Reichel: Deshalb ist auch gerade der Zweite Weltkrieg besonders interessant, oder warum ist es besonders diese Zeit? Weil das die Großeltern sind, weil auch vielleicht immer weniger Zeitzeugen da sind?
Welzer: Zum einen ist es natürlich eine Vergangenheit, wo es in den Familien noch den direkten Bezug über noch lebende Angehörige gibt, Großeltern oder Onkeln und Tanten, die aus der Zeit berichten können. Zum anderen hat diese spezielle Zeit offensichtlich so eine Verdichtung von Erfahrungen mit sich gebracht, dass über diese zwölf Jahre jetzt mittlerweile 60 Jahre lang immer intensiver geredet wird. Es geht also eine enorm hohe Faszinationswirkung von dieser Vergangenheit aus, und wir erleben zur Zeit auch eine Uminterpretation dieser Vergangenheit, also weg von dem eindimensionalen, grauenhaften schwarzen Bild hin zu einem differenzierteren oder sogar - und das ist hochproblematisch - zu einem eher positiveren Charakter.
Reichel: Woran machen Sie diese Uminterpretation fest?
Welzer: Sie können einerseits das nehmen, dass es ein Boom von Familienromanen gibt seit zwei Jahren ungefähr, wo sich Angehörige der jüngeren Generation aufmachen auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Nazigroßeltern und dann in der Regel feststellen, dass sie gar nicht schlimm waren, sondern eigentlich immer nur das Beste gewollt haben. Das entspricht auch dem, was wir aus Studien über das private Erinnern in deutschen Familien wissen, wo ein sehr positives Bild der Rolle der Angehörigen vorhanden ist. Zum anderen haben wir so etwas, wenn Sie den Hitlerfilm "Der Untergang" nehmen, wie den wagemutigen Versuch, Hitler als "Menschen" darzustellen, mit Schwächen, mit Sympathien. Das ist erstens nicht besonders seriös machbar, weil wir nicht viel über seine Persönlichkeit wissen. Zum anderen ist es aber etwas, was vor zehn Jahren so sicherlich nicht möglich gewesen wäre.
Reichel: Aber auch der Produzent Bernd Eichinger behauptet ja, Wirklichkeit abzubilden. Wie ist das mit der Differenz zwischen den Erinnerungen, die dabei verarbeitet werden, und der Realität?
Welzer: Na ja, das Verhältnis zwischen Erinnerung und Realität ist ein sehr flexibles. Also wir wissen aus der Erinnerungsforschung, dass wir mühelos in der Lage sind, Episoden in unsere eigene Lebensgeschichte zu integrieren, die wir überhaupt nie erlebt haben, sondern die aus ganz anderen Quellen stammen, sei es, dass sie uns jemand erzählt hat, sei es aus irgendeinem Film oder Roman. Wenn diese Episoden passen, dann schaffen wir es, sie einzubauen in unser eigenes Gedächtnis. Hinsichtlich solcher Spielfilme, die mit diesem Wirklichkeitsanspruch auftreten, es ist natürlich vollkommener Unsinn, weil das künstliche Produkte sind, die in gewisser Weise Geschichte inszenieren, aber natürlich niemals abbilden. Es erfolgt der Effekt, als würde man hier etwas über eine Vergangenheit erfahren, die es tatsächlich gegeben hätte, ohne dass es jemals wahrscheinlich so ausgesehen hätte.
Reichel: Aber was bringen uns dann Dokumentationen, die sozusagen auf dieser Erinnerung bauen?
Welzer: Dokumentationen, die auf Erinnerung bauen, bringen nicht besonders viel. Sie bringen, dass wir Menschen erleben, die eine bestimmte Sicht auf ihre eigene Geschichte darstellen. Insofern ist das vielleicht ganz interessant, weil wir ja unsere Deutung von Gegenwart vor dem Hintergrund dessen machen, wie wir Geschichte verstehen. Insofern hat das so einen gewissen Wert, Zeitzeugen zu hören. Das ist praktisch das, wie sie die Vergangenheit sehen. Einen historischen Wert hat das in aller Regel nicht.
Reichel: Besteht aber nicht die Schwierigkeit, dass das, was sozusagen in Erinnerung übertragen wird, ja auch auf die nächste Generation, ein geradezu falsches Geschichtsbild vermittelt, weil man das für die Wirklichkeit nimmt?
