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Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust

Als Günter Grass Anfang des Jahres seinen "Krebsgang" auf den Markt brachte, fanden sich Kollegen, die ganz im Sinne der Marketingstrategie des Verlages trompeteten, dies sei endlich der Roman zum tabuisierten Thema "Flucht und Vertreibung." Hätten sie recherchiert, dann wären sie auf ganze Bibliotheken zu diesem weiten Feld gestoßen. Im Bereich des Sachbuchs liegt allerdings auf den meisten dieser Werke der Staub der fünfziger Jahre und so gesehen, lässt es sich auch wieder als positives Zeichen deuten, dass diese Literatur, die Flucht und Vertreibung von den deutschen Überfällen abstrahierte, in Vergessenheit geraten ist. Wenn die Aufregung sich gelegt hat und die Provokation verpufft ist, wird es Martin Walsers jüngstem Werk "Tod eines Kritikers" vermutlich genauso ergehen. Was aber ist von einer Untersuchung zu halten, die sich die deutsche Literatur und den Holocaust zum Thema wählt und die Überschrift trägt: "Die Sprache des Schweigens."

Heinz Ludwig Arnold |
    Das literarische Jahr 2002 wird von den zwei 75-jährigen Alt-Matadoren des deutschen Literatur- und Debattenbetriebs auf unterschiedlich fiktive Weise majorisiert. Der eine, Günter Grass, nimmt für sich in Anspruch, mit seiner angeblichen "Krebsgang"-Novelle endlich das Thema der deutschen Vertreibung am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg ins allgemeine Bewusstsein gehoben zu haben - und wird dafür vom alten FAZ-Chefkritiker Marcel Reich-Ranicki über den grünen Klee gelobt. Wobei Grass vor allem vergisst, dass dieses Thema bereits in den fünfziger Jahren nicht nur theoretisch "bewältigt", sondern durch praktische Integration erledigt worden ist. Auch literarisch. Offensichtlich hat Grass vergessen oder schlicht nicht gelesen, was unter anderen seine Kollegen Arno Schmidt, Siegfried Lenz, Alexander Kluge, Gert Ledig, Leonie Ossowski, Walter Kempowski, Hans Ulrich Treichel dazu geschrieben haben? Grass war weder der Einzige noch gar der Erste, eher schon ein Nachzügler unter denen, die dieses Thema gründlich bearbeitet haben. Aber Klappern gehört eben auch bei Nobelpreisträgern noch zum Handwerk des Bücherverkaufens.

    Der andere, Martin Walser, wurde durch die massive Vorabkritik seines Paulskirchenlaudators Frank Schirrmacher, seines Zeichens Herausgeber der FAZ, bereits vor Erscheinen seiner literarischen Abrechnung mit dem Grasslobredner Reich-Ranicki gescholten, weil er in seinem noch nicht einmal erschienenen Schlüsselroman "Tod eines Kritikers" sich des hasserfüllten Antisemitismus schuldig gemacht habe.

    Beide Schriftsteller, wie gesagt: Jahrgang 1927, sozialisiert in den dreißiger und vierziger Jahren, am Ende sogar noch Kriegsteilnehmer, haben in ihrem Werk die deutsche Vergangenheit entschieden bearbeitet: Grass vor allem in der Danziger Trilogie, Walser vor allem in Theaterstücken und immer wieder in wichtigen Reden und Aufsätzen. Sie können als Kronzeugen gelten in einem Buch, das sich mit der Bearbeitung der deutschen Vergangenheit durch die deutsche Literatur befasst und das Ergebnis der Untersuchung in seinem Titel zum Ausdruck bringt: "Die Sprache des Schweigens".

    Ernestine Schlant, eine amerikanische Germanistin, hat ausgewählte Bücher ausgewählter deutscher Schriftsteller analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass die meisten deutschen Autoren von den fünfziger Jahren bis in die neunziger Jahre bewusst oder unbewusst geradezu "Strategien einer Sprache des Schweigens" entwickelt hätten, um sich nicht empathisch mit dem Holocaust, dem Genozid der Deutschen am europäischen Judentum, auseinandersetzen zu müssen. Die Reihe der von Schlant zum Beleg ihrer Theorie untersuchten Autoren reicht von Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen über Alexander Kluge und Günter Grass, Alfred Andersch, Hermann Lenz, Peter Härtling, Gert Hofmann bis hin zu Hanns-Josef Ortheil, Bernhard Schlink, Peter Schneider und W.G. Sebald. Nur am Ende des Buchs ist auch, im Zusammenhang von deutschen Reden und Kontroversen, von Martin Walser die Rede. Was verwundert, denn es gibt keinen deutschen Schriftsteller, der sich Zeit seines Lebens so sehr öffentlich mit der unter dem Signum 'Auschwitz' begriffenen deutschen Vergangenheit beschäftigt hat wie Martin Walser.

