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Erzählen als Ordnungsversuch

Wer Felicitas Hoppe einmal auf einer Lesung erlebt hat, weiß, dass sie sich frisch und keck äußert. Keine schlechte Voraussetzung dafür, ihre Vorträge als Buch herauszubringen. Die "Sieben Schätze" liefern eine Momentaufnahme des denkenden Erzählens der Felicitas Hoppe.

Von Jörg Plath | 03.12.2009
    Felicitas Hoppe ist der Paradiesvogel der deutschen Literatur. Sie erzählt in einer unverwechselbaren Sprache, so rhythmisch wie verführerisch und so klar wie rätselhaft von Ritter, Tod und Liebe, von sagenhaften Ungeheuern und einem kleinen Baedeker auf einem Pferd, von einem sprechenden Hund und der Heiligen Johanna und immer wieder vom Reisen, mal um die ganze Welt, mal nur ins Unbekannte. Dazu passt der Titel ihres neuen Buches, "Sieben Schätze", und auch, dass Felicitas Hoppe in ihm von Schatzsuchern, Schatzjägern und Schatzwächtern erzählt, von Wünschen, unbekannten Welten und glücklichen Kindheiten, außerdem vom Literaturbetrieb und den Beziehungen zwischen Literatur und Religion. Nur als Poetikvorlesungen will Hoppe ihre Vorträge nicht verstanden wissen.

    "Ich würde sie niemals als Poetologievorlesungen bezeichnen, die ich persönlich auch relativ langweilig finde, oft, nicht immer."
    Um Vorträge handelt es sich bei den "Sieben Schätzen" schon. Felicitas Hoppe, die 1960 geboren wurde und seit zehn Jahren vom Verkauf bestsellerunverdächtiger Bücher lebt, hielt sie im letzten Jahr als Bertolt-Brecht-Gastprofessorin an wechselnden Orten in Augsburg: in einer Buchhandlung, einem Theater, der Stadtsparkasse oder der berühmten Augsburger Puppenkiste.

    "Ich finde, ehrlich gesagt, dass das schon relativ akademisch ist für meine Verhältnisse. Was ich tun wollte, war auf gar keinen Fall in Konkurrenz zu denen zu treten, die es qua ihrer Ausbildung und von Haus aus besser wissen – das sind die Wissenschaftler. Sondern eigentlich meine Begegnung mit der Literatur, auch mit der Wissenschaft schildern, und auch zeigen, wie ich zum Beispiel Wissenschaft lese. Und ich glaube, ich lese wissenschaftliche Texte anders als Wissenschaftler sie lesen – und abgesehen davon gab es ja durchaus auch den Wunsch, einigermaßen verständlich zu sein. Ich will jetzt nicht sagen, unterhaltsam, man könnte unterhaltsamer sein. Und was die poetologische Selbstauskunft betrifft: Ich weiß gar nicht so genau, was das ist. Das hieße, dass jemand erklärt, wie er schreibt, und ich finde, darüber gebe ich relativ viel Auskunft. Wovon mein Schreiben bestimmt ist, was die Themen sind, die mich beschäftigen, an welchen Texte ich mich orientiere. Ich erzähle auch von meiner literarischen Sozialisation, und das finde ich, ist eine ganze Menge Selbstauskunft, die vielleicht nicht schwergewichtig jetzt poetologisch ist, aber doch den Raum des eigenen Schreibens relativ stark öffnet."

    Mit Definitionen hält sich Hoppe nicht lange auf. Der erste Vortrag hebt so an:

    Mein Ausflug in die Welt der Schätze beginnt mit denen, die unter der eigenen Türschwelle liegen und die wir trotzdem nicht heben können. Ich spreche von unseren Wünschen und lese einen Text des russischen Dichter Daniil Charms.

    Die ersten zwei Sätze zeigen Chance und Gefahr der Vorlesungen. Felicitas Hoppe stellt ihre Lieblingstexte mit der ihr eigenen Behändigkeit vor: So fix gelangen wohl nur wenige von Schätzen zu Wünschen. Schätze sind für Hoppe nicht nur handfest real und materiell, sondern auch, als Wünsche, flüchtig fiktiv und immateriell. Als bewegliche, ja, lebendige Wesen beschreibt sie der galizische Autor Alvaro Cunqueiro.

    "In diesem Text sammelt er aus seiner Heimat Galizien alles Mögliche zum Thema Schätze, und im Lesen dieses Textes hatte ich plötzlich mein Thema gefunden. Ich hatte vorher gar keinen Ansatz, was ich genau machen möchte, sondern habe einfach nach etwas gesucht, worüber ich Lust hätte, zu sprechen und stieß dann auf seine Schatzbeschreibungen, die von der Beweglichkeit des Schatzes sprechen, und das hat mich fasziniert in dem Sinn, dass nicht dingfest zu machen ist, um was es sich eigentlich handelt, und das ist bei der Literatur eigentlich ähnlich. Und so hat sich der Faden gesponnen. So habe ich angefangen, und da hat sich dann eigentlich ein Abend aus dem Nächsten ergeben. Die sind hintereinander auch so sukzessive geschrieben worden, sozusagen immer auf den Abend hin."
    Anfangs nennt Hoppe die flüchtig fiktiven und immateriellen Schätze Wünsche und blendet beide übereinander. Später dividiert sie sie wieder auseinander, damit zwischen ihnen die Literatur Platz hat:

    Denn der Schatz birgt zwischen romantischen Ruinen den nützlichen Hinweis auf zwei Dinge, die wir niemals besitzen können. Falls man sie aber kurzfristig zur Verfügung hat, kann man sie immerhin pflegen: Selbstbewusstsein und Humor, die sich wider Erwarten aus Genügsamkeit speisen. Hier hört die Geschichte der Wünsche auf, und die Geschichte der Schätze fängt an. Letztere hat etwas mit dem zu tun, was wir sind. Schließlich schätzen wir, was wir haben, und kennen, nicht das, was wir wollen und was wir uns wünschen. Oder hat man jemals jemanden sagen hören: Ich schätze meine Sehnsucht, meine Angst, mein Begehren? Die Literatur erzählt von beidem, von dem, was ist und von dem, was wir suchen, vor allem aber von den Grenzen dazwischen, die nach wie vor schwer auffindbar sind.

