Donnerstag, 28. März 2024

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Erst rudimentär erforscht

Heutzutage druckt man ihn auf Schlüsselanhänger und Briefmarken, den berühmtesten Mongolen aller Zeiten: Dschingis Khan. Obwohl schon seit etwa 800 Jahren tot, ist er noch heute die mongolische Identifikationsfigur schlechthin. Dabei tut die ungeheure Brutalität, mit der er vorging, um sein Weltreich zu schaffen, seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Er ließ Völker, die sich seinen Heeren widersetzten, gnadenlos niedermetzeln. Innerhalb weniger Jahre radierte Dschingis Khan in der mongolischen Steppe viele Stämme einfach aus.

Von Katharina Borchardt | 15.12.2004
    Michael Weiers: Die Machtübernahme Dschingis Khans hat bedeutet, dass alle früheren in der Steppe herrschenden Gemeinschaften keine Macht mehr hatten, sondern Dschingis Khan als der alleinige Oligokrat die Macht übernommen hatte. Das war einmalig bisher. Eine völlige Umwälzung der gesamten Verhältnisse in der Steppe, die vorher sozial gesehen völlig anders gegliedert war.

    Es entstand eine neue Gruppe: die so genannten Mongolen. Eine Gruppe, die durch Geschenke und Waffengewalt zusammengehaltenen wurde. Als Dschingis Khan 1227 nach einem Sturz vom Pferd starb, erstreckte sich das mongolische Reich über die nördliche Hälfte des heutigen China, die heutige Mongolei, Kasachstan, Afghanistan, Teile von Pakistan bis an den Rand des heutigen Iran. Dschingis Khans Nachfolger Ögödei setzte das Werk seines Vaters fort. Michael Weiers:

    Michael Weiers: Unter ihm kam es zum Europa-Feldzug. Da wurden beispielsweise die russischen Gebiete erobert. Weiter wurde Korea angeschlossen. Dann Vorderasien gesichert. Das war Ögödei. Die wirkliche Eroberung, die großen Eroberungen fanden dann statt zur Zeit des Möngke Khan und zwar nach 1252. Da kam es dann zur Eroberung des gesamten vorderen Orients, sowie der Beginn der Eroberung Chinas und ganz Mittel- und Innerasiens.
    Bis nach Europa drangen die mongolischen Reiter vor. 1241 fand die legendäre Schlacht bei Liegnitz statt, wo sie ein deutsch-polnisches Heer vernichtend schlugen. Ganze Landstriche wurden systematisch geplündert, die Menschen ermordet. Europa stand ihnen offen, doch dann zogen sich die Angreifer plötzlich wieder zurück: Ögödei Khan war gestorben und es musste daheim ein neuer Herrscher gewählt werden. Jeder Clan wollte seinen Einfluss geltend machen.
    Das nun folgende Ränkespiel hatte den Zerfall des Weltreiches zur Folge. Die riesigen Gebiete wurden aufgeteilt. Ihre Geschichte ist bis heute erst rudimentär erforscht. Insbesondere die Auseinandersetzungen mit China begleiteten die Mongolen noch über die Jahrhunderte und blieben bis ins 20. Jahrhundert virulent: Russland die spätere Sowjetunion und China stritten lange Zeit um die Vorherrschaft in der heutigen Mongolei. Bis heute lebt nur ein kleiner Teil der Mongolen tatsächlich auf dem Gebiet der Mongolischen Republik:

    Michael Weiers: "Mongolei" ist ein geographischer Begriff. Es gibt ja viele Mongoleien! Wir haben heute einen einzelnen Staat, der unabhängig ist. Das ist die Mongolische Republik, die frühere Volksrepublik. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Republiken. Es gibt Kalmückien, die Kalmückische Republik, es gibt die Burjatei, die Burjatische Republik, und dann gibt es die so genannte Innere Mongolei, die zu China gehört.
    Die Kalmückische und die Burjatische Republik gehören heute zur Russischen Föderation. Eine "Geschichte der Mongolen", wie der Mongolist Michael Weiers sie verfasst hat, muss darum weit über Staatsgrenzen hinausgehen. Und auch die verschiedenartigsten Quellen heranziehen. Michael Weiers:

    Michael Weiers: Vor allem persische Quellen, es sind arabische Quellen, es sind türkische Quellen, es sind russische Quellen, lateinische, griechische, tibetische und Mandschu-Quellen, die ausgewertet werden, die alle aber in diesem Buch kritisch hinterfragt werden.
    Was möglich ist, da Michael Weiers all dieser Sprachen im Original liest. Darum ist seine "Geschichte der Mongolen" auch eine bemerkenswert vollständige Geschichte politischer Ereignisse und Zusammenhänge. Selbst der interessierte Leser mag manchmal von der Fülle an Namen und Fakten überwältigt sein. Michael Weiers lässt politische Strategien und kriegerische Operationen transparent werden. Der Leser versteht, wie und warum die Khane ihre Entscheidungen getroffen haben. Leider fehlt es oft an sinnlichen Beschreibungen der Orte, der mongolischen Gesellschaft außerhalb des Herrscherclans und ihres Alltags. Von Frauen wird in diesem Buch so gut wie gar nicht gesprochen und damit immerhin die Hälfte der mongolischen Bevölkerung komplett ausgelassen. Das macht das Buch sehr einseitig.

    In seinem Bereich der politischen Ereignisgeschichte stellt es jedoch ein Kompendium umfassenden Wissens dar. Sehr interessant ist bei aller Historie der Teil über aktuelle Politik in der Mongolei:

    Michael Weiers: Sie wurde ein sozialistischer Staat, ein Staat mit Säuberungen, ein Staat, der sich von alldem abgewandt hat und abwenden musste, was sie vorher als ihr Eigen und Heilig angesehen hat. Ein Staat, der sehr, sehr viele Wunden an der Bevölkerung, bis heute, davongetragen hat. Und ein Land, das es sehr, sehr schwierig hat, sich jetzt nach der Umstellung zur Republik eine eigene Identität zu schaffen.
    Nach aller politischer Einflussnahme von außen - zum Beispiel durch China und die UdSSR suchen die Mongolen heute nach einer Identifikationsfigur und finden sie in Dschingis Khan, über den sie selbst - so Michael Weiers - aber gar nicht viel wissen. Damit auf Dauer ein neues Selbstbewusstsein entsteht, muss die eigene Geschichte ohne ideologische Gängelung erforscht werden. Bisher sei dies, so Michael Weiers, von mongolischer Seite aus vernachlässigt worden. Seine breite Auswertung verschiedenster Quellen ermöglicht es, die historischen Ereignisse vom 1. Jahrhundert nach Christus bis ins Jahr 2003 zu überblicken: vom Leben in der Steppe und von den Kriegen über die Gründung der Volksrepublik im Jahre 1924 bis hin zur aktuellen mongolischen Regierung. Die "Geschichte der Mongolen" von Michael Weiers darf darum als herausragender Beitrag zur Erforschung der mongolischen Geschichte verstanden werden.

    Musik: Ensemble Tumbash: "Tungalag tamir", von der CD "Urtyn duu", Vol. III