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Ernst Troeltsch und der liberale Protestantismus
Der Protestantismus und die Moderne

Ernst Troeltsch (1865-1923), der vor 150 Jahren geboren wurde, gehört zu den bedeutendsten evangelischen Theologen des Kulturprotestantismus im 19. Jahrhundert. Als Mitbegründer der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule setzte er sich mit gleichgesinnten Wissenschaftlern dafür ein, die Theologie mit religionsgeschichtlichen Methoden zu einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft umzuformen.

Von Alexander Grau | 25.09.2015
    Reges Treiben auf dem Potsdamer Platz in der deutschen Hauptstadt Berlin im Jahre 1924.
    Im Berlin der 1920er Jahre - Ernst Troeltsch stirbt am 1. Februar 1923 (picture alliance / dpa / Foto: Ullstein)
    Das Jahr 1906 gehört eher zu den ereignisarmen der Geschichte. Immerhin: Robert Musil veröffentlicht seinen Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless", Gustav Mahler dirigiert das erste Mal seine 6. Sinfonie. Und am 24. Dezember beginnt mit der ersten Radioübertragung durch den Kanadier Reginald Fessenden das Zeitalter der elektronischen Massenmedien.
    Gut 8 Monate zuvor, im April 1906, hatte in Stuttgart der 9. Deutsche Historikertag stattgefunden. Auch das war kein weltbewegendes Ereignis. Aber der Vortrag von Ernst Troeltsch, dem jungen Heidelberger Professor für Systematische Theologie, war vor allem für den selbst gewissen bürgerlichen Protestantismus der Kaiserzeit wie ein Paukenschlag, der nicht zu überhören war. Die katholische "Kölnische Volkszeitung" berichtete:
    "Den Schlusseffekt bildete ein Vortrag von Prof. Dr. Ernst Troeltsch aus Heidelberg über die Bedeutung des Protestantismus in der modernen Welt. Dieser Vortrag war ein Muster der einseitigen protestantischen Geschichtsauffassung, die alle Fortschritte der Neuzeit im Rechts-, Staats-, und Wirtschaftsleben dem Protestantismus gutschreibt und die in ihm enthaltenen zersetzenden Elemente vornehm ignoriert."
    Eigentlich hatte Troeltsch, zur Überraschung der anwesenden Protestanten gerade das nicht getan, was der katholische Beobachter in seinem Bericht ansprach. Dessen Kommentar spiegelt vielmehr noch die Nachwehen des Kulturkampfes wider, mit dem Reichskanzler Bismarck, den Einfluss der katholischen Kirche im neu gegründeten Kaiserreich von 1871 zurückzudrängen wollte. Vor allem aber ist er Ausdruck eines kulturellen Konfliktes zwischen einem der Moderne aufgeschlossenen deutschnationalen protestantischen Bürgertum und dem als rückständig empfundenen Katholizismus.
    Denn nach damaligem protestantischem Verständnis hatte die Reformation die Grundlagen für die Moderne gelegt. Erst die durch Luther initiierte Überwindung des katholischen Mittelalters – so die gängige Vorstellung – hatte die wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Dazu der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf:
    "Protestantische Bildungsbürger feierten die prinzipielle Überlegenheit protestantischer Kultur nicht nur mit Blick auf Universitäten und Schulen, sondern stilisierten auch die neue deutsche Nationalliteratur sowie die höchste Kunst, die Musik, zu Objektivationen protestantischen Geistes."
    In Folge des Kulturkampfes erreichte zugleich auch die Debatte über das Wesen des Protestantismus einen Höhepunkt, die seit der Aufklärung insbesondere von protestantischen Intellektuellen geführt wurde. Dabei erfuhr der Ausdruck "Protestantismus" im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Neudefinition.
    Protestantisch zu sein, bezeichnete nun keine konfessionelle Haltung im engeren Sinne mehr, sondern wurde zu einem mit modernen Vorstellungen verbundenen Konzept von Kultur, das vor allem auf Emanzipation und Autonomie gründete und konfessionelle und religiöse Schranken überwand. So schrieb etwa der Publizist Alfons Paquet 1915:
    "Formal protestantische Strebungen gewinnen gegenüber den hierarchischen Ordnungen selbst im Buddhismus Indiens und Japans und im Konfuzianismus der Chinesen Oberhand. Wir dürfen sie letzten Endes kühn als ein Weiterwirken jener großen Reformation bezeichnen, die vor vierhundert Jahren in Deutschland ihren Ausgang nahm."
