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Erlkönigs Reich

Als Peter Finkelgrün zehn Jahre alt ist und mit seiner Großmutter Anna in einem kleinen Dorf in Israel lebt, steigt er ab und zu in einen tiefen Brunnen hinab - immer dann, wenn der Wassereimer hineingefallen ist. An einem Seil läßt er sich dann auf den Grund hinab, vorsichtig, um nicht zu stürzen, und holt den Eimer heraus. Mit seiner schmächtigen Figur ist er der einzige, der diese nicht ganz ungefährliche Aufgabe erledigen kann. Er wird also gebraucht, und das verschafft ihm ein Gefühl von Befriedigung, ja, von Stärke.

Victoria Eglau |
    Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, sind Peter Finkelgrün die gemischten Gefühle des Abstiegs in den Brunnen - auf der einen Seite die Angst vor Verletzungen, vor Schmerz, auf der anderen Seite das Erleben von Stärke - nicht fremd geworden. Denn immer noch - oder wieder - wagt er sich in die Tiefe und sucht dort, zwar nicht mehr nach dem Wassereimer, jedoch nach seinen Erinnerungen. "Diese Prozesse des Sich-Erinnerns können manchmal Schmerzen, die man erfahren hat, wiederbeleben, jedenfalls in Erinnerung bringen", so Finkelgrün. "Sie können auch manchmal Schmerzen bewußt machen, die man nie zugelassen hat, die man immer abgewehrt hat. Das ist sicherlich auch ein anstrengender Prozeß. Erinnerung ist also auch etwas Anstrengendes. Aber am Ende auch etwas sehr Wohltuendes. Es ist etwas, was einem ein Maß an notwendiger Selbstsicherheit gibt."

    Bereits für sein 1992 erschienenes Buch "Haus Deutschland oder Die Geschichte eines ungesühnten Mordes" hat Peter Finkelgrün tief im Brunnen seiner Vergangenheit geforscht. Mit Hilfe von Dokumenten, Briefen und Fotos hat er seine Erinnerungen zur Geschichte seiner Familie zusammengefügt, wie ein Mosaik. Es ist die Geschichte der Flucht seiner Eltern vor den Nazis bis nach Schanghai, vor allem aber ist es die Geschichte seines jüdischen Großvaters Martin Finkelgrün, der 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurde. Es ist auch ein Zeugnis, seines - vergeblichen - Versuchs den Mörder seines Großvaters, Anton Malloth, vor Gericht zu bringen. Ein wichtiges Buch aus der Perspektive der Opfer, über das schwierige Unterfangen, im heutigen Deutschland die Täter beim Namen zu nennen.

    In seinem Bestreben, die Vergangenheit schonungslos aufzuarbeiten, macht Peter Finkelgrün auch vor der eigenen Familie nicht halt. Die Erkenntnis, daß zu seinen Verwandten auch einer der Täter zählt, verarbeitet er in seinem neuen Buch "Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung". Goethes Gedicht "Der Erlkönig" symbolisiert für Finkelgrün eine Täuschung, die auch er erlebt hat: "Die konkrete Täuschung, über die ich in diesem Buch berichte, ist, daß meine Großmutter, mit der ich jahrzehntelang gelebt habe, mir kurz vor ihrem Tod eröffnet hat, daß sie nicht nur eine Tochter - meine Mutter - hatte, sondern auch einen Sohn, und daß dieser Sohn in der SS gewesen sei. Das war ein Moment erfahrener Täuschung. Aber gleichzeitig wird beim Schreiben natürlich klar, daß das nur ein exemplarischer Fall ist. Die Wahrnehmung, in einem Land und in einer Gesellschaft zu leben, in der in den Jahrzehnten nach 45 geschwiegen, sprich, getäuscht wurde."

    In dem israelischen Dorf, in dem Peter Finkelgrün Anfang der fünfziger Jahre lebte, gab es zwei Brunnen. Einer davon diente als ständige Wasserquelle, der andere wurde nie genutzt. In diesen unbekannten Brunnen steigt der Autor hinab, um die Biographie seiner Großmutter, von der er sich getäuscht fühlt, und die Lebensgeschichte ihres lange verschwiegenen Sohnes, des SS-Mannes zu erforschen. Wie schmerzhaft dieser Prozeß ist, kann der Leser nur erahnen. Wie beängstigend es sein muß, wenn das Bild, das einer von der eigenen Familie hatte, plötzlich ins Wanken gerät. Konsequent setzt sich Finkelgrün mit den dunklen Schatten in seiner Familiengeschichte auseinander. Als ewig Reisender, der von seinem Geburtsort Schanghai über Prag und Israel nach Deutschland kam, vergleicht er seine akribische Spurensuche mit dem Öffnen eines Koffers. "Ich berichte also sozusagen auch bildhaft, aber eben ganz konkret, von jenem berühmten Koffer, der Fotographien und Briefe und alte Dokumente enthält, und an die man sich ranmachen muß, um seine eigene Recherche sowohl der eigenen Biographie als auch die der Familie durchzuführen. Und ja, ich habe sozusagen meinen Koffer geöffnet, und das steht natürlich jedem anderen auch frei. Ich persönlich denke, es ist auch nötig, diesen berüchtigten Koffer zu öffnen, weil man ja sonst gar nicht weiß, wer man ist."

