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Erste freie Wahlen in der Sowjetunion

Sechs Jahre nach Michail Gorbatschows Amtsantritt 1985 zerbrach die UdSSR. Im Jahr 1989 wurden die Weichen für den Niedergang gestellt. Das meint der Historiker Helmut Altrichter, der in seinem neuen Buch die Ereignisse dieses Jahres analysiert.

Von Sabine Adler |
    1989 erlebte der Autor Helmut Altrichter die Sowjetunion als ein mit sich selbst zutiefst beschäftigtes Land. Der für die Deutschen alles verändernde Mauerfall wie auch die denkwürdige Beseitigung der kommunistischen Herrschaft in etlichen Moskauer Satellitenstaaten wurden weit weniger stark wahrgenommen, als es ihrer historischen Bedeutung angemessen gewesen wäre. Was nichts mit Realitätsverweigerung zu tun hatte, sondern vielmehr mit den überbordenden innenpolitischen Schwierigkeiten.

    Somit liegt der Gedanke nahe, dass das Jahr 1989 für die Sowjetunion von geringerer Bedeutung sein könnte als etwa das Jahr 1991, in dem die Sowjetunion zerfiel. Dennoch stellt der Historiker Helmut Altrichter 1989 in den Mittelpunkt seiner Forschungen, weil in jenem Jahr entscheidende Weichen gestellt wurden. Herausragendes Ereignis, das auf immenses Interesse der enorm politisierten sowjetischen Bevölkerung stieß, war der Volksdeputiertenkongress im Mai. Die 2250 Delegierten für dieses höchste gesetzgebende Organ der Sowjetunion wurden zu Beginn des Jahres 1989 in erstmals wirklich freien Wahlen, die sich über Monate hinzogen, bestimmt, bevor sie Ende Mai dann endlich zusammentraten.

    "Der Volksdeputiertenkongress diskutiert über die Lage im Land so offen, wie seit der Revolution nicht mehr und er stellt fest: Es gibt eine Riesen Fülle von Problemen, die von der Partei kaum mehr in den Griff zu bekommen sind. Das Zweite ist, dass dieser Prozess die zentrifugalen Kräfte im Land ungeheuer steigert. Wenn die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit den Problemen fertig zu werden, dann steigert das die Selbstständigkeitsbestrebungen der einzelnen nationalen Gruppen. Und das Dritte ist, es bricht der Sowjetunion die Peripherie weg."
    Die 19. Parteikonferenz im Jahr zuvor wie der Volksdeputiertenkongress 1989 hatten erstmals zur Sprache gebracht, was zwar ohnehin jeder wusste, aber niemand auszusprechen wagte: den Mangel, die Misswirtschaft allerorten, verursacht von korrupten privilegierten Parteifunktionären, die sich Kompetenzen anmaßten, die in keinem Verhältnis zu ihrem Fachwissen standen. Die sich über Tage hinziehende Aussprache wurde von Radio und Fernsehen übertragen. Wie sehr die Menschen Anteil nahmen an dem, was im Sitzungssaal des Kremls debattiert wurde, zeigten die Demonstrationen jenseits der Kremlmauer. Wer nicht nach Moskau reisen konnte, sich dennoch artikulieren wollte, griff zu Papier und Stift. 64.300 Zuschriften erreichten den Volksdeputiertenkongress noch während seines Verlaufs, der sich vom 23. Mai bis zum 7. Juni erstreckte.

    Zum allerersten Mal wurden offen Angaben zum Verteidigungshaushalt gemacht, womit ein weiteres jahrzehntelanges Tabu fiel. Debattiert wurden die gewaltsame Niederschlagung der Ausschreitungen in der georgischen Sowjetrepublik, das Austrocknen des Aralsees – eine ökologische Katastrophe, der Krieg in Afghanistan, aus dem nach zehn vergeblichen Jahren die letzten sowjetischen Truppen im Februar 1989 abgezogen worden waren. Altrichter zeichnet den Verlauf des Volksdeputiertenkongresses minutiös nach und erschließt damit dem interessierten Leser ein außerordentlich facettenreiches Kaleidoskop der damaligen Sowjetgesellschaft. Ohne jede Eile widmet er sich einzelnen Streitpunkten, die schwere innersowjetische Konflikte in jener Zeit offenbarten, die noch lange nachwirken sollten. Zudem wirft der Historiker ein Licht auf den sich weiter vertiefenden Graben zwischen dem ambitionierten Generalsekretär Michail Gorbatschow und seinem Widersacher Boris Jelzin.

