Heinemann: Herr Vogel, wenn ein normaler Bürger umzieht, dann verspricht er sich etwas davon – ein berufliches Fortkommen, eine bessere Wohnung, was auch immer. Wir hören stattdessen dauernd, es bleibe alles beim alten. Hätte man dann dem Land den Umzug und den Steuerzahlern viel Geld nicht ersparen können?
Vogel: Herr Heinemann, wenn ein normaler Mensch umzieht, dann hat er natürlich Erwartungen und hat Gründe für den Umzug. Aber er wird doch nicht ein ganz anderer Mensch, er ist doch vor und nach dem Umzug durch seine Identität geprägt. Und so – meine ich – wird es auch mit dem Umzug der Bundesregierung und des Bundestages nach Berlin sein. Die Grundstrukturen unserer Republik, die sich in 50 Jahren herausgebildet haben, die werden sich nicht durch den Umzug – wenn die Kisten nachher eingetroffen sind – schlagartig ändern. Natürlich erwartet man sich etwas von dem Umzug. Man erwartet sich beispielsweise, daß dadurch der innere Einigungsprozeß, der sich ja als schwieriger darstellt, als wir das seinerzeit erwartet haben, gefördert wird. Man erwartet, daß die Politik den aktuellen Problemen – etwa des Zusammenwachsens der beiden Teile von Berlin – ein deutliches Stück näher ist, und daß auch der Bundestag und die Bundesregierung dadurch, daß sie der deutschen Ostgrenze ein ganzes Stück nähergerückt sind, die Augen noch weiter öffnen für das östliche Mitteleuropa und für Osteuropa. Aber es ist nicht eine andere Bundesrepublik durch den Umzug plötzlich.
Heinemann: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat gesagt, man nehme den politischen Stil mit vom Rhein an die Spree, Politik ohne Pomp und Protz. Wird in einer 4-Millionenstadt nicht automatisch alles protziger und pompöser?
Vogel: Das muß nicht sein. Also, ich kann ja auch ein bißchen über die Besonderheiten in Berlin reden, obwohl das jetzt schon eine ganze Zeit zurückliegt. Da würden mir andere Begriffe einfallen, etwa für die Berliner und ihre Eigenarten, als die Begriffe Protz. Natürlich: Wenn man im Jahr 1992/94/98 baut, dann baut man anders als in Bonn vor 50 oder vor 30 Jahren gebaut worden ist. Aber Protz – ist der Reichstag protzig? Ich glaube, das kann man nicht sagen. Im Gegenteil. Er hat eine gewisse – durch die Kuppel – Leichtigkeit und Offenheit. Das einzige Gebäude, wo ich etwas Sorge habe, das ist das Bundeskanzleramt. Das habe ich mir neulich mal angesehen. Also, da könnte einem das eine oder andere der beiden Adjektive, die Sie nannten, in den Sinn kommen. Aber sonst habe ich eigentlich dafür keinen Anlaß gefunden.
Heinemann: Bleiben wir noch einmal beim Stil. Die Bundesregierung – dies nur mal als Beispiel – will EU-Ratstreffen boykottieren, wenn dabei nicht deutsch gedolmetscht wird. Stehen öffentliche Drohungen der deutschen EU-Politik gut zu Gesicht?
Vogel: Also, das hat mich etwas erschreckt, als ich das in der Zeitung gelesen habe. Mag sein, daß ich die Hintergründe nicht kenne, aber das war bisher in den Jahrzehnten deutscher EU- und vorher EG-Zugehörigkeit nicht üblich. Im übrigen: Ich hätte in so einem Fall zu einer pragmatischen Lösung geneigt und hätte noch einen Dolmetscher mitgenommen, der vom Finnischen ins Deutsche übersetzt. Und das hätte man ja wohl nicht zurückgewiesen. Damit drohen, daß man nicht kommt – also ich weiß nicht.
Heinemann: Herr Vogel, im Bundestag haben mehr und mehr die Enddreißiger, die Vierziger und die Anfang-Fünfziger das Sagen. Was macht diese Generation anders als Ihre Politikergeneration?
Vogel: Ja, da muß ich vorsichtig sein, damit man gerecht urteilt. Man ist ja als Älterer immer der Versuchung ausgesetzt, daß man es früher besser gefunden hat. Davon kann keine Rede sein. Ich sag es mal so: Die jungen sind doch viel beweglicher, und es ist überraschend – aber das gilt nicht nur für die Enddreißiger, das gilt schon auch noch oder schon für die bis in die 50-er Jahre hinein – man ist immer wieder überrascht, was sie plötzlich für möglich halten und dann am nächsten Tag aber auch wieder korrigieren, wenn sie meinen, es sollte korrigiert werden. Wenn ich an Willy Brandtdenke, etwa die Ostpolitik, oder an Helmut Schmidt, oder auch – den muß man durchaus in dem Zusammenhang jetzt mit Respekt nennen – an Helmut Kohl, dann waren durchgehende Linien deutlicher zu erkennen. Aber das neue Verfahren muß nicht unbedingt schlechter sein. Es kommt auf die Ergebnisse an.
Heinemann: Heißt beweglich – prinzipienlos?
