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Erinnerungen eines Toten

Verdis "Simon Boccanegra" ist ein extrem politisches Stück und bietet Potential für heutige Bezüge. Auch für psychologische Konflikte bieten Libretto und Musik reichlich Stoff. Doch so fleißig die Dirigentin Simone Young das musikalische Potential herausarbeitet, so faul geht Claus Guth in seiner Inszenierung an der Hamburger Staatsoper mit dem psychologischen um.

Von Christoph Schmitz |
    "Ihr verfluchten Patrizier!" ruft ein Mann aus dem Volk. Verdis "Simon Boccanegra" ist ein extrem politisches Stück. Es erzählt vom Klassenkampf, von Plebejern und Adeligen, vom Ringen um sozialen Ausgleich, in dem ein Mann von ganz unten nach ganz oben gespült wird.

    Und dieser Mann, Simon Boccanegra, macht sich als Doge der Republik Genua im 14. Jahrhundert einerseits an die kräftige Umverteilung, reziprok zu seinem Aufstieg, von oben nach unten, sorgt aber andererseits für die Verständigung zwischen den Parteien und versucht Genua den Krieg gegen Venedig zu ersparen. Weil Italien doch die Heimat aller Italiener sei.

    Und weil die Erde die Heimat aller Kulturen ist und deren Zusammenprall ziemlich aktuell, ebenso wie Globalisierung und Hartz IV, hätte die Oper üppiges Material geboten, um politisch zu aktualisieren.

    Claus Guth konnte die Eskalation um die Mohammed-Karikaturen natürlich nicht voraussehen, und seine Entscheidung, Boccanegras Geschichte rein psychologisch und ästhetisch zu entwickeln ist durchaus legitim. Denn auch dafür bieten Libretto und Musik reichlich Stoff.

    Wie im "Rigoletto" und in "Luisa Miller" geht es um ein von Schmerz und Liebe aufgeladenes Vater-Kind-Verhältnis. Boccanegras Tochter ist nämlich die Frucht einer unstandesgemäßen Liebesbeziehung zwischen dem Plebejer Boccanegra und der adeligen Maria Fiesco, die über den Gram ihrer verbotenen Liebe und den Verlust der Tochter, die ihr als Kleinkind entrissen wurde, gestorben ist.

    Boccanegra, mittlerweile Doge, quält ebenfalls der Verlust - von Geliebter und Tochter. Doch als er eine gewisse Amelia Grimaldi mit einem Höfling verheiraten will, entdeckt der Herrscher, dass diese Amelia seine verloren geglaubte Tochter ist. Seine alte Liebe zur verstorbenen Geliebten schwappt über auf Amelia, die den Adeligen Gabriele Adorno heiraten möchte, den politischen Feind des Vaters.

    Für eine psychologische Inszenierung also eine phantastische emotionale Konstellation. Zumal sie von der Musik dunkel und glühend zugleich erzählt wird. Und die Hamburger Opernchefin Simone Young hat die Klangfarben am Pult der Premiere auf kräftige Weise verstärkt, vor allem die finsteren.

    Doch so fleißig die Dirigentin das musikalische Potential herausarbeitet, so faul geht Claus Guth mit dem psychologischen um. Und das, obwohl er seelenkundlich mit einer glänzenden Idee beginnt. Er beginnt mit dem Ende der Oper, als Boccanegra durch das Gift seines Feindes gestorben ist. Als sähe man einen Film im Rückwärtsgang, steht der Mann wieder auf, und in den Sekunden vor seinem Tod erinnert er sich, laufen in seinem Bewusstsein noch einmal, zeitlich verdichtet und übereinander gelagert, die inneren und äußeren Stationen seines Lebens ab.

    Mit Spiegelungen, einer zweiten Bühne im Hintergrund und mit der Verdoppelung und Verdreifachung der Figur des Boccanegra ist das klug und überraschend in Szene gesetzt. Auch setzt Guth damit die komplexe Ästhetik des Werkes konsequent fort, an der Verdi sich drei Jahrzehnte lang abgearbeitet hatte, die er nach eigenen Worten liebte, wie man ein "verkrüppeltes Kind liebt", die zur "triumphalen Eingangspforte seines Spätwerkes" wurde und nicht ganz zu unrecht als sein "Parsifal" bezeichnet wird.

    Aber Guths Anfangsidee trägt nicht einmal die Hälfte des Opernabends. Immer häufiger und immer länger stehen die Sänger herum, weil sie ja nur gedacht sind und deswegen nicht wirklich agieren und miteinander ringen dürfen. Guth hat nicht nur Angst vor der Politik, sondern auch vor dem Leben, vor der heftigen Liebe und dem zügellosen Haß, worum es jeder Oper im Kern geht.

    Weil das alles auf der Bühne verpufft, hat der Bühnenbildner Christian Schmidt ein Gegengewicht schaffen wollen, einen ebenso riesigen wie unsinnigen Meteoriten, der das Glasdach durchschlägt und irgendwann schicksals- und bedeutungsschwer im Saal liegt.

    Die Premiere gerettet haben Chor und Orchester unter Simone Young und die Solisten. Vor allem die reifen und großen Stimmen von Franz Grundheber, Boccanegra, John Tomlinson, Jacopo Fiesco, und die der Verdiwürdigen jungen Chilenin Angela Marambio, sie sang die Amelia Grimaldi.