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Erste Zuschauerin ihres eigenen Tanzes

Louise Lecavalier erfand Mitte der 80er-Jahre den "Barrel Jump": ein Sprung, eine horizontale Drehung durch die Luft und eine Landung in den Armen des Tanzpartners. Seit einigen Jahren choreografiert sie nun eigene Stücke. Ihre aktuelle Arbeit "So Blue" wurde jetzt im Tanzhaus NRW in Düsseldorf uraufgeführt.

Von Nicole Strecker |
    Sie brachte ein Zeitgefühl auf die Bühne: 'Nichts mehr kannst du in deinem Leben kontrollieren – außer dich selbst.' Louise Lecavalier, einst winziges Wurfgeschoss der kanadischen Turbotanzgruppe La La La Human Steps. Heute 54-jährige Solistin, geschätzte 40 Kilogramm leicht, aber kein Zentimeter ihres Körpers, der nicht aus harter Muskelmasse bestünde. Ein Leib wie ein Panzer, noch immer, doch ihr Glaube an seine absolute Kontrollierbarkeit ist längst brüchig geworden. Wie viel Macht hat eine Tänzerin über ihren Körper, scheint sie nun in ihrem aktuellen Stück "So Blue" zu fragen. Was leistet der Geist im Tanz, was der Körper – und: Gehört ihr ihr Körper überhaupt?

    Der Ethno-Techno des türkischen Musikers Mercan Dede, der auch schon Soundtracks für Filmregisseur Fatih Akin komponiert hat, wummert so gewaltig als ginge es hier darum, Menschenmengen zu bewegen. Dabei steht nur sie im weit geöffneten leeren Bühnenraum: Eine kleine Gestalt in dunklen Trainingsklamotten, markante Gesichtszüge und Kurzhaarfrisur mit Tolle lassen sie wie David Bowie aussehen, den sie einst auf einer Tournee als Tänzerin begleitete. Vor drei Jahren noch hatte Louise Lecavalier mit langen blonden Locken und scheuem Blick elfenhaft-feminin gewirkt. Doch wie Virginia Woolfs "Orlando" muss sie in der Zwischenzeit wieder einmal eine Metamorphose durchlaufen haben. Weg ist der Weichzeichner, die sanfte Melancholie. Es bleibt eine kalte Wut, die Sucht nach Leistung und ein Tanz so hart und wild, als gelte es, die inneren Dämonen herauszuschleudern.

    Zornig in die Luft schlagende Fäuste, doch die Arme sind gekreuzt als wären sie gefesselt. Ein sich schüttelnder Leib wie ein heftiges Weinen, kickboxende Beine. Jede Bewegung wird mehrfach wiederholt als leide dieses Geschöpf am Tanz-Hospitalismus, als sei sie weniger Willens- als Instinktkreatur. Bis hierhin könnte ihr Solo noch eine allgemeine Reflexion über Stress und Selbstaufgabe sein, über körperliche Extremzustände und das Gefühl des fremdbestimmten Lebens. Doch für Lecavalier ist nun mal der Weg vom zeitgenössisch-hektischen Wuselwesen zur La-La-La-Human-Steps-Tänzerin nicht weit. Und offenbar kann sie sich den sarkastischen Kommentar zu den Highspeed-Duos ihres früheren Choreografen Édouard Lock auch nicht verkneifen. Dem wurde schon öfter vorgeworfen, seine Tänzer ähnelten entseelten Kampfmaschinen. Das bestätigt nun auch Locks Ex-Muse Lecavalier. So assistiert ihr in der zweiten Hälfte des Abends Tänzer Frédéric Tavernini beim Tanz-Tremor, ein bärtiger Hüne, an dessen Körper Lecavalier nun mit stich-schnellen Armen demonstriert, wo und wie sie einst die Männer ihrer früheren Kompanie attackierte. Der Tanzpartner – eine Art lebende Gummizelle für den hyperaktiven Star. Nur gelegentlich greift Tavernini nach ihr und schleudert sie kurz wie eine Puppe um sich.

    Ironisch entlarven die beiden Tänzer so den Stumpfsinn, der in einer bloßen Techniksteigerung liegt. Doch ganz gleich, wie exaltiert sich der Körper an diesem beeindruckenden Abend gebärdet – Louise Lecavaliers Gesicht bleibt immer hellwach. Nie gerät sie wirklich in einen Rausch, vielmehr ist sie die erste Zuschauerin ihres eigenen Tanzes. Ein analytischer Geist verfolgt die Konvulsionen seines Körpers – in einer Ekstase ohne Erlösung.

    Die Musik zitiert orientalisch-spirituelle Motive und Lecavalier krabbelt auf allen Vieren, als wolle demütig den göttlichen Bewegern huldigen, aber doch so insektenhaft schnell als sei sie weniger Willens- als Instinktkreatur.

    Dann verharrt sie minutenlang in einem Kopfstand, ihr Shirt verrutscht und entblößt ihren Oberkörper: Sixpack, Rippen, Hüftknochen und ein heftig pumpender Bauch, der im grünlichen Licht wie ein eigenständiges Wesen aussieht.