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Erinnerung an Beethoven

Neurowissenschaften. - In allen Kulturen, zu allen Zeiten spielte Musik ein zentrale Rolle. Schon lange vermuten Forscher, dass sie in der Evolution eine Spielwiese war, um auditive Mustererkennung einzuüben. Dass Musik tatsächlich eine wichtige Funktion erfüllt, dafür haben nun Berliner Neurologen ein weiteres Indiz gefunden: Im Gedächtnis ist für Musik ein eigenes Areal vorgesehen.

Von Kristin Raabe | 18.01.2013
    Der Mann, der zur Untersuchung in die Berliner Charité kommt, weiß so gut wie nichts mehr über sein eigenes Leben. Er erkennt Freunde und Familienmitglieder nicht mehr. Eine Hirnentzündung hat jene Teile seiner Großhirnrinde zerstört, die für das Gedächtnis zuständig sind. Vor seiner Krankheit war er Cellist, er hatte mit großen deutschen Sinfonieorchestern gespielt. Von all dem weiß er nun nichts mehr. Ein so schwerer Fall von Amnesie ist auch dem Neurologen Carsten Finke noch nicht begegnet.

    "Was bei Musikern ja auch besonders bemerkenswert ist, besonders bei einem Cellisten, er konnte auch keinen einzigen Cellisten nennen und auch nur einen einzigen Komponisten – das war Beethoven - und darüber hinaus ist auch sein anterogrades Gedächtnis beeinträchtigt, das heißt, er kann sich auch keine neuen Informationen merken."

    Der Berliner Neurologe und sein Team beginnen mit einer ausführlichen Testreihe. Um ihren Patienten zu schützen nennen sie ihn in allen schriftlichen Veröffentlichungen nur "Patient PM". Bei Tests zu seinen musikalischen Fähigkeiten schneidet PM ähnlich gut ab, wie andere Musiker. Er kann beispielsweise den Rhythmus eines vorgespielten Musikstücks richtig einordnen. Um herauszufinden ob auch sein musikalisches Gedächtnis noch funktioniert, spielen sie PM direkt nacheinander zwei ähnliche Musikstücke vor. Das eine ist sehr bekannt und vor der Erkrankung von PM komponiert worden, das andere danach. Da wird beispielsweise ein Stück von Mendelssohn mit einem des zeitgenössischen Komponisten Max Richter gepaart. Finke:

    "Tatsächlich zeigte sich, dass er sehr zuverlässig und zwar auf dem gleichen Level wie gesunde Kontrollen, das waren einmal Amateurmusiker und einmal fünf Streicher der Berliner Philharmoniker, dass er auf dem gleichen Level wie diese Normalprobanden, diese Stücke als neu oder bekannt klassifizieren konnte."


    Das bedeutet nichts anderes, als dass sich PM tatsächlich an Melodien erinnern kann, die er vor seiner Erkrankung gekannt haben musste. Die Krankheit, die jene Hirnteile zerstört hatte, die für das normale Gedächtnis zuständig sind, hat anscheinend das musikalische Gedächtnis nicht beeinträchtigt. In einem weiteren Experiment untersucht Carsten Finke, ob PM sich auch neue Stücke merken kann. Dafür verwendet er ausschließlich Kompositionen, die nach PMs Erkrankung im Jahr 2005 entstanden sind. Er spielt eines der Stücke seiner Versuchsperson vor. Nach etwa 90 Minuten wird dasselbe Stück zusammen mit einer anderen Komposition aus der Zeit nach 2005 wieder eingespielt. Tatsächlich kann Patient P.M. das zuvor gehörte Stück wiedererkennen. Finke:

    "Er konnte auch neue musikalische Informationen erlernen. Das heißt sein musikalisches Gedächtnis ist weitgehend intakt, was in starkem Kontrast zu seiner schweren Amnesie steht. Insgesamt sprechen die Befunde dafür, dass das Musikgedächtnis weitgehend unabhängig vom Schläfenlappen sein muss."

    Die schwere Hirnentzündung, an der PM 2005 erkrankte, hatte jene Strukturen des Schläfenlappens zerstört, die Forscher für das Erinnern der eigenen Biographie oder das Abrufen von gespeichertem Wissen zuständig sind. Für sein intaktes musikalisches Gedächtnis müssen also andere Hirnstrukturen verantwortlich sein. Noch kennen die Forscher nicht alle Teile des Netzwerks, das für das Erinnern von Musik zuständig ist. Es könnte aber sein, dass das musikalische Gedächtnis eine Art Hintertür enthält, durch die sich bei manchen Patienten auch längst verschüttete Gedächtnisinhalte wieder aktivieren lassen. PM jedenfalls kann sich hin und wieder an Details aus seinem Leben erinnern – aber immer nur dann, wenn er gerade wieder Cello spielt.

    Hinweis: Am kommenden Sonntag, 20.01., 16:30 Uhr, sendet der Deutschlandfunk in der Sendung "Wissenschaft im Brennpunkt" ein Feature zum Thema.