    Walsers Meinungsspektrum bezeichnet eine gegenläufige Entwicklung zu jener, die Schlant in den von ihr analysierten Texten als zeittypische markiert: Von einer unreflektierten und unbewussten Ablehnung der Verantwortung für den Holocaust zur bewussten Annahme dieser Verantwortung. So notiert Schlants für den Anfang, im ersten Nachkriegsjahrzehnt, nicht nur eine gewisse Ausblendung des Auschwitzthemas oder seine marginale Behandlung, sondern sie schreibt:

    Die Anfangsphase der Adenauer-Restauration war gekennzeichnet von erheblichen Anstrengungen, die im Holocaust begangenen Gräueltaten zu ignorieren, zu verdrängen, zu leugnen oder nicht einzugestehen.

    Dann wurde, im Verlauf der sechziger Jahre und der Revolte der 68er gegen die Generation der Täter und Mitläufer das Thema instrumentalisiert und eingesetzt als: politische Keule der rebellierenden Töchter und Söhne gegen die Elterngeneration. Danach freilich löst sich das Generationenschema, das der Analyse Schlants bis dahin zu Grunde lag, schon auf - denn es gibt auch für Schlant keine generationsspezifischen Merkmale der Auseinandersetzung mit dem Holocaust mehr. Die Kriterien individualisieren sich bei allen von Schlant behandelten Autoren, vor allem bei den jüngsten: Bernhard Schlinks "Vorleser" zeuge noch immer von der "Unfähigkeit zu trauern"; Peter Schneider hingegen sei in seinem Roman "Paarungen" ein "seltenes Kunststück gelungen", indem er noch im holocaustfernsten Text "Juden als Individuen mit eigener Stimme präsentiert"; die Erfüllung ihrer eigenen Voraussetzungen an eine Literatur, die nicht der "Strategie der Sprache des Schweigens" folge, findet Schlant in W.G. Sebalds "Die Ausgewanderten".

    Sebalds Text ist durchtränkt von Bildern des Holocaust und von einer so allgegenwärtigen Sprache der Trauer und Melancholie, dass sie sogar dort vernehmbar ist, wo der Text von anderen Ereignissen und Zeiten spricht.

    Immerhin wird daran deutlich, dass die individuell unterschiedliche Behandlung des Holocaust der literarischen Gestaltung prinzipiell eingeschrieben ist. Und eben diese individuelle oder besser: subjektive literarische Ausformung war auch schon bei den Autoren der unmittelbaren Nachkriegsgeneration zu beobachten. Bedeutende Literatur lässt sich eben nicht über einen vorgegebenen kritischen Leisten schlagen: dann liest man eben nur noch das aus den Büchern heraus, was man vorher theoretisch in sie versenkt hat - die typischen 68er Germanisten haben das zur Genüge vorgemacht, indem sie Literatur nur noch als Belegmaterial ihrer Vorgaben benutzten. Schlants Verfahren ist ihrem nicht unähnlich. Einige ihrer Urteile lassen das schon vermuten: Ihre grundsätzliche Kritik an Grass zielt auf seine individuelle "uneingestandene Unfähigkeit, Affekt und Trauer auszudrücken":

    Grass kann über den Holocaust und die Last der Schuld nur vermittelt sprechen, gefiltert durch die Zeugnisse und die Gesten anderer.

    Böll wiederum, so Schlant, "arbeite bei seinen Beschreibungen vielfach mit dem, was man Klischee nennen muss", und fliehe so in "Verallgemeinerungen, die keine individuelle Rechenschaftspflicht fordern". Dann der so kaum belegbare Vorwurf.

    Der Katholik Böll konnte Juden nur dann zu Hitlers Opfern zählen, wenn sie zum katholischen Glauben konvertiert, weiblichen Geschlechts und ungebunden waren.

    Und über Wolfgang Koeppen heißt es.

    Er rührt in seinem Roman "Der Tod in Rom" an die mit einem strengen Tabu belegte Erkenntnis, dass diese Verbrechen nicht vergehen und künftige, um Selbstdefinition bemühte Generationen von Deutschen heimsuchen werden.

