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Ernst Troeltsch und der liberale Protestantismus
Kulturhistorische Erscheinungen ohne Absolutheitsanspruch

Ernst Troeltsch (1865-1923), der vor 150 Jahren geboren wurde, gehört zu den bedeutendsten evangelischen Theologen des Kulturprotestantismus im 19. Jahrhundert. Als Mitbegründer der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule setzte er sich mit gleichgesinnten Wissenschaftlern dafür ein, die Theologie mit religionsgeschichtlichen Methoden zu einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft umzuformen.

Von Alexander Grau | 24.09.2015
    Die Bibliothek der Universität Heidelberg
    In seiner Zeit als Professor für Systematische Theologie in Heidelberg hielt Ernst Troeltsch seinen Vortrag über die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. (picture alliance / dpa / Ronald Wittek)
    "Das Christentum ist in allen Momenten seiner Geschichte eine rein historische Erscheinung mit allen Bedingtheiten einer individuellen historischen Erscheinung wie die andern großen Religionen auch."
    Mit diesen Worten fasst Ernst Troeltsch, damals Professor für Systematische Theologie in Heidelberg, seine bisherigen Überlegungen zusammen. Es ist der 3. Oktober 1901. Er spricht im badischen Mühlacker vor den Freunden der "Christlichen Welt". Das Thema seines Vortrags: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte.
    In seiner Analyse stellt er fest, dass das Christentum eine kulturhistorische Erscheinung ist wie andere auch. Dies ist für viele Menschen nach wie vor eine Provokation. Denn nicht wenige Christen sehen in dieser These einen Angriff auf ihren Glauben. Und manche Theologen meinen in dem von Troeltsch zugrunde gelegten Wissenschaftsverständnis eine Verarmung der Theologie zu erkennen. Exemplarisch betonte etwa Joseph Ratzinger in seiner berühmten Regensburger Rede im September 2006:
    "Einstweilen bleibt festzustellen, dass bei einem von dieser Sichtweise her bestimmten Versuch, Theologie 'wissenschaftlich' zu erhalten, vom Christentum nur ein armseliges Fragmentstück übrigbleibt. Aber wir müssen mehr sagen: Wenn dies allein die ganze Wissenschaft ist, dann wird der Mensch selbst dabei verkürzt."
    Hier hätte Ernst Troeltsch energisch widersprochen. Und das aus zwei Gründen. Zunächst hätte er darauf gepocht, dass auch in der Theologie die wissenschaftliche Rationalität nicht nach Gutdünken und abhängig von dogmatischen Überzeugungen zurechtgebogen werden kann.
    Vor allem aber hätte er in der kühlen und unnachgiebigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Religionsgeschichte keine Verkürzung des Menschen gesehen. Im Gegenteil, der wissenschaftliche Zugriff auf die Religion hat für ihn sogar eine erhebende Wirkung, da er hilft, die inhumanen und fanatischen Aspekte des Religiösen zu überwinden.
    "Die wissenschaftliche Verwandlung der Religion befreit diese aus der Enge, Kleinheit und Unduldsamkeit, aus der Unsicherheit, Verschwommenheit und Einseitigkeit ... zum weiten ruhigen Überblick, zur Größe und Milde der Gesinnung, zur Duldung und Nachsicht, zur Festigkeit und Klarheit der Überzeugung."
    Dabei macht sich Troeltsch keinerlei Illusionen. Die wissenschaftliche Betrachtung der Religion führt zunächst zu Verwerfungen und Verunsicherungen.
    "Die Aufregungen und Schmerzen, die überall der Übergang vom naiven zum wissenschaftlichen Denken mit sich bringt, sind hier am wenigsten zu vermeiden. Aber andererseits gilt auch für die Religion, was überall sonst vom wissenschaftlichen Denken gilt: es verwandelt das unmittelbare Bild, hebt aber die naive Wirklichkeit nicht auf, sondern gibt ihr nur eine veränderte Beziehung und Auffassung."
    Es geht ihm also nicht darum, traditionelle und lieb gewordene religiöse Vorstellungen und Bilder zu zerstören, sondern sie mittels historischer Forschung in einem neuen Kontext zu sehen.
