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Ernste Fragen

Während meines letzten Gesprächs mit E.M. Cioran beklagte dieser, in Gesellschaft immer weniger am Gespräch teilnehmen zu können, da er nicht fernsehe. Bis heute weiß ich nicht recht, ob er mit seiner Äußerung das Kränkende solcher Begegnungen oder vielmehr sein Außenseitertum hervorheben wollte. Erwin Chargaff, der in diesem Jahr 95 Jahre alt wurde, verbindet mit dem Rumänen nicht allein die Tatsache, daß er keinen Fernseher besitzt, sondern das skeptische bis pessimistische Denken. Eine große Ausnahme stellt Chargaffs Essayistik auch insofern dar, als der Biochemiker - er war Professor an der New Yorker Columbia University - wie kaum ein anderer gegen die Wissensindustrie, die Hybris des Expertentums zu Felde zieht. Ein halbes Dutzend seiner "Warnungstafeln" erschienen hierzulande Anfang der 80er Jahre, manche davon erlebten mehrere Auflagen. Mit einiger Verspätung liegt nun die deutsche Übersetzung der 1986 erstmals veröffentlichten Serious Questions vor, die in der Originalausgabe den bezeichnenden Untertitel An ABC of Skeptical Reflections tragen. Das ABC benennt die alphabetische Komposition des Buchs, das Einträge zum Stichwort ‚Amateure' bis hin zu ‚Zauberflöte' vereint. Diese scheinbar willkürliche Methode der Zeit- und Gesellschaftskritik praktizierten freilich schon Léon Bloy mit seiner Exégèse des lieux communs (Exegese der Gemeinplätze) oder Gustave Flaubert mit seinem Wörterbuch der Gemeinplätze.

Bernd Mattheus |
    Häufig bedient sich Chargaff eines sprachkritischen, d.h. genuin philosophischen Ansatzes, wenn er z.B. den Ausdruck Holocaust auf seine Angemessenheit hin abklopft. Seines Erachtens gehört ‚Brandopfer' als Begriff für die Judenpogrome zu den "Deckbezeichnungen", um das Unannehmbare zu verdrängen oder salonfähig zu machen. Entsprechend geißelt er Holocaust-Gedenkstätten als Manifestationen des schlechten Gewissens: "es gibt Feiern und Aufmärsche, Orgien der Unaufrichtigkeit."

    Millionen unschuldiger Menschen, für welche die Namen Auschwitz, Hiroshima, Nagasaki, Dresden stehen, lassen den konservativen Denker - der übrigens deutschsprachig in Wien aufwuchs - am Projekt der Aufklärung wie an der Möglichkeit der Erziehung des Menschengeschlechts grundsätzlich zweifeln. Er gibt zu bedenken, daß die Konsequenzen einer "mechanistischen Naturauffassung" - der Allmacht des naturwisssenschaftlichen Diskurses - in den Monstrositäten des Nazismus bestehen können. "Die Verdinglichung des Lebens, des Geistes, des Denkens hat schreckliche Fortschritte gemacht. Ist der Mensch", fragt Chargaff, "nur ein Haufen Moleküle, vom Zufall versammelt (welcher vielleicht noch zur Steigerung seiner Effizienz ein wenig umgebaut werden sollte, mit Hilfe der Gentechnik)?"

    Liest er von der geglückten Implantation eines zuvor tiefgefrorenen Embryos, so polemisiert er mit dem Buch Hiob wider die Maxime "alles ist machbar" und den Wissenschaftler in der Rolle des Demiurgen. Steckt hinter allem nicht die Absicht, das fatum abzuschaffen, ist Forschung gleichbedeutend geworden mit dem "Versuch, das Schicksal des Menschen zu ändern, abzuschaffen, was Millionen von Jahren hervorgebracht haben, die Schöpfung nachzubessern. Dieser Versuch wird mißlingen", prophezeit der Autor. Lange vor dem ersten klonierten Schaf und der Dechiffrierung des menschlichen Genoms apostrophierte Chargaff die Gentechnik als "Blasphemie". Seine Argumentation lautet: "Tag und Nacht laden uns die sich verbündenden Sirenenstimmen von Wissenschaft, Kommerz und Politik dazu ein, die Idee von der Einmaligkeit des Menschen preiszugeben, und ich will diesem verderblichen Druck Widerstand leisten." Und solange man sich nicht geeinigt hat, ab welchem Stadium der Zellteilung das menschliche Individuum beginnt, erfüllen Ethik-Kommissionen eine reine Alibifunktion.

    Der Moralist leidet unter der zunehmend unwirtlich gewordenen Welt. Neben der Technokratie - vom Atomkraftwerk bis zum PC - macht er generell die Abwesenheit regulativer Kräfte: "Glaube, Stabilität, Frugalität, Bewußtsein des Menschseins" dafür verantwortlich. "Die Krebszelle ist das einzig gültige Emblem unserer Zeit", diagnostiziert Chargaff bitter. Seine apokalyptischen Töne verdanken sich teilweise der damaligen atomaren Bedrohung, als der kommunistische Block noch existierte, andererseits konnte er von Tschernobyl, das Gemetzel auf dem Balkan, Aids, BSE usf. noch nichts wissen - was beweist, wie selten ein Skeptiker widerlegbar ist. Denn ein illusionsloser Zeitkritiker schließt vom gegenwärtigen Schlechten auf dessen Fortsetzung, wenn nicht gar Potenzierung in der Zukunft. Dem Fortschrittsaberglauben, der ein besseres Leben zu versprechen scheint, hält er entgegen, um welchen Preis technischer Fortschritt zu haben ist. Dieser These würde jeder Öko-Fundamentalist, der Komfort nicht mit Lebensqualität verwechselt, beipflichten, doch Chargaff geht es darüber hinaus um die spirituelle Rettung des Menschen. Denn "die Welt scheint von bewußtlosen Zombies auf Schnäppchensuche bevölkert". Ähnlich stöhnte E.M.Cioran 1981: "Kaum auf der Straße, rufe ich aus: wie perfekt ist doch diese Parodie der Hölle!" Wenn Chargaff das Leben als "ein einziges mafioses Machtspiel" denunziert, zielt er auf unsere zutiefst "korrupte Gesellschaft, in der die Publicity die Wirklichkeit überflügelt, in der das Image das Gesicht überstrahlt, in der Erfolg in Dollars und Wahrheit in Dezibel gemessen wird". Angesichts von Kinderselbstmorden oder Drogenopfern verflucht diese Kassandra den "ganzen Misthaufen einer Welt, die sehr rasch vorankommen möchte, aber nicht weiß, wohin." Der nihilistische Skeptiker zählt freilich zu den Ausnahmeerscheinungen. In diesem ‚schwarzen' Buch findet sich nämlich auch das Credo: "in jedem von uns ist der Messias, und nur in uns." Es widerspricht nicht dem Selbstverständnis des Autors vom Pessimisten als glücklichen Menschen. "Sollten seine schlimmen Erwartungen nicht eintreten", heißt es, "kann er nur angenehm enttäuscht sein".

    Einen unbestechlichen Geist wie Chargaff wünschte man sich als Regierungsberater - aber es scheint sich um unvereinbare Welten zu handeln.