    Nach solchen sogenannten "Erkenntnissen" erzählt Ernestine Schlant etwas über die dokumentarische Literatur und die Radikalisierung der Studentenschaft in den sechziger Jahren. Ich behaupte ja nicht, dass sich die Deutschen sehr willig und einsichtig gezeigt haben bei der Auseinandersetzung mit den "Gräueltaten des Holocaust" - aber kann man wie Schlant behaupten, sie seien in der Bundesrepublik erst "durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965" "publik" geworden? Und zwar, weil "Gerichtsdokumente nicht nur eine Sprache lieferten, sondern auch die Autorität des Faktischen"? Ich jedenfalls habe bereits 1956 als Schüler Alain Renais' Film "Nacht und Nebel" in der Schule vorgeführt bekommen und damals unter anderen zentralen Büchern über den Nationalsozialismus und seine Konzentrationslagersysteme auch John Herseys eindrucksvollen Roman "The Wall" über den Aufstand im Warschauer Ghetto gelesen. Das, zugegeben, war nicht die Regel. Schlant zeigt sich in mancherlei Hinsicht wenig informiert. So schreibt sie - und stellt damit die historischen Verläufe geradezu auf den Kopf:

    Die westdeutschen Behörden, die damals (1968) noch vom Geist autoritärer Unduldsamkeit gegen jede abweichende Meinung erfüllt waren, reagierten auf die Studentenproteste mit den 'Notstandsgesetzen' von 1968, denen sie Anfang der siebziger Jahre den 'Radikalenerlass' folgen ließen, durch den einstige Demonstranten an einem Eintritt in die Beamtenlaufbahn gehindert wurden.

    Da freilich verwechselt Schlant dramatisierend Ursache mit Wirkung. Aber nicht nur ihre historischen Kenntnisse, auch ihre Schlussfolgerungen sind überaus vordergründig und anfechtbar. So kritisiert Schlant - um wenigstens ein ausführliches Beispiel ihrer 'Denkmethode' zu geben - an den ebenso pauschal wie falsch dokumentarisch genannten Stücken von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardts und Peter Weiss:

    Manche dieser Stücke konzentrieren sich auf die Verantwortung der Deutschen für die während des Holocaust begangenen Gräueltaten, doch wurde in Hochhuths Der Stellvertreter auch der Papst ins Geschehen hineingezogen, weil er seine Stimme nicht zugunsten der Juden erhoben hatte, und Soldaten setzte sich mit dem alliierten Bombardement deutscher Städte auseinander. Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer verlegte den Schauplatz in die USA und thematisierte den Gewissenskonflikt dieses amerikanischen Kernphysikers, der zwischen Loyalität zu seinem Land und Protest gegen die Politik seiner Regierung hin- und hergerissen ist. Indem diese Stücke den Blick nicht mehr scharf auf das verbrecherische Handeln der Deutschen richteten, ermutigten sie stillschweigend zu einer vergleichenden Perspektive, für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nichts Einmaliges waren, und milderten insoweit das Urteil über die nationalsozialistischen Täter.

    An diesem letzten Satz spürt man geradezu die trotz aller theoretischen Anstrengungen Schlants unreflektierte Voreingenommenheit, die Versatzstücke von oberflächlichen Meinungen zu Urteilen montiert. Schlants theoretischen Überlegungen, die sie in der Einführung zu ihrem Buch vorstellt, basieren im Grunde auf zwei Voraussetzungen: die eine, unausgesprochene, aber unentwegt das Subtext der sogenannten Untersuchung beherrschende ist jene, wonach alle Literatur, die andere Themen als den Holocaust behandle, vom eigentlichen Thema ablenke und deshalb eine "Strategie der Sprache des Schweigens" praktiziere; die andere operiert mit der Formel, dort, wo die Autoren sich nicht ganz empathisch als Trauernde zeigen, seien sie "unfähig, die für echtes Trauern erforderliche affektive Dimension einzubringen". Weil Ernestine Schlant die Ergebnisse ihrer oft überaus detaillierten Untersuchungen einzelner Autoren und Werke nach solchen Maßgaben deduziert, statt die vorhandenen Formen des Verschweigens und Ausblendens der Holocaust-Thematik, die ja vorhanden sind, auch wenn sie nicht gerade auf wohlüberlegten Strategien beruhen, aus den Texten induktiv zu entwickeln, verschenkt sie ihr wichtiges Thema. Und weil sie zu wenig faktensicher ist, was die historischen Verläufe in der deutschen Geschichte angeht, bedient sie sich zu oft einer Phraseologie aus zweiter Hand. Das ist schade. Denn gerade heute, wo ein so überaus sensibles Thema wie dieses von den Moral- oder Antisemitismuskeulen schwingenden Geschichts-Vereinfachern missbraucht wird, wäre eine Untersuchung hilfreich, die nicht selbst von vorgeprägten Interpretationsmustern ausginge. Denn ihnen erliegen wir ebenso leicht, wie wir uns ihrer oft unbewusst bedienen.

    Heinz Ludwig Arnold über Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, Verlag C. H. Beck, München, 336 Seiten, Euro 24,90.