    Seien Schätze nun Schätze oder Wünsche – Felicitas Hoppe schätzt die Literatur, um sie geht es beständig. In einem Vortrag über den Literaturbetrieb beschreibt sie die Rollen von Autoren und Verlegern: Autoren seien Lieferanten, Verleger Kreativindustrielle geworden. Die Kollegen, schimpft Hoppe, gingen nach der Devise "Überrumpelung durch Affirmation" vor, sie überraschten erstens und bestätigten zweitens. Der Leser goutiere das durchaus:

    Der Leser will überrascht werden, gern auch hier und da bewegt, in Maßen erschüttert, aber immer auf bekannte und verdauliche Weise und in geordneten Bahnen.

    Von den zunehmenden Autoren-Homestorys, von der Personalisierung der Literatur hält Hoppe wenig: Nähe zum Leser stelle die Literatur paradoxerweise durch Distanz her. Und Distanz ist es auch, von denen ihre persönlichen Äußerungen recht offen sprechen: Als Kind habe sie sich nicht hinaus in die Welt getraut, weshalb sie sich ihre Geschichten in Gänze selbst ausdenken musste. Später sei sie gereist, weil sie einen Traum von der Reise hatte, und danach habe sie versucht, durch die Reiseerlebnisse hindurch von jenem Traum zu erzählen, der sie hatte aufbrechen lassen.

    Was mich betrifft, so ziehe ich die gesamte Literatur auf zwei einfache Leinen: Auf der einen hängt, was versucht, der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, folglich Wirklichkeit mit literarischen Mitteln simuliert, während auf der anderen hängt, was diesen Prozess umkehrt: Hier wird mit den Mitteln der Wirklichkeit Literatur simuliert. Während also im ersten Fall die höchste Kunst darin besteht, eine Geschichte echt erscheinen zu lassen, wie im wirklichen Leben, besteht im zweiten Fall die Kunst darin, die Wirklichkeit so erscheinen zu lassen, als sei sie nichts als reine Erfindung, womöglich ein Märchen. In diesem Fall kommt es nicht selten vor, dass der Schreiber seine kindliche Erinnerung von Wirklichkeit, also Gelesenes und Gehörtes, zum Maßstab für die erlebte Wirklichkeit erhebt, die er zwar nicht ignorieren kann, aber wieder und wieder überwinden möchte, und sei es auch nur für die kurzen Momente des eigenen Schreibens.

    Weil Karl May die Wirklichkeit simuliere, zieht die Gastprofessorin ihm Franz Kafka, Astrid Lindgren und Knut Hamsun vor. Auch für den geliebten Pinocchio gilt ihr Motto: nichts sei erlogen, "alles ehrlich erfunden". Manchmal deutet sich eine existenziell gefärbte Literaturauffassung der Verfasserin von so weltentrückt wirkenden Büchern an: Erzählen sei ein Ordnungsversuch, der den Tod zumindest kurzzeitig beiseiteschiebe. Und eine Selbstbehauptung, auch wenn es von der Selbstaufgabe erzähle.

    Hoppe legt ein ziemliches Tempo vor und lässt es an zahlreichen, manchmal widersprüchlich klingenden, aber immer sehr sicher und energisch vorgebrachten Aussagen zu allen denkbaren Aspekten der Literatur nicht fehlen. Die Auskünfte zur eigenen glücklichen Kindheit und zu eigenen Büchern werden Hoppe-Liebhaber gern lesen und die Hoppe-Forschung beflügeln. In Erinnerung bleibt jedoch am ehesten ein eigensinniger Kopf, der mit guten Gründen für Diskretion. Abgrenzung, produktive Feindschaft und Selbstbestimmung plädiert. Die "Sieben Schätze" liefern eine intellektuelle Physiognomie: die Momentaufnahme eines erzählenden Denkens oder denkenden Erzählens als dem zentralen Modus von Felicitas Hoppe.

    "Es lässt sich natürlich gegen die Texte unter Umständen einwenden, dass sie manchmal sich um Auskünfte herum drücken und nicht ganz eindeutig sind und dass man es vielleicht lieber hätte, es werden gewissermaßen Pflöcke eingehauen, wo man sieht: aha, da steht der Autor, das meint er genau. Für mich war es kein Ausweichmanöver, sondern für mich ist das, so merkwürdig das klingt, eine Methode des Erkenntnisgewinns. Weil ich auch beim Schreiben merke, dass ich zu einem Ergebnis komme und dieses Ergebnis sofort infrage stelle und denke, Moment mal, du könntest Dich vollkommen täuschen, es könnte ganz, alles ganz anders sein. Und das ist übrigens vielleicht die hervorstechendste Gemeinsamkeit zwischen meinem literarischen und meinem essayistischen Verfahren. Denn diese Kehrtwendungen, die nicht den Leser in die Irre führen wollen, sondern die nur illustrieren, dass ich immer versuche, das Gegenteil mitzudenken und auch mitzuerfinden, das ist einfach typisch für mich."

    Felicitas Hoppe: "Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen". S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2009. 240 Seiten, 17,95 EUR