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Erzählen als Selbstversuch

Christa Wolf wurde noch bevor sie das Schreiben begann von der Staatssicherheit als IM geführt. Die Autorin hatte diese Episode ihres Lebens vergessen und war sich bis zur Aktenoffenbarung ganz sicher, dass sie mit "denen" nie paktiert hatte. Vor diesem Hintergrund begibt sich Christa Wolf in "Stadt der Engel oder The overcoat of Dr. Freud" auf Spurensuche.

Von Michael Opitz | 19.07.2010
    "Ich möchte mich ja beim Schreiben nicht selber langweilen. Ich will etwas erfahren, was ich nicht schon weiß. Oft oder meistens will ich über mich etwas erfahren oder will mir Fragen beantworten, wie bestimmte Dinge, Vorgänge oder Verhaltensweisen zustande gekommen sind."
    Die "Langeweile" bezeichnet Walter Benjamin im "Passagen-Werk" als "ein graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns, wenn wir träumen. Dann sind wir in den Arabesken seines Futters zuhause."

    Von Träumen erzählt auch Christa Wolf in "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Und jenes graue Tuch, das Benjamin erwähnt, erinnert an den Untertitel des Romans, in dem auf den Mantel von Dr. Freud verwiesen wird. Schließlich ist auch von Walter Benjamin in Christa Wolfs Roman häufig die Rede. Das ist kein Zufall. Benjamins Flucht in die USA scheiterte 1940. Nach Los Angeles, in das Weimar unter Palmen, wie die Stadt damals genannt wurde, gelangten nur seine Thesen "Über den Begriff der Geschichte", in denen er den Engel der Geschichte erwähnt. Der "Angelus Novus" wird vom Sturm, der vom Paradiese her weht, rückwärts in die Zukunft getrieben. Er kann nicht sehen, was vor ihm liegt, sondern er muss in die Vergangenheit schauen, wo sich die Trümmer häufen und die Erschlagenen liegen.

    Auch Christa Wolf schaut in "Stadt der Engel" zurück. Und am Schluss ihres Buches schwebt sie mit Angelina, einem schwarzen Engel, über einer Totenlandschaft.

    "Totes Tal. Tal der Toten. Dort lagen sie alle, meine Toten und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog. Sieh nur hin, sagte Angelina. Wie lange war sie schon neben mir? Wie lange schwebten wir schon über der Landschaft? Ich dachte, ob die Toten mir vielleicht etwas sagen wollten. Angelina, die meine Gedanken kannte, sagte: Nein. Das ist ein Aberglaube der Lebenden, dass die Toten eine Botschaft für sie hätten. Zu ihren Lebzeiten waren sie nicht klüger, als die Lebenden es heute sind. Im Tod lernt man nichts. Das fand ich traurig. Ein Wort trieb mir zu, das ich seit Wochen unbewußt gesucht hatte: vorläufig. Eine vorläufige Arbeit ist zu einem vorläufigen Schluss gekommen."

    Zu Beginn des Romans kreist ein Flugzeug – an Bord die Ich-Erzählerin – lange über dem sehr lebendig wirkenden Los Angeles. Kurz nach der Landung sich ihr Blick zunächst auf den amerikanischen Beamten, der den Pass der aus der DDR Einreisenden einer gewissenhaften Prüfung unterzieht. Als sie das Dokument zurückbekommt, fragt er sie interessiert: "Are you sure this country does exist?" Sie sagt "ja", obwohl die korrekte Antwort "nein" gewesen wäre. Denn eine zeitliche Ebene des autobiografisch angelegten Romans spielt 1992/93. Zu dieser Zeit aber war die DDR längst untergegangen.

    "Also ich kam mit einem anderen Plan nach Santa Monica. Ich hatte damals angefangen an dem Medea-Stoff zu arbeiten und wollte dort weitermachen und hab das auch zuerst getan und habe das dann sehr bald gelassen, weil das, was ich jeden Tag erlebte, mich so stark vereinnahmte, dass ich – wie ich ja weiß – alles vergessen oder vieles vergessen würde, wenn ich es nicht aufschriebe und das habe ich einfach aufgeschrieben – ohne Plan – so wie man Tagebuch führt, ohne Plan, dass zu verwerten. Erst allmählich. Ich hab zum Beispiel zuerst so etwas geschrieben wie die Erlebnisse in Los Angeles. Das hat mich gar nicht befriedigt. Die Idee, dass ich zum Beispiel zurückgehen müsste, in die frühere Zeit, dass ich auch Erinnerungen aufnehmen müsste, dass ich eine andere Struktur finden müsste, das kam erst allmählich."
    In die USA ist die Ich-Erzählerin geflogen, um Abstand zu gewinnen. Das Land, in dem sie lebte und auf das sie Hoffnungen gesetzt hatte, war 1989 zu Grabe getragen worden. Doch es will nicht sterben. Wie eine Untote gibt es keine Ruhe. Diese Erfahrung macht auch die Erzählerin bei der Lektüre der 42 Ordner, die die Staatssicherheit über sie angelegt hat. Am Ende dieses Lesemarathons meldet sich das verschwundene Land mit einer Überraschung zurück. Es präsentiert der aus allen Wolken fallenden Erzählerin eine wenige Seiten umfassende sogenannte "Täterakte". Die darf sie zwar nicht lesen, aber sie weiß, was die Existenz dieser Akte für sie bedeutet.