Vogel: Das haben Sie jetzt gesagt. Es kann in Prinzipienlosigkeit übergehen, wenn es exzessiv betrieben wird. Aber das ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mein Urteil.
Heinemann: Pünktlich zum Umzug fordert Wolfgang Thierse ein neues Programm für die SPD. Dort hinein gehören die Erfahrungen der Vereinigung und die der Regierungsverantwortung. Stimmen Sie dem zu?
Vogel: Ja, also auch schon in das Berliner Programm sind natürlich die Erfahrungen der Regierungsverantwortung der sozial-liberalen Koalition eingegangen. Also, das ist nichts völlig neues. Ja, ich habe gar nichts dagegen, daß eine Diskussion über programmatische Fragen stattfindet und daß das dann eines Tages auch in einem neuen Programm mündet. Aber bitte eine breite Diskussion und nicht ein paar Äußerungen und Texte – und das war es dann. Da stimme ich Thierse zu.
Heinemann: Stichwort ‚Äußerungen‘ und ‚Texte‘. Gerhard Schröder und Tony Blair sind gegen die staatliche Rundum-Versorgung und für mehr wirtschaftliche Dynamik. Heißt das übersetzt in die Sprache der SPD: Mehr Kapitalismus wagen?
Vogel: Also, ich kann mit der staatlichen Rundum-Versorgung – so als Begriff – nichts anfangen. Die Behauptung, wir hätten in der Bundesrepublik eine staatliche Rundum-Versorgung, die erscheint mir doch etwas hochgegriffen. Im übrigen: Das Papier ist insofern seltsam, als daß man darin fast alle Standpunkte und durchaus auch Positionen aus unserem Berliner Grundsatzprogramm finden kann. Was mich ein bißchen wundert, ist das hohe Maß an Kritik, das in diesem Papier an den Regierungen Willy Brandt und Helmut Schmidt geübt wird, und möglicherweise sogar an den ersten Monaten der Regierung des jetzigen Bundeskanzlers. Also, das bedarf alles der Diskussion. Aber wenn das Papier einen Anstoß gibt zu Beschäftigung mit programmatischen Fragen: Sehr gut. Aber es kann höchstens ein Anstoß sein. Außerdem wäre meine Empfehlung: Wenn wieder an eine solche Arbeit gedacht wird, daß man dann auch Lionel Jospin einbezieht, denn da geht es auch ein bißchen um das deutsch-französische Verhältnis.
Heinemann: Wolfgang Thierse sagte im SPIEGEL: ‚Wer neue Ideen vertritt, ist beweispflichtig, daß sie mit dem Grundwerten der SPD übereinstimmen‘. Nun wird der Bundeskanzler neuerdings von den Unternehmern gelobt und von den Gewerkschaften gescholten. Hat der SPD-Vorsitzende Schröder Probleme mit den sozialdemokratischen Grundwerten?
Vogel: Also, diesen Satz von Wolfgang Thierse, den unterschreibe ich voll. Die Sozialdemokratie muß eine Politik treiben, die sich an Werten orientiert und die nicht in den Anschein der Beliebigkeit gerät. Und ich glaube, daß im Grunde das auch Schröder nicht anders sieht. Dafür ist er ja lange genug Sozialdemokrat und hat ja auch schon lange genug verantwortungsvolle Funktionen und heute eine besonders verantwortungsvolle Funktion. Daß der Markt ein nützliches Instrument ist und anderen Instrumenten überlegen, das ist völlig richtig. Nur: Er ist blind für die ökologischen und sozialen Folgen seiner Entscheidungen. Und darum bedarf es eines stabilen Rahmens. Und wenn dieser Rahmen auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist in Teilgebieten, dann muß er auf europäischer Ebene – und letzten Endes, das gehört in ein Programm auf globaler Ebene in Angriff genommen werden. Was im Moment irritiert hat, das ist diese Alt-Auto-Geschichte, deren Hintergründe ich nicht völlig überschauen kann. Aber so etwas sollte – glaube ich – einmalig bleiben, oder aber – man muß dann in Berlin im Bundeskanzleramt auch bei entsprechenden Anrufen aus der Gewerkschaftszentrale verfügbar sein. Sonst entsteht ein Eindruck, der mir Schwierigkeiten bereiten würde.
Heinemann: Ist die SPD eine linke Partei – auch in Zukunft?
Vogel: Das muß sie bleiben. Und ich verweise darauf, daß Ippens, der ja jetzt häufig zitiert wird – der Berater von Blair – in seiner grundlegenden Arbeit ausdrücklich schreibt: Auch die Labor Party muß eine Partei ‚links von der Mitte‘ sein. Denn wenn wir das aufgeben, dann verlieren wir ein Stück Identität und dann reißt auch die Tradition ab. Und dagegen würde ich mich wenden. Ich bin immer ein Klassenkämpfer gewesen und ich war immer für vernünftige Kompromisse auch zu haben. Aber daß unsere Politik der Bewertung an Hand der Grundrechte Freiheit, Gerechtigkeit – und das betone ich – und Solidarität standhalten muß, daran dürfen wir nicht rütteln lassen.
Heinemann: Hans-Joachim Vogel, der ehemalige SPD-Vorsitzende in den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Vogel: Bitte sehr, Herr Heinemann.