Samstag, 27. April 2024

Ernährungsarmut
Wenn gesundes Essen zu teuer ist

Kein Gemüse und Obst, dafür zu viel Zucker - im wohlhabenden Deutschland reicht das Geld oft nicht für gesundes Essen. Betroffen sind häufig Kinder - mit schwerwiegenden Folgen. Doch die Politik fängt gerade erst an, das Thema ernsthaft anzugehen.

08.03.2024
    Ein übergewichtiges Mädchen stochert in Hamburg) in seiner Nachspeise herum.
    Vor allem Kinder sind in Deutschland von Ernährungsarmut betroffen. Die Bundesregierung will das Problem nun systematisch erfassen. (Markus Scholz, dpa picture-alliance)
    Schon im Jahr 2020 schrieb der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und Verbraucherschutz: „Auch in einem vergleichsweise wohlhabenden Land wie Deutschland gibt es armutsbedingte Fehl- und Mangelernährung und sogar Hunger.“
    An dieser Bestandsaufnahme hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Die Corona-Pandemie und die Inflation haben das Problem noch verstärkt. Während Expertinnen und Experten über Lösungen diskutieren, will die Politik das Problem erst einmal systematisch erfassen.

    Inhalt

    Was ist Ernährungsarmut?

    In der Regel wird von zwei Dimensionen der Ernährungsarmut gesprochen: die materielle und die soziale. Mit materieller Ernährungsarmut wird nicht nur der Mangel an Lebensmittel an sich beschrieben, sondern auch der finanzielle Aspekt eines solchen Mangels.
    Das heißt: Ist genügend Geld vorhanden, um Essen zu kaufen? Dabei geht es nicht nur um die Energiezufuhr, sondern auch um die Qualität der Lebensmittel. Nehmen die Menschen nur Kalorien zu sich oder auch ausreichend Mikronährstoffe in Form von Obst, Gemüse und Nüssen - also gesundes Essen?
    Die soziale Dimension der Ernährungsarmut bezieht sich auf Aspekte gemeinschaftlicher Teilhabe in Bezug auf Essen und Ernährung. Erlaubt es das Ernährungsverhalten einer Person nicht, gesellschaftliche soziale Beziehungen aufzubauen oder Sitten und Gebräuche einzuhalten, dann liegt soziale Ernährungsarmut vor. Beispielsweise wenn man Freunde oder Verwandte nicht mehr zu einem gemeinsamen Essen einladen kann. Oder nicht in der Lage ist, auch einmal außer Haus mit anderen Essen zu gehen und dadurch vom Sozialleben ausgeschlossen ist.

    Was sind die Gründe für Ernährungsarmut?

    Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat der wirtschaftliche Status von Menschen erheblichen Einfluss auf die Gesundheitschancen von Menschen. In der Ernährungsstrategie Deutschlands heißt es: „Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status erkranken häufiger an Adipositas und haben eine kürzere Lebenserwartung.“
    Menschen mit geringem Gehalt geben einen größeren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Lebensmittel aus. Steigen die Preise – wie zuletzt durch die Inflation oder den Ukraine-Krieg – belastet sie das in der Regel stärker.
    Laut dem Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft kann Ernährungsarmut auch von den Fähigkeiten im Haushalt, sozialen Netzwerken oder Krankheiten abhängen. Auch der Bildungsstatus und die familiären Verhältnisse spielen eine Rolle. So korreliert ein höherer Schulabschluss mit einem geringeren Body-Mass-Index. Auch seien ledige Personen ohne Kinder und Alleinerziehende häufiger von Ernährungsarmut betroffen als Paare und Paare ohne Kinder.

    Wie verbreitet ist Ernährungsarmut?

    Während es in den USA und Großbritannien regelmäßige Studien zur Ernährungssituation einkommensschwacher Haushalte gibt, fehlen diese in Deutschland. Auch die Bundesregierung erkennt das in ihrer aktuellen Ernährungsstrategie an.
    Nach Angaben des Bundeszentrums für Ernährung sind rund drei Millionen Menschen in Deutschland von Ernährungsarmut betroffen.
    Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Januar 2024 spart fast ein Drittel der Menschen in Deutschland aus finanziellen Gründen regelmäßig beim Essen. Demnach essen 23 Prozent häufig und 7 Prozent sogar sehr häufig eine günstigere Mahlzeit als ursprünglich geplant.
    Auf die Frage, wie oft sie in der Woche eine vollwertige Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder entsprechenden Ersatzprodukten essen, gaben 11 Prozent an, dass sie nur etwa einmal pro Woche ein solches vollwertiges Essen zu sich nehmen. 6 Prozent der Befragten sagten, das sei lediglich mehrmals im Monat der Fall - 2 Prozent sogar nur etwa einmal im Monat sowie jeweils 1 Prozent noch seltener oder in der Regel nie.

    Redaktionell empfohlener externer Inhalt

    Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

    Dabei gab 29 Prozent der Befragten an, zu wenig Zeit zu haben, um täglich eine vollwertige Mahlzeit zu essen. Zehn Prozent hatten laut eigenem Bekunden schlicht nicht die Möglichkeit, sich selbst entsprechende Gerichte zuzubereiten oder zu organisieren. Immerhin 17 Prozent nannte zu wenig Geld als Grund.
    Laut Daten der Europäischen Union aus dem Jahr 2022 sind 9,6 Millionen Menschen in Deutschland finanziell nicht in der Lage, jeden zweiten Tag eine vollständige Mahlzeit zu essen.

