Archiv


Erinnerung und Melancholie

Manches kommt schubweise. Kris Defoorts neue Komposition lieferte die Grundlage für die zweite Uraufführung einer lediglich auf kleines Orchester und wesentlich eine Sopranstimme gestützte Kurzoper innerhalb einer Woche. Beide Werke zeichnen sich durch Handlungsarmut aus.

Gesehen von Frieder Reininghaus |
    Am vergangenen Freitag gab es 70 Minuten Proserpina-Klage von Wolfgang Rihm im Schwetzinger Rokoko-Theater, gestern eineinhalb Stunden Nachtgedanken eines alten Mannes im königlichen Opernhaus zu Brüssel: ins Englische gebrachte japanische Reflexionen und Träume eines stark in die Jahre gekommenen Genießers. Der möchte noch einmal frisches Fleisch riechen und spüren, also sexuell angeregt und inspiriert werden zu angenehmen Träumen. Die erscheinen nicht nur in den (zweisprachig eingeblendeten) Worten, sondern stets zugleich in dreifacher Körperlichkeit: erstens in Gestalt der als Traumfigur hereinschreitenden und in höhere Regionen entführenden vorzüglichen Sopranistin Barbara Hannigan; ferner per Video-Großaufnahmen auf einer rückwärtigen Projektionsfläche und, darüber angesiedelt, leibhaftig durch die in Laken gehüllte, sich wälzende und überhaupt mit den Mühen des Schlafes befasste stumme Darstellerin. Was sich im wirklichen Leben in der Horizontalen abspielt, setzt sie hoch artistisch in die Vertikale um – die Zuschauer sehen ihre Schlafarbeit gleichsam von oben.

    Der Alte erscheint gespalten in zwei Persönlichkeiten: den bereits weithin abgeklärten Schauspieler und den noch etwas stärker von alten Begehrlichkeiten motivierten Bariton. Beide sind Yoshio Euguchi. Und der besucht das Etablissement der Sleeping Beauties, der schlafenden Schönen. Es stellt sich den Theatergängern mit einer kräftig kolorierten Ouvertüre vor – und dann macht die Heimleiterin den einsamen alten Mann mit den Usancen des Hauses vertraut: Die Männer dürfen sich neben die mit Schlafmitteln betäubten Minderjährigen legen, sie beschnuppern und betatschen, aber nicht beschälen oder sonstige sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen.

    Wolfgang Rihms Klage der in die Unterwelt entführten und vergewaltigten Proserpina gab sich mit einem einzigen Handlungselement zufrieden: Da greift die Solistin zu einem Granatapfel; der Biss in die Frucht besiegelt ihr Schicksal im Hades (allerdings erkennt sie nun etwas, was sie zuvor offensichtlich nicht wusste); daher verschwindet sie hinter einem weißen Vorhang; von dort ist auf relativ eindeutige Weise ihr Stöhnen zu hören und mithin, dass sie auch hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse allein gelassen wurde. Dieses Motiv der Einsamkeit kehrt, neben dem Muster der Handlungsarmut, in Defoorts neuer Oper wieder. Nur wenn die Puffmutter am Ende der drei kurzen Nächte Tee kocht und serviert, kommt etwas schlurfende Bewegung in den kontemplativen Handlungsverlauf. Es sind drei Nächte, in denen der alte Herr natürlich ins Nachdenken über sich, sein Leben und Sterben gerät. In den ersten beiden Nächten befällt ihn – mit letztem Aufbäumen – die Lust zur Regelverletzung; es treibt ihn, das neben ihm liegende, in den Tiefschlaf versetzte Kind zu entjungfern, später ein anderes vielleicht ein bisschen zu würgen. In der dritten Nacht wird er mit dem Tod einer (womöglich nicht durch gewaltsame Fremdeinwirkung, sondern durch eine Überdosis Schlafmittel verstorbene) junge Frau neben sich konfrontiert (die Leiche wird, pardon Mademoiselle, diskret entsorgt – da kann sich auch der Kinderschänder in Belgien freuen). Ob die schlafenden Schmetterlinge oder Lockvögelchen überhaupt mit oder ohne ihre Einwilligung zu Diensten liegen, wird von Cassiers und Defoort nicht thematisiert. Die Obszönität der Altmännerphantasien wird durch den ruhigen Ästhetizismus der Produktion aufgefangen. Wenn kompositorisch auch noch die Aura der Barockmusik beschworen wird, dann scheint die Welt dieser Phantasien, dieses grenzwertigen Hedonismus ganz in rechter Ordnung.