    So stellt er nicht die religiöse Überlieferung oder gar die christliche Religion infrage. Nachhaltig problematisiert er jedoch den Anspruch des Christentums, absolute Religion zu sein, also höchste, endgültige und ewige Gottesoffenbarung. Dieser Anspruch ist unter den Bedingungen historisch-wissenschaftlichen Denkens nicht mehr haltbar.
    "Die Konstruktion des Christentums als der absoluten Religion ist von historischer Denkweise aus und mit historischen Mitteln unmöglich, und in der Unmöglichkeit dieser Konstruktion ist vieles begründet, was sich in der wissenschaftlichen Theologie unserer Tage matt, unsicher und schattenhaft ausnimmt."
    Die Frage nach der Absolutheit des Christentums wird explizit erstmals im Jahre 1900 von seinem Heidelberger Kollegen Friedrich Niebergall aufgeworfen. Angesichts der sich schon damals abzeichnenden Verbreitung nichtchristlicher Religionen in Europa fragt Niebergall, wie die einzigartige Stellung des Christentums begründet werden könne.
    Niebergalls Antwort besteht in einem Verweis auf die Offenbarung. Den Beweis für deren Richtigkeit sieht er vor allem in erfolgreicher Mission. Für Troeltsch ist eine solche theologisch-dogmatische Argumentation jedoch zirkulär. Sie setzt das voraus, was sie beweisen will. Die dogmatische Begründung ist daher in eine historische zu überführen.
    "Es gilt, die allgemeinen religionsgeschichtlichen Methoden, denen wir außerhalb des christlichen Gebietes aller Erfolge verdanken, ... ohne jeden Vorbehalt anzuwenden und zu sehen, was dabei herauskommt."
    Die von Niebergall und anderen konservativen Theologen verteidigte Vorstellung, das Christentum sei höchste oder absolute Religion, erweist sich als das erste Opfer der vorbehaltlosen Anwendung der religionshistorischen Methode. Das Christentum ist - wie die anderen Religionen - ein historisch gewordenes, kulturelles Phänomen
    Aus dieser Einsicht zieht Ernst Troeltsch keine fatalistischen Konsequenzen. Im Gegenteil. Gerade aus der historischen Denkweise folgt für ihn eine Sonderstellung des Christentums unter den Religionen. Um diese zu begründen, verwendet er den Begriff der Höchstgeltung. Diese Höchstgeltung des Christentums liegt in seinem Personalismus. Der Theologe und Troeltsch-Herausgeber Trutz Rendtorff erläutert das so:
    "Das Christentum erscheint im historischen Vergleich als die Religion, die der persönlichen Gottesbeziehung die vergleichbar höchste Bedeutung beimisst. Mit der Herausbildung der Idee der Persönlichkeit hat das Christentum auf die mit ihr verknüpfte Kultur eingewirkt."
    Was das Christentum nach Troeltsch gegenüber anderen Religionen auszeichnet und ihm eine vorläufige Höchstgeltung verschafft, ist also der Gedanke des persönlichen Verhältnisses des Gläubigen zu Gott und damit die Entstehung religiöser Subjektivität und Individualität.
    Erst im Christentum, so betont er, werden die letzten Anteile naturreligiöser Empfindungen überwunden und offenbart sich dem einzelnen Gläubigen ein lebendiger, persönlicher Gott. Damit ist zugleich die Grundlage gelegt für Freiheit, Individualismus und persönliche Autonomie.
    "So muss das Christentum nicht bloß als Höhepunkt, sondern auch als Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion gelten und darf daher im Vergleich zu den übrigen als die zentrale Zusammenfassung und als die Eröffnung eines prinzipiell neuen Lebens bezeichnet werden."
    Größten Wert legt er daher auf die Einsicht, dass durch die Historisierung des Christentums die persönliche Frömmigkeit des einzelnen Christen in keiner Weise herabgesetzt würde. Denn schließlich sei die individuelle Frömmigkeit selbst ein historisches Produkt. Vor allem aber werde die individuelle Frömmigkeit so modernitätskompatibel.
