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Erst ein Bier und dann geht's los

Das nordfranzösische Lille galt lange Zeit nicht nur in Frankreich als eine düstere Industriestadt. Das änderte sich spätestens 2004, als Lille europäische Kulturhauptstadt wurde. Doch manchen faszinierenden Ort in der Stadt gibt es schon viel länger.

Von Johannes Kulms | 10.04.2011
    Sonntagvormittag in Lille. Von überallher strömen Menschen auf den weitläufigen Marktplatz von Wazemmes, auf den Gängen herrscht dichtes Gedränge. Durch die Luft weht der Duft von Brathähnchen, die Tische vor den zahlreichen Cafés und Kneipen um den Marktplatz herum sind gut besucht. Auch Edwine und Sabine bereiten sich hier auf den Marktbummel vor:

    "Das ist der Aperitif! (lacht) Wir trinken erstmal unser Bier und dann geht es los. Das hier ist der größte Markt von Lille. Die Stimmung ist hier viel vertraulicher und herzlicher als anderswo."

    Wazemmes war lange Zeit ein typisches Lilloiser Arbeiterviertel, in den letzten Jahren sind aber auch viele Studenten und junge Familien hergezogen. Dreimal in der Woche findet hier einer der größten Märkte Nordfrankreichs statt. Sofian Masreau verkauft auf dem Markt Gemüse und Obst:

    "Das besondere am Markt ist, dass er so kosmopolitisch ist. Es gibt eine große Auswahl an Produkten, zudem ist er sehr volksnah. Wenn viel los ist, dann sind hier an die 700 Händler und alleine morgens kommen über 10.000 Besucher."

    Obst und Gemüse, Matratzen, Kopftücher und sogar Haustiere - auf dem Markt von Wazemmes kann man vieles kaufen. Doch der große Reiz des Marktes besteht wohl in seiner Atmosphäre - und die ist vor allem durch die große Vielfalt der Besucher und Verkäufer geprägt.

    Viele der Markthändler stammen aus Nordafrika. Steht man vor den Ständen mit Couscous, frischer Minze, Fladenbrot und Gewürzen, mag man schnell vergessen, dass man sich in Nordfrankreich befindet, zumal viele Menschen Arabisch sprechen. Einige Meter weiter. An Suzannes Käsestand stehen die Leute Schlange, dabei ist es heute Morgen nur knapp Null Grad.

    "Das ist hier in Nordfrankreich egal, die Leute sind die Kälte gewöhnt. Mein Stand läuft im Winter sogar besser als im Sommer. Denn wenn es kalt ist, essen die Leute auch mehr Käse"

    Eher durch Zufall landete Suzanne auf dem Markt. Eigentlich ist sie studierte Informatikerin. Nach dem Abschluss begann sie als Marktverkäuferin zu jobben - und blieb. Nun hat sie bereits seit über 20 Jahren ihren Käsestand. Wie ein Großteil der Markthändler bezieht auch Suzanne ihre Waren aus dem Großmarkt. Bauern, die ihre eigenen Produkte anbieten, gibt es kaum noch. Marie gehört zu einer der letzten verbliebenen Bauernfamilien. Sie betreibt den Obst- und Gemüsestand zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Ich treffe sie, als sie gerade beim Morgenkaffee in ihrem Stammlokal am Markt sitzt.

    "Als hier im Stadtteil die ersten großen Supermärkte eröffnet wurden, hat das nicht nur die kleinen Geschäfte getroffen, sondern war auch für uns Händler auf dem Markt ein großer Schlag. Seitdem mussten wir immer wieder andere Produkte anbauen, um nicht die Kundschaft zu verlieren."

    Mit 14 Jahren hatte Marie die Schule beendet und beschloss, ihren Eltern als Bäuerin und Marktverkäuferin zu folgen. Die Faszination für den Markt hat sie auch auf ihren Sohn Jean-Michel übertragen. In der Grundschulzeit schwänzte dieser die Samstagsschule, es gab etwas Wichtigeres für ihn:

    "Der Bus zur Schule hielt direkt vor unserem Haus. Mein Großvater wartete dort schon mit seinem Auto. Während die Nachbarkinder in den Schulbus einstiegen, bin ich mit ihm auf den Markt gefahren, um meinem Großvater beim Verkauf zu helfen. Wir kamen dann immer fünf Minuten vor dem Schulbus zurück und ich habe dann so getan, als wenn ich gerade aussteige. Aber irgendwann haben sie das entdeckt."

    Schreien müssen Marie und Jean-Michel schon lange nicht mehr - die Kunden kommen bei ihnen von selbst. Doch dort in der Ecke, wo die meisten Obst- und Gemüseverkäufer stehen, sieht es schon anders aus. An manchen der umliegenden Stände sind die Orangen sorgfältig in Pyramidenform angeordnet, an anderen dominiert das Durcheinander.

    ""So ist doch Markt. Man muss rufen, damit die Leute kommen. Das ist eine Verkaufsstrategie und die gibt es schon seit Jahrzehnten,"

    meint der Marktverkäufer Mathieu. Ob ihn das viele Geschrei nicht anstrenge?

    "Natürlich, aber was gibt es dazu zu sagen? So ist halt dieser Beruf. Aber wenn ich meine Kinder ernähren will, dann sind mir dafür alle Mittel recht."

    Gegen zwei Uhr nachmittags neigt sich der Markt dem Ende zu. Die Händler lassen haufenweise Holzkisten und Kartons mit Obst und Gemüse zurück, die rasch von Marktbesuchern ins Visier genommen werden. Raun kommt einmal die Woche hierher, weil er sich den Einkauf im Supermarkt nicht leisten kann. Das, was Raun an übrig gebliebenem Obst und Gemüse mitnimmt, reicht ihm für eine gesamte Woche:

    ""Die Leute, die hier sammeln, kommen jeden Sonntag hierher. Die Sachen sind doch noch alle gut und kosten nichts. Dann ist irgendwann wirklich Schluss und auf dem leer gefegten Marktplatz wird es plötzlich ganz still. Gut, dass drei Tage später schon der nächste Markt in Wazemmes beginnt.