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"Erleichtert und erschöpft"

Mitte Dezember jährte sich zum 100. Mal der Tag, an dem Roald Amundsen als erster Mensch den Südpol erreicht hat. Auf den Spuren Amundsens bewegte sich jetzt Norwegens Langlauf-Idol Vegard Ulvang gen Südpol, für einen Vorsitzenden des FIS-Langlaufkomitees wohl eine verrückte Sache, für den erfahrenen Expeditonsmann Ulvang eher nicht.

Von Klaus Blume |
    Auch auf den letzten 80 Kilometern wollte es sich Vegard Ulvang auf keinen Fall in einem Flugzeug bequem machen, sondern sich weiter auf Ski quälen. So, wie er es seit dem 1. November auf der Originalroute Roald Amundsens zum Südpol getan hatte. Sein norwegischer Landsmann hatte am 14. Dezember 1911 - als erster Mensch - den Südpol erreicht. Einhundert Jahre später kam Ulvang dort an, eine halbe Stunde vor Mitternacht - also gegenüber Amundsen mit mehrstündiger Verspätung. "Erleichtert und erschöpft", schrieb er in sein Tagebuch.

    Angesichts von Amundsens Pioniertat waren an die 20 Expeditionen aufgebrochen; unter ihnen das am meisten beachtete vierköpfige Team des Norsk Polarinstitutt aus Tromsö. Der vom Institutsdirektor Jan-Gunnar Winther, einem erfahrenen Polarreisenden, geführte Crew gehörte auch der dreimalige Langlauf-Olympiasieger Vegard Ulvang an.

    Warum er? Der 47-Jährige ist in seiner Heimat nicht nur wegen seiner sportlichen Erfolge hochangesehen. Der Name Ulvang steht in Norwegen für Zivilcourage, Abenteuer und Wissenschaft. Denkwürdig ist der 11. Februar 1994. Während der Olympischen Winterspiele in Lillehammer traf sich Ulvang mit dem damaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch; zu einem nur 15-minütigen, aber umso aufregenderem Gespräch. Ulvang bedeutete dem Spanier unumwunden, er sei in einem Lande wie Norwegen unwillkommen. Jemandem, der sich seinem faschistischen Förderer Francisco Franco einst besonders verbunden gefühlt habe, gebühre das höchste Amt im Sport nicht. Viele Norweger applaudierten ihm, im IOC reagierte man verschnupft.

    Doch Ulvang wäre nicht Ulvang, beließe er es bei Worten. In seiner Heimatstadt Kirkenes demonstrierte er oft mit Umwelt-Aktivisten gegen die Luftverschmutzung durch den Nachbarn Russland. Um zu erforschen, wie die Klimaveränderung menschenleeren nördlichen Landschaften zusetzt, durchquerte er Grönland auf Ski und fertigte entsprechende Aufzeichnungen an. Er erkundete als Einzelgänger Nepal sowie die Mongolei und erkletterte die höchsten Gipfel aller Kontinente. Mit seinem kasachischen Langlauf-Freund Wladimir Smirnow erforschte er im Kanu Sibiriens unbekannte Flüsse, um sie zu kartographieren.

    Nun also war er am Südpol. Nicht vom westnorwegischen Hafen Alesund aus, wo einst Norwegens große Polarforscher Nansen und Amundsen aufbrachen, sondern vom chilenischen Punte Arenas aus. Ulvang hätte es zwar lieber anders gesehen, aber so hatte es Expeditionsleiter Winther nun einmal beschlossen. Winther und der Himalaja-Experte Stein P. Aasheim legten obendrein die letzten 80 Kilometer zum Südpol zusammen mit dem norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg im Flugzeug zurück. Ulvang aber bestand darauf, auch diese Etappe gemeinsam mit seinem Begleiter Harald Jölle auf Ski zurück zu legen.

    Was eine Quälerei war. Denn schon nach 672 Kilometern in 22 Tagen - rund der Hälfte der Distanz - war nämlich sogar Ulvang an seine körperlichen Grenzen gestoßen. Das Quartett aus Tromsö hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 133 Kilometer weniger zurück gelegt, als einst Amundsen. Allerdings jagte dieser seinerzeit per Hundeschlitten mit einer Geschwindigkeit von 7,5 km/h zum Pol, während sich Ulvang und Co. mit nur 4 km/h auf Ski fortbewegten und Proviantschlitten hinter sich herzogen. Das alles mitunter auf 3.000 Meter hoch gelegenem Ödland und gegen eisigen Wind.

    So gab es denn auch Tagebuchnotizen, die an jene vor einhundert Jahren erinnern. Am 11. Dezember etwa: "Der Zeitplan könnte theoretisch eingehalten werden, aber nicht physisch." Einen Tag später: "Hier brauchen wir für 50 Kilometer fast 24 Stunden." Um danach fast zu resignieren: "Gefühle wie auf einer Achterbahn! Neue Strategie: Weniger schlafen, mehr laufen." Am Südpol gratulierte Vegard dann - posthum - Amundsen: "Ich bin schwer beeindruckt von ihren Fähigkeiten."

    Weihnachten, hatte Ulvang seiner Frau versprochen, wolle er wieder in Oslo sein. Um dann zur Tour de Ski aufzubrechen, die er mit seinem Schweizer Freund Jürg Capol erfunden hat. Start ist am 29. Dezember in Oberhof.