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Ernst Tugendhat - Gegen alle Moden

Seit einigen Jahren feiert Deutschland die Generation der nun 80-Jährigen. Zu ihnen gesellt sich ab März auch der Philosoph Ernst Tugendhat. Nicht ganz so bekannt wie die anderen Impulsgeber jener Generation, hat Tugendhat eine Reihe sehr feinsinniger Werke veröffentlicht.

Von Kersten Knipp |
    "Nachdem nach meiner Überzeugung der Glaube oder ein bestimmter Glaube nicht mehr maßgebend für die Moral ist, stellt sich die Frage: Heißt das, dass wir überhaupt keine Moral mehr haben? ... Dem gegenüber haben wir eine Tradition, die bereits mindestens bis Kant zurückgreift, dass man glaubt, nun auf die Vernunft eine Moral aufzubauen und dabei einen sehr starken Vernunftbegriff unterstellt. Und die Aufgabe scheint mir zu sein, einen einleuchtenden Begriff von der Moral zu entwickeln, die weder religiös noch irgendwie metaphysisch, und sei es auch auf einem Vernunftbegriff, aufgebaut ist, und die auch nicht einfach irgendeinen Relativismus zulässt."

    Das stehen sie nun, die Philosophen, am Ende der Aufklärung und müssen Aufbauarbeit leisten. Gott ist tot, haben sie dekretiert, und kaum einen Philosophen gibt es, der in die großen Abschiedsgesänge nicht eingestimmt hätte. Auch Ernst Tugendhat, am 8. März 1930 in Brünn geboren, hat sich eingefügt in diesen Chor. Die Frage ist nur: Wenn Gott tot ist, was hält dann die Welt zusammen, was sichert ihre moralische Ordnung? Moral sei weder religiös noch metaphysisch begründbar, erläuterte Tugendhat vor einigen Jahren. Wie aber lässt sie sich dann begründen? Frage darum an den am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen lehrenden Philosophen Ludger Heidbrink: Aus welchen Elementen besteht eine tragfähige Moral für Tugendhat?

    "Die besteht darin, dass man gute Gründe hat. Also der Grund seiner Philosophie ist der Grund selbst. Wenn man argumentiert, rational, klar, nachvollziehbar, man muss Dinge die man tut oder die man vor anderen rechtfertigt, gut begründen können. Und da ist Tugendhat ja unbestechlich, er fragt immer wieder nach. Er fragt ja auch bei sich selbst nach, ist das jetzt eine Argumentation, die plausibel ist, die nachvollziehbar ist?"

    Erstaunlich dabei: Die Moral gründet nicht allein auf der Ratio, sondern auch und zuallererst auf dem Gefühl.

    "Tugendhat hat ja auch immer wieder darauf hingewiesen, dass möglicherweise ein starker Grund oder ein starkes Fundament der Moral so etwas ist wie ein angeborenes Mitgefühl oder ein angeborenes Mitleid ... Dieses Mitleiden oder so eine natürliche Solidarität, die hat er immer wieder auch versucht, plausibel zu machen und sich dann in diesem Kreis bewegt, den man letztendlich wahrscheinlich nicht verlassen kann, dass man gute Gründe angeben kann, warum man moralisch handelt. ... Dass man das aber letztlich nicht bis ins Kleinste hinein rational und damit auch verallgemeinerungsfähig begründen kann."

    Dem moralischen Empfinden dennoch eine nachvollziehbare Grundlage zu geben, das hat Tugendhat in seinen Schriften, so etwa in seinen "Vorlesungen über die Ethik" aus den frühen 1990er Jahren, immer wieder versucht. In jener Zeit bezog der Philosoph auch politisch Stellung, und zwar so deutlich und dezidiert wie wenige andere Männer seiner Zunft. Was mag Tugendhat getrieben haben? Für den Düsseldorfer Philosophen Hans Birnbacher ist Tugendhats Engagement eng mit seiner Biografie verbunden.