Welzer: Man muss dann schon sehen - und das betrifft die Historiker natürlich sehr -, dass im Grunde genommen die Hoheit über die Geschichte von den Historikern auf die Medien überzugehen scheint. Das prägt natürlich die Vergangenheitsvorstellung der Menschen im ganz hohen Maße. Also unser Bild vom Holocaust ist sicherlich vielmehr durch Schindlers Liste geprägt als durch Bemühungen im Geschichtsunterricht, und unser Bild von Hitler und der Führungsgruppe um ihn herum wird sicherlich durch solche Filme wie Eichingers Untergang noch stärker geprägt werden, als das man im klassischen Sinne der Aufklärung an Fakten zu vermitteln sich bemüht. Das ist so.
Reichel: Wie stark werden dann Erinnerungen auch bewusst manipuliert? Also in der Süddeutschen Zeitung, die an diesem Wochenende erschienen ist, wird zum Beispiel beschrieben, dass der Spruch "Wir sind ein Volk" im Prinzip erst im Nachhinein als ein Ruf der Masse konstruiert wurde. Er soll eigentlich eine geringere und kleinere Bedeutung bei den Demonstrationen gerade im Herbst 1989 gespielt haben. Wie stark werden Erinnerungen manipuliert?
Welzer: Erinnerungen werden sehr stark manipulierbar, weil eben unsere Erinnerung, unser Gedächtnis ein hochflexibles assoziatives Organ ist und kein Speicher. Insofern ist es immer möglich, zu manipulieren. Ein anderes Beispiel wäre das Wunder von Bern. Wir haben ja mit dem Film gelernt, dass es einfach ein Epoche machendes deutsches Großereignis gewesen ist. Wenn man sich das in der historischen Realgestalt anschaut, hat das im Grunde genommen kaum jemanden interessiert. Über dieses Ereignis wurde nicht länger als zwei Tage in den Zeitungen berichtet, weil Fußball zu dem Zeitpunkt ein proletarischer Sport gewesen ist, der die Gesamtgesellschaft nicht besonders interessiert hat. Also historische Ereignisse werden nach Gegenwartsinteressen neu gemacht. Das sind harmlose Beispiele, die wir jetzt genannt haben, aber wenn wir uns beispielsweise den jugoslawischen Krieg anschauen, dann sehen Sie, wie zum Beispiel die Schlacht auf dem Amselfeld von den Serben, von Milosevic und anderen neu erfunden wurde als historisches Ursprungsereignis, um das es dann in den Auseinandersetzungen um serbische Größe auch geht. Insofern haben wir sehr viele Beispiel in der Geschichte, wo erinnerungspolitisch manipuliert wird, und das ist sehr wirksam.
Reichel: Nun ist heute der Tag der Deutschen Einheit. 14 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen. Das heißt, die DDR liegt noch nicht ganz so weit zurück, aber die Erinnerungen haben schon eingesetzt oder der Erinnerungsprozess. Wie beurteilen Sie diesen?
Welzer: Na ja, also was den 3. Oktober angeht, muss man ja sagen, dass er sich eigentlich im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung nicht besonders verankert hat als ein Feiertag, mit dem man so viel anfangen kann. Dann haben Sie die ganzen anderen Phänomene, sowohl über die Filme als auch Literatur, was man jetzt als Ostalgie betrachtet, also wo die DDR-Vergangenheit verklärt und die angenehmen Seiten gezeigt werden, oder eben so etwas wie dieser Reaktualisierungsversuch der Montagsdemonstrationen. Das sind ja im Grunde genommen auch Versuche, an Erinnerungen anzuknüpfen, wo man etwas gemacht hat, erreicht hat und das zu reproduzieren versucht.
Reichel: Inwieweit ist dieser Prozess auch etwas, was Ost und West spalten könnte, weil die Erinnerung an die DDR ja im Osten sehr lebendig ist?
Welzer: Ich glaube nicht, dass das eine Sprengkraft beinhaltet, die zu sozialpsychologischen Spaltungen führen würde. Also es gibt halt unterschiedliche Traditionsbestände, die sich im Laufe der Zeit abschlaffen. Aber die Spaltungstendenzen sind wahrscheinlich eher auf einer mentalitätsgeschichtlichen Ebene zu verorten, dass man halt Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder soziale Sicherheit und Unsicherheit anders wahrnehmen kann und anders damit umgehen kann. Das sind Phänomene, die auch ein bisschen mit Erinnerung zu tun haben, aber ich glaube, das ist mehr ein sozialpolitisches Problem, was trennend wirkt.
Reichel: Das war der Sozialpsychologe Harald Welzer, vielen Dank für das Gespräch.