    "Jelzin war ein Populist, der auch angetrieben worden ist natürlich von der Rivalität mit Gorbatschow. Von Sacharow - er schreibt es ja auch in seinen Memoiren -, also dem großen Vertreter für Menschenrechte in Russland, entstammt auch der Satz, dass Jelzin bis zu einem gewissen Grade eine Anti-Gorbatschow-Autorität hatte, die daraus ihre Wurzeln zog, dass alle die, die gegen Gorbatschow waren, eben Jelzin unterstützt hatten, als den wortgewaltigsten Gegner."
    Eine Feindschaft, die über Jelzins Tod hinaus besteht, die, darauf angesprochen, den in Deutschland so verehrten Gorbi von einer gänzlich unbekannten Seite zeigt. Kann sein einstiger Bezwinger ihm heute auch nichts mehr anhaben, so will die Kritik an beiden doch noch immer nicht verstummen. Die jüngste äußerte der Vorsitzende des Föderationsrates Sergej Mironow, der Gorbatschow vor wenigen Monaten wegen der Abrüstungsverträge, die dieser 1991 unterzeichnet hatte, heute des Vaterlandsverrats bezichtigte.

    "Ich höre das jetzt 20 Jahre lang. Halten Sie doch ein öffentliches Tribunal ab. Hängen Sie mich auf. Nur bitte, wenn Sie das schon tun, dann bitte nicht für das, was Jelzin angerichtet hat. Und bitte, wenn Sie mich aufhängen wollen, dann bitte weit von Jelzin entfernt! Es ist wirklich schade, dass solche Leute heute derartig wichtige Posten in unserem Land bekleiden."
    Gründe, warum Gorbatschow noch immer derart aus der Reserve zu locken ist, finden sich auch in Altrichters Buch "Russland 1989".

    "Ohne den Gorbatschow gäbe es den Jelzin nicht. Die wichtigere Figur ist ganz sicher Gorbatschow, weil der Prozess, der dann zu der Auflösung der Bipolarität der Welt führt, nicht von Jelzin, sondern von Gorbatschow angestoßen worden ist. Es war jemand, der mit einer gewissen Naivität zunächst an das Riesenproblem herangegangen ist, aber, der überzeugt davon war, man kann das schaffen, wenn man die Bevölkerung mitnimmt. Das Verdienst von Gorbatschow ist, nachdem sich dieser Prozess nun einmal eingestellt hat, er diesen Prozess auch hat weiterlaufen lassen. Das ist, glaube ich, sein Verdienst, des sozusagen gelernten Demokraten, der er dann geworden ist. Ein demokratischer Staat in unserem Sinne war die Sowjetunion vorher nicht gewesen."
    Dass Russland den Weg zur Demokratie bis heute nicht zurückgelegt hat, verwundert angesichts der übermenschlichen Probleme, vor denen es schon 1989 stand, nicht. Der selbstkritische Umgang mit der eigenen Geschichte bereitet bis heute Schwierigkeiten, die Altrichter schon bei Gorbatschow 1989 beobachtete. Obwohl der bereits mehrere Jahre an der Macht war, zeigte er sich bis 1989 wankelmütig, schreckte bei aller Glasnost – Offenheit – vor einer allzu schonungslosen Aufarbeitung noch zurück, weshalb die Menschenrechtsorganisationen Memorial, von Andrej Sacharow gegründet, selbst bei Gorbatschow noch einen schweren Stand hatte.

    Sie wurde in jenem Jahr gegründet mit dem Ziel, den Repressionsopfern des Stalinismus ein Denkmal zu setzen, ihre Schicksale zu erforschen sowie neue Menschenrechtsverletzungen nicht zuzulassen. Dass heute auf ihre Mitarbeiter in Tschetschenien und Moskau Mordanschläge verübt werden, siehe Natalja Estemirowa oder Stanislaw Markelow, hätte selbst bei allzu pessimistischen Voraussagen 1989 wohl niemand vermutet. Helmut Altrichter bleibt strikt in jener Zeit, darauf vertrauend, dass der informierte Leser die Linien ins Heute selbst ziehen kann. Die Rechnung geht auf.

    Sabine Adler war das über: Helmut Altrichter: "Russland 1989 – Der Untergang des sowjetischen Imperiums". Erschienen ist das Buch bei C H. Beck, es hat 448 Seiten und kostet 26 Euro 90.