    "Also dieses Selbstvertrauen der Vernunft kann man meines Erachtens von ihm lernen, und das führt ihn in der Politik nicht nur zu heiklen Themen wie zum Beispiel unserer Einstellung zu dem israelisch-palästinensischen Konflikt oft zu dezidiert pazifistischen Äußerungen, Äußerungen zugunsten des Bleiberechts von Asylanten zum Beispiel, sondern das ist etwas, was möglicherweise mit seinem Außenseitertum auch innerhalb der deutschen Philosophie zu tun hat. "

    Das Außenseitertum: Das ist sein jüdischer Ursprung, der ihn oder besser, seine Eltern in den 30er-Jahren in die Emigration nach Süd-, später Nordamerika trieb. 1949 kehrte Tugendhat nach Deutschland zurück. Die Logik und die Philosophie Heideggers beschäftige ihn zunächst, doch dann interessierte er sich immer mehr für Fragen der Ethik. Alle Menschen sind gleich, heißt es in den großen Texten der Menschenrechte, also müssen sie auch gleich behandelt werden. Und in Ernst Tugendhat, so der Bonner Philosoph Dieter Sturma, findet dieser Gedanke einen seiner aufmerksamsten Fürsprecher.

    "Er ist natürlich interessiert an einer Ausweitung des Gerechtigkeitsgedanken. Also Menschen müssen als gleiche Menschen immer anerkannt werden, und dürfen als solche nicht instrumentalisiert werden. Und diese Instrumentalisierungen, die spürt er auch in vielen praktischen Bereichen auf. Beispielsweise auch in der Auseinandersetzung mit der Sterbehilfe, wo er eben Kant ganz ausdrücklich widerspricht, wenn er sagt, es gibt eben keine Pflicht zur Selbsterhaltung."

    Stärker als Kant nimmt Tugendhat die psychologischen Motive des Menschen wahr. Der Mensch handelt nicht immer rational. Viele Herausforderungen, vor die Menschen sich gestellt sehen, sind nicht intellektueller, sondern psychologischer Natur. Tugendhat hat lange im Ausland, in Nord- und Südamerika, unterrichtet. In Deutschland lehrte er überwiegend an einem ruhigen Ort: in Tübingen, wo er heute noch lebt. Seine Biografie, die Flucht aus Deutschland ebenso wie die späteren Reisen als Dozent, machten ihn jedoch empfänglich für die Probleme der globalen Migration. In Zeiten weltweiter Wanderungsbewegungen lösen sich ethnisch und kulturell homogene Gesellschaften zunehmend auf. Da die meisten Menschen sich aber auf eine eindeutig begrenzte Gruppenidentität stützen, sind sie angesichts der Migration oft überfordert, erläutert Tugendhat.

    "Das große Problem ist, wie weit kann man eine begrenzte soziale Identität bejahen und gleichzeitig einen Universalismus vertreten? Man kann nicht wie man es eine Zeit lang gedacht hat, die Realität der begrenzten Identitäten leugnen wollen. Aber in dem Moment, wo die Identifizierung mit einem begrenzten Kollektiv andere ausschließt, dann führt das zu den Exzessen des Nationalismus bis hin zum Faschismus."

    Doch Tugendhat wäre kein Philosoph, würde er sich mit der psychologischen Trägheit des Menschen abfinden. Denn was zeichnet den Menschen aus? In allererster Linie der Umstand, dass er sich selbst beobachten, und nicht nur beobachten, sondern auch kritisieren kann. Sich selbst zu hinterfragen, dem ersten Eindruck zu misstrauen, nach anderen Deutungsmöglichkeiten des eigenen Lebens zu fragen - diese Exerzitien der unausgesetzten Selbstbeobachtung schätzt Tugendhat sehr hoch. Immer deutlicher, so Dieter Sturma, zeigt sich in Tugendhats Werk,..."

    "... dass er nicht nur ein Zu-sich-Verhalten an den Menschen ausmacht, was uns von anderen Lebensformen unterscheidet, sondern eben auch Möglichkeiten der Distanzierung. Ich kann mich von meinem Wollen distanzieren, was dann natürlich auch den Blick freigibt auf eine entspannte Theorie der Willensfreiheit. Ich kann mich von meinen Lebensplänen distanzieren und fragen, ist das eigentlich das, was ich mir unter einem guten Leben vorstelle, und - das ist jetzt eben der neuere Beitrag von Tugendhat - ich kann mich sozusagen von mir selbst in einer Art und Weise zurückziehen, dass ich mich mystischen Erfahrungen öffne. Das war ja ganz verblüffend, dass dann auch Meister-Eckhard für ihn ein Gesprächspartner würde, das hätte man vielleicht in den 80er Jahren nicht unbedingt erwartet. Aber der Punkt, glaube ich, ist der, dass er hier Fragen des guten Lebens und des Anthropologischen neu bedenkt."