    "Der religiöse Mensch verliert nichts bei einer einfach und schlicht historischen Betrachtung des Christentums, dafür aber wird er andrerseits dadurch frei von allerhand Sorgen und Problemen, die durch ihre künstlichen Lösungen ihn niemals zu rechter Ruhe kommen lassen und in immer neue Künste stürzen."
    Die Sorgen und Probleme, die den modernen Christen aus seiner Sicht nicht zur Ruhe kommen lassen, sind Ausdruck einer Verunsicherung, die vor allem durch die religionsvergleichende Forschung entstanden ist. Dieser Verunsicherung ist aber nicht dadurch zu begegnen, dass man die Augen vor den bestehenden Tatsachen verschließt oder diese einfach leugnet.
    Vielmehr plädiert Ernst Troeltsch nachdrücklich dafür, anzuerkennen, dass auch andere Religionen als absolute Religionen auftreten und sich in ihnen eine ganze Reihe von Gedanken und Motiven finden lässt, die aus dem Christentum bekannt sind.
    "Auch in ihnen ist ja doch Gott lebendig und offenbar, und es ist deutlich genug, dass ihre religiösen Kräfte in den christlichen Gottesglauben und die christliche Idee der Persönlichkeit eingemündet sind und dieser einen mächtigen Zuwachs gebracht haben."
    Wenn er dem Christentum dennoch eine Höchstgeltung zuspricht, so hat er damit keine Abwertung anderer Religionen im Blick. Vielmehr liegt die Höchstgeltung des Christentums gerade darin, gleichsam das Wertvollste aller Religionen zu vereinen und aus der Strenge eines dogmatischen Absolutheitsanspruches zu lösen.
    Persönliche Religiosität, religiöser Subjektivismus und Freiheit sind demnach nicht nur Konsequenzen der historischen und vergleichenden Religionswissenschaft, sondern vor allem innere Forderungen des Christentums selbst. Und es ist allein dieser religiöse Individualismus, der den Anspruch des Christentums untermauert, die bisher höchst entwickelte Religion zu sein:
    "Lediglich in der vollkommenen Individualisierung und Humanisierung der Religion, wie sie in Jesu eigenem Glauben und Erleben und in seiner Forderung an die Seele vorliegt, ... liegt hier die Absolutheit."
    Man könnte das Ergebnis seiner Überlegungen auch paradox formulieren: Demnach liegt die Absolutheit des Christentums darin, eine Kultur hervorgebracht zu haben, die einsichtig macht, dass es keine absoluten Religionen gibt.
    Das bedeutet zugleich, dass das Spezifische des Christentums, sein religiöser Personalismus und Individualismus, loslösbar von jeder konkreten dogmatischen oder institutionellen Erscheinung ist.
    "Die prinzipielle Christlichkeit ist gewahrt, auch wenn sie von den alten Offenbarungs- und Erlösungs-, Alleinwahrheits- und Erbsündentheorien gelöst wird und vermöge dieser Lösung frei und lebendig in die Perspektive des modernen Weltbildes eintritt."
    In letzter Konsequenz ist also nicht ausgeschlossen, dass sich das Christentum auflöst in die Lebenswirklichkeit der Moderne, in ihren Rationalismus, ihren Individualismus und ihren Liberalismus. Für Ernst Troeltsch wäre das kein Verlust, da der eigentliche Kern des Christentums damit bewahrt bliebe.
    Das Christentum ist für ihn jedoch nicht nur kompatibel mit der Moderne, es ist sogar deren Wegbereiterin. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Protestantismus zu, dessen religiöses Denken und Fühlen, nach Troeltsch, die Tore zur Moderne gerade öffnete. Präsentieren wird er diese These von der Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt 1906 auf dem IX. Deutschen Historikertag. Die streng katholische Kölner Volkszeitung mahnte schon im Vorfeld:
    "Hoffentlich behandelt Herr Professor Troeltsch das Thema in einer Weise, wie sie für die Versammlung deutscher Historiker angemessen ist, unter denen sich bekanntlich auch katholische Gelehrte befinden."