Dienstag, 19. März 2024

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Erinnerung
Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Krieg

Das Thema Flüchtlinge gehört zu unserem Land seit 1945. Allein bis 1950 waren schätzungsweise 12 Millionen Deutsche auf der Flucht vor Vertreibung. Später kamen die Ungarn-Flüchtlinge hinzu. Schon damals ging es um Unterbringungsprobleme, Bürokratie und Wohnungsnot - ein Rückblick.

Von Irene Greuer | 21.01.2016
    "Wir haben den ganzen Tag am Radio gesessen und haben die Nachrichten gehört."
    Ingrid und Klaus, 14 und 12 Jahre alt, sitzen da im Wohnzimmer ihres Elternhauses in Dortmund und hören das, was über den Aufstand in Ungarn und seinen blutige Niederwerfung berichtet wird. 1956 - Tausende Ungarn treten die Flucht an. In Deutschland stellt sich die Frage: So viele Menschen – wie können wir sie alle versorgen?
    "Und dann habe ich mich mit meinem Bruder darüber unterhalten, und dann haben wir unsere Eltern bestürmt, sie sollten doch unser eigenes Zimmer vielleicht den Ungarn geben."
    Ingrid und Klaus regeln das Problem der Unterkunft für eine ungarische Flüchtlingsfamilie. Heute würde man sagen: schnell und unbürokratisch. Zwei Zimmer werden freigemacht nach jugendlicher Eigeninitiative.
    "Jetzt sind wir sehr glücklich. Das Lagerleben war so schrecklich gewesen, das ist viel besser hier."
    Freut sich die ungarische Familie. Das Lagerleben fängt in Deutschland allerdings schon direkt nach dem Krieg an. Für Millionen Vertriebene und Geflohene. Und es endet nicht immer so glücklich wie in Dortmund. Springen wir ins Jahr 1948. Frechen bei Köln. Kaum von Bomben getroffen. Aber:
    "Wir sind Rheinländer und sind 19.10.1946 aus Bayern ausgewiesen worden, weil wir dort Platz machen mussten. Nach achtzehntägiger Fahrt, wovon wir vier Tage in Essen auf dem Borbecker Bahnhof standen, hat man uns nach Frechen dirigiert, wo wir am 3.11.1946 ankamen."
    Nicht jeder war willkommen
    Seit dieser martialischen Irrfahrt lebt diese Frau mit 15 weiteren Flüchtlingen, Erwachsenen und Kindern, in einem Klassenzimmer einer Frechener Grundschule. Es gibt in diesem Jahr 1948 kaum Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Im Gegenteil.
    "Wir haben so manche Wohnung angewiesen bekommen und wenn wir hinkamen, dann waren schon Frechener über Nacht eingezogen, und die sind heute noch drin und wir sind immer noch in diesen Klassenräumen, wir haben überhaupt gar keine Möglichkeit, irgendwie in Wohnungen untergebracht zu werden."
    In vielen Städten Westdeutschlands zeigen die Bewohner Ausgebombten, wie dieser Familie aus Essen, die kalte Schulter. Sollen sie doch sehen wie sie fertig werden.
    "Ich habe hier im Januar mein Kind geboren im Flüchtlingslager. Mir wurden weder Bezugsscheine noch Punkte ausgehändigt, wir mussten uns alles selbst beschaffen. Wir werden hier direkt als Eindringlinge und Fremde angesehen, trotzdem wir Rheinländer sind."
    Dieselbe Nationalität - und doch Fremde. Das Leben der Flüchtlinge und Vertriebenen war damals auch Thema eines Radiofeatures, das in seinen Anfangsworten genau das beschreibt, was heute das Leben in Turnhallen ausmacht. Aber gesendet wurde es 1951.
    "Waren Sie schon einmal in einem Flüchtlingslager? Ich weiß nicht, ob Ihnen das bemerkenswert erscheint, aber in manchen Flüchtlingslagern gibt es bloß Vorhänge mit einem Bindfaden als Verschluss. Wissen Sie, das bedrückt die Menschen in Lagern am meisten: das Leben unter fremden Blicken, das pausenlose Dasein in der Masse am Tag und in der Nacht, ja."
    Die Last der Bürokratie
    Und dann auch noch die Bürokratie. Schon damals. Ein Mann erzählt 1948, wie er um eine Zuzugsgenehmigung nach Düsseldorf kämpft, wo er mittlerweile Arbeit gefunden hat. Hinter ihm liegt eine Irrfahrt durch die ehemaligen Ostgebiete auf der Suche nach seinen Kindern, die immer wieder in anderen Heimen untergebracht waren, seine Frau war kurz nach dem Krieg an Hunger gestorben. Er will nun bloß zusammen mit seinen Kindern leben.
    "Also ich habe mich erst mal an die Stadt gewandt, von der Stadt an den Regierungspräsidenten, von dort bekam ich abschlägigen Bescheid, ich sollte selbst Wohnraum nachweisen, dann könnte ich Zuzugsgenehmigung bekommen, und dann wandte ich mich an das Sozialministerium, und das hat die Sache wieder an den Regierungspräsidenten weitergegeben."
    Und so weiter und so fort. Aber auch damals hatten Menschen Vorschläge, wie vieles schneller gehen könnte. Thema Wohnungsnot, die damals noch schlimmer war als heute. Willy Messerschmidt zum Beispiel, trotz wichtiger Beiträge zu Adolf Hitlers Kriegsmaschinerie frisch entnazifiziert, ließ nicht nur Kabinenroller herstellen, sondern auch Fertighäuser:
    "Ich habe mich entschlossen, eine Schnellbauweise zu entwickeln, weil ich der Ansicht bin, dass wir der Wohnungsnot mit den üblichen Mitteln nicht Herr werden."
    Er erklärt im Interview, dass das alles recht einfach geht mit dieser Schnellbauweise.
    "Wie ein Stabilbaukasten? - Jawohl, wie ein Stabilbaukasten!"
    Und er sagt auch, Menschen könnten sich zusammentun.
    "Dann könnten die unter Führung einer Baufirma diese Einzelteile selbst zusammensetzen, auf diese Weise könnte das Haus noch viel billiger errichtet werden, als wenn ausschließlich bezahlte Handwerksleute es errichten würden. "
    Bemerkenswerte Idee, aber heute? Flüchtlinge helfen beim Bau von Unterkünften? Mit den vielen Bau- und Versicherungsvorschriften? Damals - Anfang der 50er-Jahre - kam auch die Frage auf, ob eine – wie das so heißt – Rückführung der Menschen möglich wäre. Und der Kölner Kardinal Josef Frings antwortete in seiner zuweilen süffisanten Art:
    "Ja, sicher das wäre ja ohne Zweifel das Idealste, aber wie die Dinge heute stehen, wäre das ja ohne Krieg nicht möglich. Und wollen Sie noch mal in einen Dritten Weltkrieg ziehen? Die Verantwortung möchte ich nicht übernehmen."
    Ein Wort des Bundespräsidenten Theodor Heuss aus dem Jahr 1953 soll diesen Gang durch die alten Berichte der Nachkriegszeit schließen. Es gibt auch denen Antwort, die heute "Flüchtling" gleich "Arbeitskraft" setzen.
    "Sorgt Euch mit uns darum, dass man nicht nur die Arbeitskraft des Menschen sucht, sondern dass man den Menschen aufnimmt. Wer in der Verzweiflung floh, darf nicht in neue Verzweiflung stürzen. Er bedarf der liebenden Hand des Nächsten."