    Die Suche nach der eigenen Identität wurde Peter Finkelgrün nicht leicht gemacht. Seine Eltern konnten ihm dabei nicht helfen: Sein indischer Vater Hans starb im Ghetto von Schanghai, seine Mutter Esti nach der Rückkehr aus dem Exil nach Prag - acht Jahre alt war Finkelgrün damals. Von da an war die aus Siebenbürgen stammende Großmutter für ihn Mutter und Vater in einer Person. Als Nicht-Jüdin begleitete sie ihn nach Israel und schließlich in die Bundesrepublik. Peter Finkelgrün zeichnet das Bild einer starken, lebenstüchtigen und tapferen Frau, die Auschwitz überlebt hatte. Mehrere Jahre mußte sie in verschiedenen KZs verbringen, weil sie ihren Lebensgefährten Martin Finkelgrün vor der Gestapo versteckt hatte. So wichtig die Großmutter für den Enkel als Bezugsperson war, auf viele seiner Fragen konnte oder wollte sie ihm keine Antwort geben. Rückblickend betrachtet Finkelgrün seine Kindheit und Jugend als ein einziges Frage-Tabu. Ein Tabu, das er heute überwunden hat: " Ich bin überzeugt, daß es nicht nur richtig, sondern auch nötig ist, Fragen zu stellen. Es ist ja so ein Rest einer kindlichen Situation, Fragen stellen zu wollen, sich und die Umwelt zu begreifen. Und es ist ebenso häufig ein kindlicher Rest, auch Angst zu haben, Fragen zu stellen. Man kennt das: Stell bestimmte Fragen nicht, dann fühlt sich niemand getroffen. Wer weiß, was rauskommen könnte. Das schlägt sich natürlich nieder in diesen vielen gestellten Fragen - endlich muß man diese Fragen stellen - und das wiederum, denke ich, ist auch etwas, was für viele von uns heute gilt, daß es noch immer sehr viele Fragen gibt, die gestellt werden müssen."

    Peter Finkelgrün konfrontiert seine Leser mit vielen Fragen, von denen nicht wenige unbeantwortet bleiben. Er läßt sie teilhaben an seinen verzweifelten Versuchen, zu wissen und zu verstehen. Er läßt uns auch teilhaben an der eigenen Verwirrung, die sich in der Form seiner Geschichte widerspiegelt. Finkelgrüns Buch ist kein ästhetisch durchkomponiertes Werk, es bietet dem Leser auch keinen konsequent durchgezogenen Handlungsstrang an den er sich halten könnte.

    Statt dessen immer wieder Zeitsprünge, plötzliche Ortswechsel. Erinnerungen fließen ineinander: Der Autor beschreibt eine Schiffsreise von Deutschland nach Israel, blendet dann unvermittelt zurück und entführt uns in den Hafen von Schanghai, wo er mit seiner Mutter nach dem Krieg auf das Schiff zurück nach Europa wartete. Die Reise mit dem Schiff ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Finkelgrüns Roman. Wir bekommen einen Eindruck von seiner Heimatlosigkeit, von seiner inneren Zerrissenheit. "Unterwegs als sicherer Ort", hat er das erste Kapitel seines Buches überschrieben.

    Um die Geschichte seiner Familie und die Geschichte seiner Täuschung zu erzählen, hat sich Peter Finkelgrün, der heute in Köln lebt, wieder auf die Reise begeben. Er war in Prag, um mit Frauen zu sprechen, die seine Großmutter aus dem Konzentrationslager kannten. Er war in Theresienstadt, wo er vergeblich das Grab seines ermordeten Großvaters suchte. Er reiste schließlich auch ins frühere Sudetenland, nach Kaaden, wo sein Onkel, der Sohn seiner Großmutter, 1945 wegen seiner Mitgliedschaft in der SS standrechtlich erschossen wurde. Am Ende des Buches können wir hoffen, daß Finkelgrün seinen inneren Frieden gefunden hat. Er ist an seinen Geburtsort zurückgekehrt und erinnert sich dort an einen Moment kindlichen Glücks, den er mit seiner Mutter erlebte: Eine Regendusche auf dem Dach im Ghetto von Schanghai.

    Das Buch "Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung" ist eine spannende und unterhaltsame Lektüre, jedoch keine bequeme. Peter Finkelgrüns Bemühen um Wahrheit und Klarheit, das manchmal an Selbstzermürbung zu grenzen scheint, enthält auch eine Aufforderung an seine Leser: Deckt Täuschungen auf! Unweigerlich werden wir an unsere eigenen Frage-Tabus erinnert, die uns im Wege stehen, wenn wir doch eigentlich gerne mehr über die Geschichte unserer Eltern und Großeltern erfahren würden. Finkelgrüns Geschichte ermutigt uns, diese Tabus zu brechen.