    Tugendhat hat sich immer den philosophischen Schulen verweigert: Von Heideggers Seinslehre wandte er sich dem Rationalismus zu. Dann entdeckte er die Mystik. Eigentlich ist die Mystik eine Erkenntnisform, die im religiös-kontemplativen und eben nicht auf rationaler Erkenntnis gründet. Dennoch interessiert sich der der Rationalist Tugendhat für sie. Denn Mystik ist für ihn ein Versuch, sich in hohem Alter den Realitäten des Lebens zu stellen, eines Lebens, das unweigerlich mit dem Tod endet. Was lässt sich dem Schrecken des Todes entgegenhalten? Die Mystik - vielleicht. Aber es handelt sich um eine nüchterne Mystik. Das kann auch nicht anders sein, befindet Hans Birnbacher. Denn wie bei der Erörterung der Fragen des Lebens setzt Tugendhat auch bei denen des Todes vor allem auf Nüchternheit und die Transparenz der Argumentation.

    "Interessant ist ja sein Aufsatz über die Angst vor dem Tod, die Furcht vor dem Tod. Das ist eine hochbezeichnende Schrift, denn man spürt, hier besteht ein Hintergrund, ein existentieller, ein selbst erlebter Hintergrund; aber andererseits versucht Tugendhat mit dieser Furcht vor dem Tod als Phänomen in einer ganz wissenschaftlich nüchternen und sogar evolutionären Weise umzugehen, indem er betont, man kann die Todesfurcht nicht anders erklären als biologisch, als ein Ausfluss des Lebenswillens, des Überlebenswillens, der einfach ein Teil unserer Natur ist, und ohne den die Menschheit heute wohl nicht überlebt hätte."

    Über den Tod hat Tugendhat vor Jahren ein sehr bewegendes Buch geschrieben. Darin beschreibt der Philosoph das Leben als eines zum Tode - vor allem in den Jahren des hohen, sehr hohen Alters. Die Deutlichkeit, mit er über das Leiden des alten Menschen schreibt, lässt für Sentimentalitäten keine Raum. Aber Sentimentalitäten, so Dieter Sturma, haben in der Philosophie Ernst Tugendhats generell keinen Platz.

    "Die Art und Weise, wie nüchtern Tugendhat über Tod, über Sterblichkeit, dergleichen redet, das hat wenig Tröstliches. Das würde er, denke ich, aber auch vor dem Hintergrund seiner auch frühen philosophischen Beschäftigung, die ja aus der Existenzphilosophie kommen, nicht unbedingt als die Aufgabe er Philosophie ansehen. Aber ein Reflektieren, ein Bedenken: ja. ... Und das kann man auf eine sehr verquere Art und Weise tun, indem man eskapistische Zuflüchte sucht zu irgendwelchen Glücksmodellen. Dem steht aber entgegen, dass der Philosoph diesen Weg nicht offen hält, wenn er ihn sozusagen nicht reflektierend wenigstens plausibilisieren kann. Und wenn ein Philosoph - und das gilt besonders gerade für Tugendhat - sieht, solche praktischen Weg sind nicht begehbar, sind selbstwidersprüchlich, beruhen auf Dogmatismen oder auf nicht wirklich entdeckten Präsuppositionen, die nicht rechtfertigungsfähig sind, dann kann man diesen Weg eben nicht beschreiten, das ist ja kein Wunschkonzert."

    So ist für Tugendhat auch die Mystik kein Weg, vor den Schrecken des Todes zu fliehen oder die Augen vor ihnen zu verschließen. Allerdings eignet sie sich dazu, die Schrecken gedanklich in den Griff zu bekommen, sie auf ein Maß zu reduzieren, dass sich mit ihnen leben lässt. Es ist kein Zufall, bemerkt Hans Birnbacher, dass Tugendhats Bücher über die Mystik zum Spätwerk gehören.

