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Ernö Zeltner: "Sandor Marai - Ein Leben in Bildern"

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten erinnern nicht nur deshalb an die jugoslawischen Sezessionskriege, weil die Protagonisten einander in fataler Weise gleichen. Hier wie dort versuchen zudem die Führer der Kriegsparteien ihre terroristische Politik mit Verweis auf historische Ansprüche zu untermauern und bedienen sich dabei mythologisierender oder theologischer Argumentationsmuster, die einer rationalen Auseinandersetzung kaum zugänglich sind. "Geschichte Palästinas" ist ein in der Beck’schen Reihe erschienenes Werk überschrieben, in dem die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer den "Schleier" solch religiöser Geschichtsbilder beiseite schieben will. Unsere Rezensentin ist Saskia Heinemann.

Saskia Heinemann |
    Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten erinnern nicht nur deshalb an die jugoslawischen Sezessionskriege, weil die Protagonisten einander in fataler Weise gleichen. Hier wie dort versuchen zudem die Führer der Kriegsparteien ihre terroristische Politik mit Verweis auf historische Ansprüche zu untermauern und bedienen sich dabei mythologisierender oder theologischer Argumentationsmuster, die einer rationalen Auseinandersetzung kaum zugänglich sind. "Geschichte Palästinas" ist ein in der Beck’schen Reihe erschienenes Werk überschrieben, in dem die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer den "Schleier" solch religiöser Geschichtsbilder beiseite schieben will. Unsere Rezensentin ist Saskia Heinemann.

    Auf dem aktuellen Höhepunkt mörderischer Gewalt im Nahen Osten gab der Spiegel in einer Titelgeschichte historische Nachhilfe: Palästina sei "seit 3000 Jahren Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Muslimen, Juden und Christen". 3000 Jahre Glaubenskrieg? Jeder Konfirmant weiß doch, vor wieviel Jahren Jesus geboren wurde, vielleicht sogar, wann Mohammed seine Laufbahn als Prophet begann. Das Jahrtausendproblem des deutschen Nachrichtenmagazins belegt, wie recht Gudrun Krämer hat, wenn sie im Vorwort zu ihrer "Geschichte Palästinas" bemerkt, dass der arabisch-jüdische Konflikt von heute die Wahrnehmung von Vergangenheit präge. Das Vergangene werde zur Vorgeschichte des aktuellen Geschehens verkürzt, zu dem es mehr oder weniger geradlinig hinführe.

    Krämer versucht die Geschichte Palästinas nicht von "ihrem Ausgang her", also der Gründung des Staates Israel, zu schreiben. Hinter dem Wunsch, eine Zwangsläufigkeit von Geschichte zu widerlegen, steht kein theoretisches Konzept, eher ein Versuch der praktischen Vernunft: durch die Dekonstruktion von Geschichtsbildern und -mythen könnte ein Freiraum für eine weniger durch die Fixierung auf Vergangenheit belastete Politik geschaffen werden. Die mörderische Nähe von Geschichte im sogenannten Heiligen Land erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass hier Heilsgeschichten konkurrieren.

    Bevor Krämer in die Chronologie der Ereignisse nach der osmanischen Eroberung Palästinas Anfang des 16. Jahrhunderts einsteigt, beschreibt sie kurz und prägnant, was die Heiligkeit des umstrittenen Landstrichs für die drei monotheistischen Weltreligionen ausmacht. Ergebnis der Mythenproduktion ist etwas, dass man "Geotheologie" genannt hat: das Heilige als Grundlage territorialer Ansprüche. Die kritische Analyse der Konzepte von Heiligkeit wird einleuchtend mit historischen Skizzen verbunden: von Moses und David, Tempelbau und Zerstörung, über die römische und arabische Herrschaft bis zu den Kreuzzügen. Der folgende Hauptteil des Buches umfasst rund zwei Jahrhunderte, von der Spätzeit der osmanischen Herrschaft ab 1750 bis zur Gründung des Staates Israel 1948. Deutsche Karl-May-Leser glauben, die Osmanenherrschaft ganz genau zu kennen: Überall Korruption, Verfall und Faulheit. Krämer plädiert dagegen für Fairness, indem sie detailreich die osmanischen Verwaltungsstrukturen und Reformbemühungen darstellt, schließlich auch die erstaunliche Toleranz gegenüber Andersgläubigen, das so genannte Millet-System.

    Spannungen zwischen Arabern und der jüdischen Minderheit, die weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Palästinas ausmachte, hatten, wie Krämer darlegt, ökonomische Gründe. Dies gelte auch für die Zeit nach der ersten jüdischen Einwanderungswelle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie für die Anfänge der zionistischen Bewegung. Eine Wendung zum Nationalismus sieht die Autorin erst nach der osmanischen Periode in der britischen Mandatszeit. Gab es aber überhaupt eine palästinensische Nation? Folgt man der Autorin, so hat sich das Bewusstsein einer eigenen nationalen Identität der Palästinenser erst in den dreißiger Jahren voll entwickelt. Es entstanden zahlreiche eigene Zeitschriften, Kinos und Theater, Clubs und schließlich auch politische Parteien.

    Die Abgrenzung gegenüber der wachsenden Zahl jüdischer Einwanderer seit der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland beförderte diese Identitätsbildung. Krämer präsentiert kenntnisreich und kritisch zahlreiche Statistiken über demographische und ökonomische Fakten, eine plastische Schilderung der arabisch-palästinensischen Lebenswelt gelingt ihr jedoch nur selten. Dass die Jahre bis 1930 so wenig anschaulich werden, ist ein Hindernis für die von Krämer angestrebte Demontage des bekanntesten Propagandamythos der zionistischen Bewegung: die Juden seien ein Volk ohne Land, das in ein Land ohne Volk eingewandert sei. Land ohne Volk bedeutet nicht Land ohne Bevölkerung, menschenleer war Palästina ja nie. Und zumindest seit 1930, also gerade seit der Zeit der erhöhten jüdischen Einwanderung, lässt sich eine Volks-Identität der arabischen Palästinenser nicht mehr bezweifeln. Krämer spricht sogar von einer palästinensisch-arabischen "Zivilgesellschaft", die sich damals gebildet habe. Der Zweite Weltkrieg und der Völkermord an den europäischen Juden haben die Entwicklung dann in eine andere Richtung gelenkt. Es entstand der dominierende Staat der Juden. Krämers letztes Kapitel über die Gründung des Staates Israel heißt Triumph und Katastrophe. Die katastrophale Seite des Ereignisses, Flucht und Vertreibung der muslimischen Palästinenser beschreibt sie trotz der Kürze ausgewogen. Dabei demontiert sie erneut einen Mythos, den vom Kampf Davids gegen Goliath. In dem sich an die Staatsgründung anschließenden ersten arabisch-israelischen Krieg standen schwache und zerstrittene arabische Truppen einer hoch motivierten und modernen israelischen Armee gegenüber.

    Insgesamt ein nützliches Buch, denn es ist das erste, das eine Gesamtdarstellung der Geschichte Palästinas bietet, dabei die oft vernachlässigte Entwicklung auf arabischer Seite verdeutlicht und außerdem viel Stoff zum Nachdenken über eine alte Frage liefert: wieviel Geschichte nützt den Menschen und wann wird ihr Wachhalten lebensgefährlich?

    Saskia Heinemann über Gudrun Krämer, "Geschichte Palästinas". Beck Verlag, München. 440 Seiten zu 17.90 EUR.