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Erinnerungskultur und Verdrängung

Während Schüler kaum noch etwas über die DDR wissen, verklären viele ältere Menschen das Leben vor dem Mauerfall. In den ersten Jahren nach der Wende wäre diese "Ostalgie" kaum denkbar gewesen. Dies zeigt, dass sich Erinnerungen und damit die historischen Bewertungen von Ereignissen stark wandeln können. Wie und warum - das untersucht die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann.

Von Thomas Wagner | 26.03.2009
    "In der deutschen demokratischen Republik haben die sozialistischen Produktionsverhältnisse gesiegt. Die Arbeitsproduktivität ist höher und unser Leben reicher geworden."

    Der einstige Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, in einer seiner ungezählten Ansprachen. In der Zeit kurz nach dem Mauerfall wollte das kaum mehr einer hören. Die DDR als Unrechtsregime hatte abgewirtschaftet - mit Haut und Haaren.

    Und heute? Ein wenig "Ostalgie" flackert hie und da schon auf. Jüngstes Beispiel: Die Äußerungen des mecklenburgischen Ministerpräsidenten Erwin Sellering. Die DDR habe auch ihre guten Seiten gehabt, sagte er in einem Interview. So gut wie keine Arbeitslosigkeit, eine vorbildliche Kleinkinderversorgung - das dürfe man doch gerade heute nicht vergessen. Trotz der heftigen Kritik, auf die seine Äußerungen stießen, bleibt Erwin Sellering bis heute bei seiner These:

    "Ich würde das wieder so sagen. Ich habe da nichts davon zurückzunehmen. Die DDR war kein Rechtsstaat. Das ist völlig klar. Ich wehre mich dagegen, dass mit dem Begriff 'Unrechtsstaat' versucht wird, politisch versucht wird, so zu tun, als sei nicht einmal das kleinste bisschen Vernünftiges, Gutes in der DDR gewesen."

    "...dass sich die Deutsche Demokratische Republik an der Westgrenze als Wellenbrecher gegen Neonazismus und Wellenbrecher bewährt."

    Ist Erich Honecker damit wieder salonfähig geworden? Warum kommt Erwin Sellering gerade in diesen Tagen auf die Idee, einzelne Segmente der früheren DDR zu loben? Warum wissen, wie Umfragen belegen, gerade auch Schüler kaum mehr etwas über politische Verfolgung, Folter und Mord in den einstigen DDR-Gefängnissen?

    Knapp 20 Jahre nach dem Fall der Mauer scheint sich, ganz schleichend eine andere Erinnerungskultur in manchen Teilen der Öffentlichkeit ausgebreitet zu haben. Das bedeutet aber auch: Die öffentliche Wahrnehmung historischer Epochen oder Geschehnisse ändert sich im Laufe der Jahrzehnte. Und genau das ist das Forschungsfeld der Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Professor Aleida Assmann.

    "Es können sich nur Organismen erinnern, durchaus auch Tiere, aber in diesem Sinne nicht die Maschinen. Die Maschinen können etwas anderes: Sie können speichern. Ich würde also unterscheiden zwischen 'sich erinnern' und 'etwas speichern'. Man kann sagen: Erinnerungen sind immer perspektivisch, sie sind partikular an bestimmte Einzelheiten geprägt, sie sind parteiisch. Das sehen wir schon daran, dass sich in einer Familie das älteste Kind ganz anders erinnert als das jüngste Kind."

    Der Vorgang des Erinnerns umfasst damit mehr als das Abrufen einer abgespeicherten Datei. Hinzu kommt die Verknüpfung mit der Gegenwart, beispielsweise mit der persönlichen Lebenssituation, mit persönlichen Neigungen und Einstellungen. Erinnern enthält nach dieser Definition stets zwei Komponenten: das Abrufen eines Geschehens in der Vergangenheit, das so ähnlich wie das Anklicken einer Datei auf dem Computer funktioniert, und die Verknüpfung mit ganz subjektiven Merkmalen. Beides zusammen beeinflusst wiederum Einstellungen und sogar politische Entscheidungen.

    "Die DDR ist da ein besonders sinnfälliges Beispiel. Das Erste, was passierte, war die Umbenennung von Straßennamen. Die Humboldt-Universität lag mal an der Clara-Zetkin-Straße, das war eine Galionsfigur der Frauenbewegung, und die wurde unbemannt in Dorotheenstraße, mit der niemand eine persönliche Erinnerung hat, die also gar keinen Identitätswert hat für die Erinnerung, aber die natürlich das Selbstverständnis der Stadt widerspiegelt: Man möchte sich wieder preußischer geben. Man möchte die lange Geschichte repräsentiert sehen - und nicht die kurze."
    Die Umbenennung der Straßennamen - datiert aus der Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung: Möglichst Abstand gewinnen vom Unrechtsstaat der DDR, nicht nur in politischer, sondern auch in baulicher und städteplanerischer Hinsicht - das war seinerzeit ein entscheidendes Wesenselement der Erinnerungskultur.