    Welche Auswirkungen hat Ernährungsarmut auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen?

    Der Fachjournalist Martin Rücker sagt:Was junge Kinder an Unter- und Mangelversorgung erleben, das können Sie ihr Leben lang nicht mehr aufholen.“ Gerade für Kinder sei es ein erhebliches Risiko für die kognitive und körperliche Entwicklung, wenn sie nicht ausreichend mit Vitaminen und Mineralien versorgt werden. „Die Menschen werden satt, sie bekommen genug Kalorien, aber der Hunger ist im Verborgenen, weil es einen Mangel an wichtigen Nährstoffen gibt“, so Rücker.
    Wissenschaftlich ist belegt: Das Gehirn benötigt in den ersten drei Lebensjahren ausreichend Mikronährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente und bestimmte Fettsäuren. Ist diese Versorgung nicht gegeben, kommt es zu Wachstumsstörungen im Gehirn und damit zu Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung, sowie zu Sprach- und Sprechstörungen.
    Der Wissenschaftliche Beirat für Ernährung spricht mit Blick auf die Schwangerschaft und die ersten beiden Lebensjahre vom 1.000-Tage-Fenster, indem die „entscheidenden Weichen für die spätere Entwicklung des Kindes und dessen Anfälligkeit für Erkrankungen gestellt werden“.
    Laut einer Studie der Universität Hohenheim leben 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Armut – viele von ihnen sind aufgrund der familiären Situation mangelernährt. Das sei immer dann der Fall, wenn sich Kinder vor allem von Fast Food und anderen vorverarbeiteten Lebensmitteln ernährten. Vor allem die Zahl übergewichtiger Kinder habe durch die Corona-Pandemie stark zugenommen, sagt Susann Weihrauch-Blüher vom Universitätsklinikum Halle.

    Was plant die Bundesregierung gegen Ernährungsarmut

    Am 17. Januar 2024 verabschiedete das Bundeskabinett seine Ernährungsstrategie. „Diese Bundesregierung ist die erste, die Ernährungsarmut als gesellschaftspolitisches Problem anerkennt und ihr den Kampf ansagt“, sagt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Die Grünen).
    In der Strategie mit dem Titel „Gutes Essen für Deutschland“ sind außer der Förderung von Pilotprojekten allerdings noch wenige konkrete Schritte vorgesehen. Vielmehr geht es der Bundesregierung darum, eine „aussagekräftige Datengrundlage“ zu schaffen. Bis Mitte 2024 sollen Daten zu Ernährungsverhalten, Ernährungskompetenz, Gesundheit und demografischen Hintergründen gesammelt werden. Daraus sollen dann konkrete Maßnahmen abgeleitet werden. Die Situation von Kindern und Jugendlichen habe man dabei besonders im Blick.

    Was fordern Experten?

    Mehrere wissenschaftliche Studien sind zu dem Ergebnis gekommen: Der im Rahmen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II, dem sogenannten Bürgergeld, angesetzte Geldbetrag für Lebensmittel reicht nicht aus, um sich davon gesund zu ernähren.
    Im derzeitigen Bürgergeld-Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen von 563,00 Euro monatlich sind 195,35 Euro für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke eingerechnet, d.h. ungefähr 6,50 Euro pro Tag. Bei Kindern bis 6 Jahren werden 3,90 Euro zugrunde gelegt.
    "Damit können Sie satt werden, sich aber nicht vielfältig und gesund ernähren", kritisierte der Vorsitzende des Wissenschaftliche Beirat für Ernährung, Achim Spiller, Vorsitzender des Beirats, im vergangenen Jahr. Damals noch in Bezug auf den alten, niedrigeren Regelsatz, in dem 5,70 Euro für Lebensmittel eingerechnet waren. Die Anhebung der Regelsätze könne die Teuerungsrate insbesondere bei Lebensmitteln jedoch nicht kompensieren, sagen Kritiker.
    Der Wissenschaftliche Beirat für Ernährung empfiehlt seit Längerem, auch Instrumente zu schaffen, über die man Haushalte kurzfristig und unbürokratisch finanziell unterstützen kann. Darüber hinaus rät Spiller der Bundesregierung zu bundesweitem kostenfreien Kita- und Schulessen für ärmere Haushalte. Es gäbe „empirische Belege, dass das gute Wirkung hat“, so Spiller.
    Der Forscher Stefan Wahlen von der Universität Gießen sieht einen möglichen Hebel auch bei der Mehrwertsteuer für unverarbeitetes Gemüse und Obst. Die könne auf null Prozent gesenkt werden. „Das wäre eine viel gerichtetere Steuerungsmaßnahme als mehr Geld zu geben“, so Wahlen. Andere Länder wie beispielsweise Spanien sind diesen Schritt gegangen, um die Verbraucherinnen in der Krise zu entlasten.
    Auch eine Zuckersteuer wie in Großbritannien könnte hilfreich sein. „Die Gewinnmargen sind in der Kategorie Junkfood sehr viel höher als bei Obst und Gemüse“, sagt der Fachjournalist Martin Rücker. Der Markt sei fehlgesteuert und gebe Anreize schlechtes Essen „aggressiv zu vermarkten“ - auch schon bei Kindern. Dem könne man mit einer Zuckersteuer entgegentreten.
    nm, kna