Hitler. Und die Vertriebenen, die ersten deutschen Heimatvertriebenen, das waren dann auch noch unsere jüdischen Mitbürger, die Deutschland verlassen haben aus Angst – erst die Stigmatisierung, was wird uns noch alles widerfahren. Und dann waren es eben die Deutsch-Balten und die Bessarabien-Deutschen, die ihre Heimat verloren haben durch Hitler, durch Stalin - die Südtiroler zum Beispiel, die auch durch Hitler und Mussolini komplett ausgesiedelt werden sollten. Das heißt, diese Verzahnung – wir wissen sehr wohl, was das bedeutet, und Frau Schwan weiß es auch, dass wir es wissen.
Müchler: Peter Glotz hat einmal gesagt, das Zentrum solle den Chauvinismus, Nationalismus analysieren und ihn bekämpfen, das sei eine ganz wichtige Aufgabe dieses Zentrums. Sie sehen es auch so?
Steinbach: Ja, wir haben ja schon in unserer Konzeption deutlich gemacht, dass letzten Endes die Wurzeln für das, was im 20. Jahrhundert an Vertreibungen und – in Anführungszeichen – ‚ethnischen Säuberungen’, eigentlich eine makabere Formulierung, von ‚Säuberung’ zu sprechen, geschehen ist, ja seine Urgründe im 19. Jahrhundert gehabt hat – mit dem Aufkommen des Nationalismus, wo man dann in völkisch reinen Kategorien gedacht hat und versucht hat, sich aller missliebigen Menschengruppen davon zu befreien in den jeweiligen Nationalstaaten. Da liegt die Ursache. Und er hat es ja auch sehr schön in seinem Buch über die Geschichte der Deutschen und der Tschechen – der Sudetendeutschen – dargelegt, wie verzahnt und wie verschachtelt und wie ausgewuchert dieses Thema dann im 20. Jahrhundert ist, in die schrecklichsten Facetten hinein.
Müchler: Und gleichzeitig war das, was wir inzwischen ‚ethnische Säuberungen’ nennen, über viele Jahrzehnte ein anerkanntes Mittel der Politik, ein Mittel der Konfliktbewältigung vom Frieden von Lausanne 1923 im Grunde bis Bosnien-Herzegowina.
Steinbach: Richtig, aber man hat einfach Menschen benutzt, vielleicht sogar teilweise in gutem Willen - die Völkerumschichtungen Griechen und Türken -, vom Völkerbund abgesegnet. Man dachte, man befriedet damit die Dinge. Aber da Menschen ja nun sehr beweglich sind und immer wieder anders hin sich bewegen – wir sehen ja auch, in Deutschland haben wir eine starke Gruppe von Türken im Lande leben, wir haben starke andere ethnische Gruppen inzwischen hier leben. Wenn man in diesen ethnisch reinen Kategorien denkt und glaubt, man könne nur befriedet leben in einem Land, wo es nur eine Sorte Menschen gibt, dann müssen ja ständig wieder Vertreibungen geschehen oder man müsste alle Wanderungen schlicht unterbinden.
Müchler: Frau Steinbach, Sie sind Präsidentin des Bundes der Vertriebenen seit – ich glaube – fünf Jahren. Sie führen den Verband anders, der Verband ist unter Ihnen ein anderer, als er mal war. Es hat mal einen Kongress gegeben mit einem sehr umstrittenen Motto – ‚Schlesien ist unser’. Wäre es nicht, um zum Kontext unseres Gespräches wieder zurückzukommen, vielleicht hilfreich, wenn es aus Ihrem Munde ein distanzierendes Wort dazu, zu diesem seinerzeitigen Kongress, gäbe?
Steinbach: Man muss natürlich die politischen Rahmenbedingungen sehen. Es gab ein Schlesiertreffen Mitte der 60er Jahre, da wurde den Schlesiern ein Grußtelegramm geschickt von den Sozialdemokraten, unterschrieben von Willy Brandt und Herbert Wehner. Das enthielt den Satz – bezogen auf die deutschen Ostgebiete: ‚Verzicht ist Verrat’. In diesem Zusammenhang, in diesem Kontext standen auch die landsmannschaftlichen Treffen. Es war eine monochrome Geisteshaltung in Deutschland, es war nicht nur Verbandspolitik, es war Politik der Sozialdemokraten, Politik der Christdemokraten, Politik der Freien Demokraten. Und letzten Endes basierte das auch auf dem, was ja das Verfassungsgericht bestätigt hatte und was ja erst mit dem Grenzbestätigungsvertrag mit Polen dann geändert wurde – parlamentarisch geändert wurde –, dass die Grenzen natürlich anders gesehen wurden als wir sie heute betrachten. Also, man darf die Dinge nicht aus der heutigen Perspektive betrachten, sondern man muss sie in der Zeit sehen. In dieser Zeit was es politisch noch unumstritten, dass man sagte: Die deutschen Ostgrenzen sind natürlich die, wo auch die deutschen Ostgebiete hineingehörten. Heute ist die Grenzfrage keine Frage mehr. Die ist für meinen Verband keine Frage, die ist parlamentarisch abgesegnet, das ist in unserer Demokratie auch so gewollt. Und vor diesem Hintergrund ist die Grenzfrage für uns keine Frage mehr.