    Doch mit dem Verschwinden von Straßennamen aus der Zeit der DDR verschwanden auch ganze Gebäude. Die Folge: Die Erinnerungen insgesamt verblassten - gerade auch die Erinnerungen an die schrecklichen Seiten des Unrechtsstaates. Aleida Assmann schildert diesen Prozess an einem wohlbekannten Beispiel:

    "Dasselbe gilt natürlich auch für den Palast der Republik, der abgebaut wird in einem sehr langsamen Prozess - abgebaut, rückgebaut wird. Und hier kann man sagen, dass für bestimmte Generationen, deren Erfahrungs- und Lebensmittelpunkt in der DDR lag, sich ihre Umwelt so stark verändert, dass sie diese - ihre eigene Vergangenheit - nicht mehr finden. Durch die bauliche Reorganisation, aber auch durch die Umstellung der Sprache der ganzen Institutionen passiert so etwas wie ein Verschwinden der Erinnerung an die Vergangenheit, der Konkretisierung für die eigene Biografie dieser Generation."

    Broiler, Sättigungsbeilage, Jahresendzeit-Figur - diese Begriffe waren nach dem 3. Oktober 1990 'out'. Mit dem Wandel der Begriffe, der Architektur und der Straßennamen verblassten aber allmählich auch die Erinnerungen an kärglich ausgestattete Geschäfte, politische Drangsalierung, Rechtlosigkeit und Ohnmacht gegenüber dem DDR-Staat.

    "Das führt zum Teil auch zu einem Phänomen, das wir benennen mit dem Begriff der 'Ostalgie', also der nostalgischen Verklärung. Auf der anderen Seite führt das aber auch zur Spurensuche, zum Versuch, sich zu verständigen für das, was da entschwunden ist. Im Grunde genommen besteht die Gefahr, eine ganze Schicht der Geschichte zu überschreiben, auszutauschen, und denen, die ein Teil der Geschichte sind, auch ihre Erfahrungen zu entziehen."

    Auf der einen Seite also der 'Ostalgiker' Sellering, auf der anderen Seite seine Kritiker, die 'Spurensucher' - nach diesem Modell wären die Diskussionen der vergangenen Tage durchaus erklärbar. Und: Beide Parteien hätten demnach irgendwie recht, sagt Aleida Assmann:

    "Das ist ein ganz anderer Themenzusammenhang, dass uns die Psychologen immer wieder klar machen, dass wir uns die Dinge falsch merken. Ja, das ist ein ganz anderer Punkt, dass das Gedächtnis nicht ganz zuverlässig ist. Aber ich finde, ein viel wichtiger Punkt ist, dass das Gedächtnis eben nur partiell registriert und nicht alles auswählt, also aufnimmt, filtert. Und in diesem Fall, also bei der Verklärung der Vergangenheit, sind es die positiven Dinge, die herausgehoben werden, und die negativen, die ganz tief vergessen werden. Dann kommt es eben zu einem völlig umgelagerten Bild: Die DDR ist dann der Staat, der einen versorgt hat, der für einen da war, der eine Zukunftsgarantie gegeben hat, der eine große Existenzsicherung bereitgestellt hat - alles Dinge, die heute verloren gegangen sind in einer Welt des wirtschaftlichen Niedergangs, aber auch der erhöhten und gesteigerten Wettbewerbsstrukturen."

    Untersuchungen darüber, wie stark sich die DDR-Geschichte derzeit nostalgisch verklärt in den Köpfen widerspiegelt, sind aber nur ein Arbeitsfeld von Aleida Assmann. Daneben richtet sie ihr Augenmerk darauf, wie sich die DDR-Geschichte im Vergleich zur Zeit der NS-Diktatur in den Köpfen der Menschen verfestigt hat. Hier macht die Erinnerungsforscherin eine Art "Wettbewerb" zwischen den beiden deutschen Diktaturen in der Erinnerungskultur aus:

    "Es ist jetzt die Frage, wie die beiden deutschen Diktaturen nebeneinanderstehen, ob die eine im Moment sehr viel stärker wird, die Erinnerung an die DDR, ob die vielleicht die frühere Holocaust-Erinnerung zurückdrängt oder überdeckt. Das ist ein weiterer Faktor, der für das Erinnern sehr wichtig ist: Wir haben nicht nur Erinnern und Vergessen. Sondern wir haben auch den engen Zusammenhang zwischen Erinnern und Verdrängen: Also eine Erinnerung drängt dazu, die andere an den Rand zu schieben, zu verlagern."

    Die Gesetzmäßigkeiten solcher Verlagerungsprozesse gilt es allerdings noch genauer zu erforschen. Daraus, so Aleida Assmann, ergeben sich auch Konsequenzen beispielsweise für den Geschichtsunterricht in den Schulen, um eben zu verhindern, dass in kollektiven Erinnerungen die Schrecken einer Diktatur durch die Schrecken einer anderen überdeckt werden.