    Diesem Triumphbild eines von Wittenberg ausgehenden und über Kalkutta bis Tokio reichenden Siegeszuges einer protestantisch geprägten Moderne hatte Ernst Troeltsch in seinem Vortrag am 21. April 1906 auf dem Historikertag mit Nachdruck widersprochen.
    Zwar unterscheidet Troeltsch zunächst in seinem Vortrag zwischen der katholisch asketischen Autoritätskultur des Mittelalters und der modernen Lebenswelt, die sich durch Autonomie, Individualismus und Optimismus auszeichnet. Dennoch oder gerade deshalb hebt Ernst Troeltsch aber auch hervor:
    "Ein großer Teil der Grundlagen der modernen Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ist völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden, teils einfach als Fortsetzung spätmittelalterlicher Entwicklungen, teils als Wirkungen der Renaissance."
    Kennzeichnend für die Moderne sind nach Ernst Troeltsch das Entstehen von Nationalstaaten, sowie die Entwicklung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Aber auch der Siegeszug der Naturwissenschaften, die auf empirischer Forschung basieren.
    Vor allem aber gründet für Troeltsch die Moderne in einem tief verwurzelten Individualismus. Der über erste Ansätze in der antiken Philosophie weit hinausgeht. Wie schon in seinem Vortrag über "Die Absolutheit des Christentums" fünf Jahre zuvor betont Troeltsch auch hier die Rolle des Christentums für die Entstehung dieser spezifisch modernen Geisteshaltung:
    "Die Grundlage des modernen Individualismus ist die christliche Idee selbst von der Bestimmung des Menschen zur vollendeten Persönlichkeit durch den Aufschwung zu Gott als der Quelle alles persönlichen Lebens und der Welt zugleich."
    Doch für die Kulturentwicklung, die schließlich in die Moderne mündete, war mehr notwendig als der religiöse Individualismus, der mit dem Christentum in die Welt kam. Denn die Moderne ist das Ergebnis eines ganzen Bündels kultureller Einflüsse. Darum hebt Troeltsch hervor:
    "In der heutigen Welt erkennt man Antike und Katholizismus, die sozialen und politischen Eigentümlichkeiten der romanisch-germanischen Völker, die Entstehung der modernen Geldwirtschaft und des Kapitalismus, die spätmittelalterliche Differenzierung der Nationen, die koloniale und maritime Ausbreitung, die Renaissance, die moderne Wissenschaft, die moderne Kunst, den Protestantismus."
    Ernst Troeltsch wehrt sich also gegen jede monokausale Erklärung. Die Reformation ist für ihn nur ein Faktor unter vielen, die zur Herausbildung der Moderne beigetragen haben, auch wenn für ihn dem Protestantismus dabei eine herausragende Stellung zukommt.
    Die Rolle des Protestantismus bei der Entstehung der Moderne ist auch deshalb vieldeutig, weil der Begriff "Protestantismus" selbst unscharf ist. Insbesondere zwischen dem Protestantismus der Reformatoren und dem Protestantismus der Aufklärung sieht Ernst Troeltsch erhebliche Differenzen. Aus diesem Grund unterscheidet er zwischen einem Alt- und einem Neuprotestantismus.
    "Der Altprotestantismus fällt unter den Begriff der streng kirchlich, supranaturalen Kultur, die auf einer unmittelbaren und streng abgrenzbaren, vom Weltlichen zu unterscheidenden Autorität beruhte. Er suchte geradezu mit seinen Methoden diese Tendenz der mittelalterlichen Kirche strenger durchzusetzen, als dies mit dem hierarchischen Kircheninstitut des Mittelalters möglich war."
    Der ursprüngliche Protestantismus der Reformatoren ist für Troeltsch alles andere als fortschrittlich oder gar modern. Dieser Altprotestantismus war noch fest in der Gedankenwelt des Mittelalters verankert und wollte diese Welt durch eine Rückbesinnung auf die Kernbestände christlichen Glaubens, insbesondere auf die Bibel, verteidigen.
