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Erstmals Kurdenfraktion im türkischen Parlament

Innenpolitisch bleiben auch nach der Wahl in der Türkei viele Unwägbarkeiten- zum Beispiel die Kurdenfrage. Deren Abgeordnete werden erstmals in Fraktionsstärke ins neue Parlament einziehen. Dort schlägt ihnen allerdings noch viel Misstrauen entgegen, von Seiten der Nationalisten genauso wie aus der moderat islamischen AKP. Kommenden Samstag tritt das neue Parlament nun erstmals zusammen. Für manche Abgeordnete ist das - im wörtlichen Sinne - eine Befreiung. Aus der Türkei berichtet Susanne Güsten.

    Großer Jubel vor der Haftanstalt in Gebze, einer Kleinstadt am Marmara-Meer im Nordwesten der Türkei. Tausende Kurden sind aus Istanbul angereist, um diesen Moment mitzuerleben. Eine Weile muss die Menge noch warten, dann öffnet sich endlich eine kleine Türe in dem Gefängnistor und eine junge Frau im weißen T-Shirt fliegt regelrecht über die Schwelle der Haftanstalt hinaus in die Arme ihrer Freunde und Verwandten.

    Neun Monate hat Sebahat Tuncel hier in Untersuchungshaft gesessen, weil sie Mitglied der kurdischen Terrororganisation PKK sein soll. Jetzt ist sie Volksvertreterin der türkischen Republik und damit vor der Strafverfolgung immun. Mit einem Direktmandat aus Istanbul gewählt, zieht Sebahat Tuncel aus dem Gefängnis in Gebze um ins Parlament nach Ankara. Ihre ersten Worte als Volksvertreterin spricht die 32jährige direkt vor der Haftanstalt:

    "Unser Volk hat mir eine wichtige Aufgabe im Kampf um Frieden und Demokratie übertragen. Ich glaube, dass ich dieser Aufgabe gerecht werden kann."

    Als unabhängige Kandidatin war Sebahat Tuncel für die Parlamentswahlen angetreten, ebenso wie Dutzende weitere Anhänger der Kurdenpartei DTP, die vom türkischen Staat als politischer Arm der PKK betrachtet wird. Weil die Kurdenpartei die landesweite Zehn-Prozent-Hürde zum türkischen Parlament als Regionalpartei nicht überwinden kann, hat sie es diesmal so versucht - mit Erfolg. Insgesamt 23 Kurdenvertreter ziehen nun mit Direktmandaten ins türkische Parlament ein und bilden dort eine eigene Fraktion - die erste kurdische Fraktion in der Geschichte des türkischen Parlaments.

    Mit einem schier endlosen Autokonvoi wird die frischgebackene Abgeordnete im Triumphzug nach Hause begleitet. Auf dem Platz vor dem Gefängnis geht die Feier inzwischen weiter - die Kurden singen, tanzen und feiern, bis die Polizei Reizgas in die Menge schießt und sie auseinander treibt. Ein rüdes Ende für ein freudiges Ereignis - und eine Erinnerung daran, dass die neue Fraktion im türkischen Parlament nicht mit offenen Armen erwartet wird. Ablehnung schlägt ihr vor allem von der ultranationalen Partei MHP entgegen, die mit der Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe für PKK-Mitglieder den Sprung ins Parlament geschafft hat. Warnende Worte kommen aber auch von Ministerpräsident Erdogan von der konservativen AKP:

    "Wenn diese Abgeordneten die Kurdenfrage politisieren wollen, dann werden wir dem entgegentreten. Wir werden jedenfalls mit niemandem zusammenarbeiten, der die separatistische Terrororganisation PKK als seine Basis betrachtet oder sie unterstützt."

    Mit Nervosität wird in Ankara insbesondere auf die konstituierende Sitzung des neuen Parlamentes geblickt - und darauf, wie sich die neuen kurdischen Abgeordneten beim Amtseid verhalten werden. Vor allem Sebahat Tuncel erinnert viele Türken an Leyla Zana - eine kurdische Abgeordnete, die vor 16 Jahren ins Parlament gewählt wurde. Zana löste damals einen Skandal aus, als sie zur konstituierenden Sitzung mit den kurdischen Farben im Haar erschien und ihrem Amtseid zwei kurdische Sätze hinzufügte. Den Auftritt büßte sie mit zehn Jahren hinter Gittern, erst vor wenigen Jahren wurden sie freigelassen. Der Fall schadete dem Ansehen der Türkei im Ausland wie kaum ein anderer. Fast flehentlich appelliert der designierte Parlamentspräsident Cemil Cicek deshalb an die neuen Parlamentskollegen, sich besonnen zu verhalten:

    "Sie müssen das Parlament als Dach verstehen, unter dem Probleme gelöst werden können, sie dürfen das Parlament nicht zur Arena für Kämpfe und Spannungen machen. Wenn sie das doch tun, dann werden wir alle verlieren."

    Das sieht die Kurdenpartei genauso. Konflikt oder Konfrontation werde die neue Kurdenfraktion im türkischen Parlament nicht suchen, sagt der Parteivorsitzende und designierte Fraktionschef Ahmet Türk:

    "Wir wollen im Parlament unseren Beitrag zur Demokratisierung der Türkei leisten. Wir wollen die Spannungen überwinden, wir wollen die Kultur des Konfliktes und der Gewalt ausmerzen und wir wollen dazu beizutragen, das Kurdenproblem und alle Probleme des Landes mit demokratischen und zivilen Mitteln zu lösen.
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