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Erneuerer des Kinos

Er verstand das Kino als poetischste aller Künste. Nur sieben Filme konnte der Sohn eines Lyrikers realisieren, weil sein Schaffen immer wieder durch eine bornierte sowjetische Kulturbürokratie gehemmt wurde. Am 29. Dezember 1986 starb mit Andrej Tarkowskij ein Künstler, der stets wahrhaftige Bilder des Lebens auf die Leinwand bringen wollte.

Von Florian Ehrich | 29.12.2011
    "Haben Sie Dank für den ‚Spiegel'. Ganz genauso sah meine Kindheit aus. Nur – wie haben Sie davon erfahren können? Genau so einen Wind gab es damals und so ein Gewitter. Und wie wunderbar in Ihrem Film das Erwachen des kindlichen Bewusstseins gezeigt wird! Mein Gott, wie wahr das alles ist."

    Die Ergriffenheit über den Film "Der Spiegel", die aus dem Brief einer Zuschauerin aus Gorki spricht, muss dem Regisseur Andrej Tarkowskij viel bedeutet haben. Denn während seine Filme im Ausland vielfach ausgezeichnet wurden, lebte der am 4. April 1932 geborene Sohn des Lyrikers Arsenij Tarkowskij in seiner Heimat fast wie eine Persona non grata. Zu subjektiv erschienen der sowjetischen Kulturbürokratie die assoziationsreichen Werke eines Mannes, der sich nicht scheute, die eigene Kindheit in seinem Film "Der Spiegel" von 1975 zu thematisieren. Selbstbewusst bezeichnete der Regisseur den Film als die wahrhaftigste und poetischste aller Künste und formulierte ein anspruchsvolles Programm:

    "Mein Ziel ist es, eine Welt zu schaffen, und zwar nicht eine beschädigte oder reduzierte Welt, sondern eine möglichst vollkommene Welt. So vollkommen, wie ich sie empfinde. Kunst beschäftigt sich ausschließlich mit dem Absoluten, deshalb ist es so schwer, sie zu fassen."

    Wie sehr Tarkowskij unter der fortgesetzten Sabotage seiner Kunst litt, zeigen seine Tagebücher, die er unter dem Titel "Martyrolog" veröffentlicht wurden. Am 23. Februar 1972 notierte er:

    "Was ist das bloß für ein merkwürdiges Land, das weder die internationale Anerkennung unserer Kunst noch gute neue Filme oder Bücher wünscht? Wahre Kunst macht ihnen Angst."

    Das Leiden an der Heimat war auch ein Thema in seinem 1965 gedrehten Film "Andrej Rubljow", der in Episoden den Weg des berühmten Ikonenmalers in der Zeit der Tatarenherrschaft und Bruderkriege nachzeichnet. Die Klage des Malermönchs aus dem
    15. Jahrhundert konnte auch als Zustandsbeschreibung der Gegenwart verstanden werden:

    "Russland! Russland! Alle Schrecknisse erduldet mein Heimatland! Soviel muss es ertragen. Soll das noch lange so weitergehen?"

    Mit großer visueller Kraft untersuchte der Regisseur in diesem Epos nach eigenem Bekunden:

    "… das Wesen des poetischen Talents dieses großen russischen Malers. Am Beispiel von Rubljow wollte ich die Psychologie des schöpferischen Tuns verfolgen und zugleich die seelische Verfassung und die gesellschaftlichen Emotionen eines Künstlers erforschen, der ethische Werte von so ungeheurer Bedeutung schuf."

    Andrej Tarkowskij bestand auf der Eigengesetzlichkeit des Kinos und lehnte einen allzu plakativen Einfluss des Theaters, der Bildenden Kunst oder der Literatur auf den Film ab. Das wichtigste Material des Mediums sei die Darstellung der Zeit, wobei diese keinesfalls nur als linear ablaufend zu begreifen sei. Der Filmpoet wollte wahrhaftige Bilder des Lebens auf die Leinwand bringen, und er nahm sich alle Freiheiten zu meditativ-langsamen Einstellungen, Rückblenden und verstörend-schönen Traumsequenzen. Dass immer wieder Pferde, Hunde und besonders Wasser und Regen in seinen Filmen erscheinen, wurde oft als Symbolismus ausgelegt, eine Deutung, gegen die sich Tarkowskij wehrte:

    "Was heißt Symbol? Symbol ist das, was man entziffern kann – eigentlich eine Sache, die antikünstlerisch ist, denn ein künstlerisches Bild ist kein bloßes Rätsel. Ein Rätsel kann gelöst werden. Und auf eben dieselbe Weise erschöpft sich das Symbol. Darin zeigt sich seine Begrenztheit. Wie aber kann ein Bild der Welt durch ein Symbol begrenzt werden, wenn es eine Idee des Unendlichen abbildet?"

    Seine Ideen konnte er zuletzt nur noch im Exil realisieren. 1984 drehte er in Italien den Film "Nostalghia", der sich mit der quälenden Situation eines russischen Exilanten befasst. Weil ihm selbstbestimmtes Arbeiten in der Sowjetunion unmöglich gemacht wurde, kehrte er nicht mehr in seine Heimat zurück. Der Leidensweg Tarkowskijs nahm jedoch kein Ende: Als die sowjetischen Behörden die Ausreise seines Sohnes verhinderten, zerriss unter den Bedingungen des Exils seine Familie. Seinen letzten Film "Opfer" drehte er schwer krebskrank in Schweden ab. Mit Andrej Tarkowskij starb am 29. Dezember 1986 ein Künstler, von dem Ingmar Bergmann sagte:

    "Wenn der Film nicht Dokument ist, ist er Traum. Darum ist Tarkowskij der Größte. Er bewegt sich im Raum der Träume mit schlafwandlerischer Sicherheit, er erklärt nicht. Er ist ein Seher."