    Mit solcher Charakterisierung des Altprotestantismus wandte sich Troeltsch erfolgreich gegen die insbesondere bei liberalen und fortschrittlichen Protestanten beliebte Vorstellung, die Reformation hätte zu mehr persönlicher Freiheit und Emanzipation geführt. Dazu der evangelische Theologe und Troeltsch-Experte Friedrich Wilhelm Graf:
    "Im Anschluss an Troeltsch ist in der Konfessionalisierungsdebatte die hohe Strukturhomogenität zwischen den alten lutherischen, den alten reformierten und den alten katholischen Gemeinwesen im Reich betont worden und das altliberale Dogma zerstört worden, es sei in den altprotestantischen Territorien freiheitlicher als unter katholischer Herrschaft zugegangen."
    In diesem Sinne trug der Altprotestantismus der Reformatoren durchaus reaktionäre Züge. Sein Anliegen war eine strenge Kirchenzucht, der Erhalt der Objektivität des Kircheninstituts, der Sicherheit der Bibel und der staatlich-kirchlichen Ordnung. Der Beitrag des Protestantismus zur Moderne ist also ungewollt, indirekt und bestenfalls mittelbar. Ernst Troeltsch:
    "Von einer Erzeugung der modernen Kultur durch den Protestantismus kann nicht die Rede sein. Nur um seinen Anteil hieran kann es sich handeln. Aber auch dieser Anteil ist nichts Einheitliches und Einfaches. Er ist auf den verschiedenen Kulturgebieten ein verschiedener und auf allen ein mehr oder minder verwickelter und undurchsichtiger."
    Wenn der Altprotestantismus zum Durchbruch der Moderne beigetragen hat, dann unfreiwillig und gegen seine Absicht. Erst die Aufklärung, die entstehenden modernen Wissenschaften und die gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse brachten die im Protestantismus angelegten modernen Kulturelemente zu Entfaltung.
    Entscheidend dafür war, so Troeltsch, die für den Protestantismus grundlegende persönliche Beziehung des Einzelnen zu Gott. Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Gläubigen auf ihr Inneres und führte schließlich zur Ausprägung eines religiösen Individualismus.
    Friedrich Wilhelm Graf:
    "In der Konfrontation mit Gottes Wort war der 'protestantisch Fromme' auf sich selbst zurückgeworfen. Dies förderte im Bereich des Protestantismus die Durchsetzung einer Kultur individualisierter religiöser Reflexivität, die es vergleichbar intensiv in katholischen Lebenswelten nicht gab."
    Um dieser Emanzipation des Einzelnen zum Durchbruch zu verhelfen, bedurfte es jedoch wesentlich mehr, nämlich der wissenschaftlichen, sozialen und ökonomischen Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts
    Solche Modernisierungsprozesse veränderten jedoch nicht nur die europäischen Gesellschaften, sondern auch den Protestantismus selbst. Unter dem Eindruck der Aufklärung befreite sich der Protestantismus von seinen altprotestantischen Vorstellungen und legte die in ihm vorhandenen Modernisierungspotentiale frei. Ernst Troeltsch:
    "Der Protestantismus, der diese Veränderung durchgemacht hat, gewinnt ein neues Verhältnis zur Wissenschaft. Die Konstituierung des Protestantismus als einer mit der Wissenschaft und Philosophie verbündeten Bildungsreligion, erklärt sich von diesen Entwicklungen aus."
    1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Wie viele Zeitgenossen ist auch Ernst Troeltsch zunächst begeistert, wird aber mit zunehmender Kriegsdauer distanzierter und plädiert für einen Verständigungsfrieden. Im Jahr des Kriegsausbruchs erhält er einen Ruf an die Berliner Universität – bezeichnenderweise an die philosophische Fakultät und nicht an die theologische.
    Ernst Troeltsch steht dann anders als viele Intellektuelle seiner Zeit der Weimarer Republik aufgeschlossen gegenüber. 1918 tritt er der liberalen Deutschen Demokratischen Partei bei, ist Abgeordneter der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung und Unterstaatssekretär im preußischen Kulturministerium.
    Im März 1923 soll er als einer der ersten deutschen Wissenschaftler nach dem Krieg eine Vortragsreihe an den Universitäten London, Oxford und Edinburgh halten. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Am Morgen des 1. Februar 1923 ist Ernst Troeltsch plötzlich in Berlin gestorben.