    "Das Thema der Mystik ist ja interessanterweise bei vielen rationalistisch orientierten Philosophen im späten Alter ein Thema, weil sie da gewissermaßen Seiten in sich entdecken, die durch ihre vielleicht etwas einseitige Orientierung an der Vernunft und der Vernünftigkeit von Handlungsbegründungen nicht hinreichend angesprochen wird. ... Und bezeichnenderweise ist ja ein Titel seiner Bücher "Anthropologie statt Metaphysik". Also er möchte sich nicht einlassen auf die in der Tradition der Philosophie dominierende spekulative Rede von Gott, wo Gott ein Gegenstand rationaler logisch-metaphysischer Konstruktionen gewesen ist; sondern er möchte sich auf die unmittelbare Erfahrung, auf den Reichtum unseres inneren Erlebens berufen, setzt sich aber da ganz eindeutig ... von den Konstruktionen ab, die wir aus diesen, sagen wir mystisch oder spirituell getönten Gefühlslagen abzuleiten oder sie damit zu erklären neigen."

    Was aber ist Mystik in der Tugendhat´schen Lesart? Es ist, erklärt der Philosoph, die Erkenntnis, dass man nicht allein ist in der Welt.
    " Man kann sich nur als Ich verstehen, wenn man gleichzeitig im Bewusstsein von anderen und schließlich von einer Allheit, von einem Universum hat. Und dadurch ergibt sich eine Grundstruktur, oder sagen wir, eine Grundbewegung in die menschliche Existenz, dass es einem um sich selbst geht, und dass man andererseits die Möglichkeit hat, sich zurückzustellen und sich für anderes und gegebenenfalls für die Welt zu öffnen."

    Genau diese Haltung führt für Ludger Heidbrink zu einer verstärkten Weltzuwendung, und zwar ganz unabhängig vom individuellen Alter. Die Mystik ist eine Haltung der Demut. Und diese Demut führt nirgends anders hin als in die Fülle des Lebens.

    "Die Grundidee in diesem Buch ist die, dass der Mystiker sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt. ... Ich verliere mich sozusagen in dieser Erfahrung und nehme mich und die Welt immer weniger wichtig. Und in diesem sich-weniger-wichtig-Nehmen gewinnt man ja gleichzeitig eine neue Aufmerksamkeit, für das, was um einen herum passiert, also was auch andere betrifft - je weniger selbst man wichtig ist, umso wichtiger wird der andere. Und das kann meines Erachtens eine Verbindung sein, die vielleicht auch unbewusst wieder bei Tugendhat an die jüdischen Traditionen, an die jüdischen Wurzeln anknüpft. Dass die Moral sehr stark vom Anderen her entwickelt worden ist, also in dieser ... Buber´schen Dialog-Philosophietradition, oder was dann später bei Levinas "der Andere" ist, der im Vordergrund steht."

    Gott ist tot, befand Ernst Tugendhat. Doch die Welt richtet sich an neuen Instanzen aus. Diese sind bescheidener, weniger mächtig, achten auch nicht so eifersüchtig auf die Konkurrenz. Aber dafür, findet Tugendhat, sind sie realer, näher am Leben und Sein. Die Vorstellung eines Gottes mag tröstlich sein - für Tugendhat ist sie eine Illusion. Zum Leben findet die Menschen auf anderen, weltzugewandteren Pfaden.

    "Also ich versuche das so, den Unterschied zwischen Mystik und Religion zu charakterisieren, dass die Religion sich aufbaut auf einer Projektion von Wesen, die einem helfen können. Göttern. Gott. Während der Mystiker diese ganze Dimension der Sorge und dann des Geholfen-werden-Müssen preisgibt und sich zurücknimmt. Aber für mich spielt bei der Entgegensetzung von Mystik und Religion auch eine Rolle, dass ich meine, dass man heute nicht mehr gut an Götter und auch nicht mehr gut an einen Gott glauben kann. Während ich meine, dass dieser mystische Schritt im Sich-zurücknehmen innerhalb der Welt, das ist einer, der uns heute weiterhin offen steht."