    "IM stand da, ich habe es nicht glauben wollen. Der Körper glaubt es sofort, das Herz fing an zu trommeln, ich war in Schweiß gebadet, Katastrophenalarm, Fluchtreflexe, gerne wäre ich gelaufen bis an den Rand der Welt. Ist Santa Monica der Rand der Welt? O yes, sagte Sally. So gesehen schon. Nützt aber nichts. Weglaufen nützt nichts, alte Volksweisheit. Sich stellen nützt auch nichts. Ich weiß nicht mehr, was ich als Erstes dachte, als die Denkblockade sich löste. Was ich als Erstes fühlte, ohne Worte, weiß ich noch, in Worte übersetzt hieß es: Das kannst du jetzt niemandem sagen. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich erst einmal schweigen würde, wie ich nicht daran zweifelte, dass das falsch und auf Dauer unnütz war, und um dir das zu erklären, Sally, müsstest du die Atmosphäre bei uns damals miterlebt haben."

    1959, bevor sie mit dem Schreiben begann, wurde Christa Wolf als IM geführt und bekam von der Staatssicherheit den Decknamen "Margarethe". Eine teuflische Geschichte. Sie hatte die Episode vergessen und war sich bis zur Aktenoffenbarung ganz sicher, dass sie mit "denen" nie paktiert hatte.

    "Ich selbst war erschrocken darüber, als ich dieses kleine Faszikel, das die Stasi als sogenannte "Täterakte" angelegt hatte – übrigens ein unmögliches Wort, genauso wie "Opferakte" unmöglich ist – und da war ich schon erschrocken auch und gerade, dass ich es vergessen hatte. Andererseits habe ich es schon als einen Anstoß genommen, mich in die Zeit zurückzuversetzen und mich zu fragen: Wie kam es eigentlich dazu, dass ich überhaupt mit denen gesprochen habe und wie kam es, dass ich es dann vergessen habe? Diese Fragen waren für mich persönlich wichtig und ich habe mich daran redlich abgearbeitet. Aber was die Öffentlichkeit anbetraf war ich doch fassungslos, dass es nicht möglich war, meine Entwicklung mit ins Auge zu fassen. Dass sie nur darauf sich stürzten und gar nicht noch einmal zurück schauten, was ich eigentlich in der Zeit wirklich gemacht habe oder sich mal die Mühe machten, in eines meiner Bücher zu gucken."
    Plötzlich zeigt die Geschichte ihre mephistophelische Seite. Da gibt es einen Makel und niemand nimmt zur Kenntnis, dass sie damals eine andere war. In dieser Situation ist die Sehnsucht nach einem Zaubermantel groß, doch der einzige Mantel, den sie zu fassen bekommt, ist jener von Dr. Freud.

    "The overcoat of Dr. Freud, sagte ich. Wie bitte? Der Mantel, weißt du, der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen wenden muss. Damit das Innere sichtbar wird."

    Die Ich-Erzählerin greift nach einem Zipfel von Freuds Mantel, wenn sie eine Antwort auf die Frage sucht, wie sie vergessen konnte, was ihr die Geschichte nun als Tatsache präsentiert. Sie taucht ab in einen Schacht, wobei sie die eigene Biografie umwendet und so öffentlich macht, was man gern verborgen halten würde. Bei dieser Arbeit kann ihr der Mantel kein Schutz sein. Oder, anders gesagt, zunächst darf sie sich nicht in ihm verstecken. Sie muss erst das Innere des Mantels nach außen wenden, bevor er ihr Schutz bieten kann. Die Entscheidung ist radikal und sie zieht Konsequenzen nach sich. Das Vorhaben dieses Selbstversuchs kann nur gelingen, wenn sich die Erzählerin vorbehaltlos der eigenen Vergangenheit stellt.
    "Es ist bei mir geronnen dann zu einem Begriff 'subjektive Authentizität', also über das Faktische hinaus, was in einem Buch viel oder wenig bedeuten kann oder viel oder wenig auch vorkommt, scheint mir es unerlässlich, jedenfalls für meine Art zu schreiben, dass man durchstößt auf das Subjekt und dass das Subjekt des Autors oder der Autorin in irgendeiner Weise, jeweils natürlich anderen Weise, anwesend ist."
    Dass Christa Wolf dieses Ringen thematisiert, macht das Buch so beispielhaft. Sie verschanzt sich nicht hinter ihrer Biografie, sondern mit der Offenlegung stellt sie bewusst das gelebte Leben zur Disposition. Sie begibt sich zunächst in die Kälte, bevor sie sich den Griff nach dem schützenden Mantel gestattet. Dabei wird die Selbstanalyse, die sie vornimmt, zugleich zu einer Geschichtsanalyse. Schonungslos arbeitet sie sich erzählend bis zu jenem blinden Fleck vor, der die Wahrnehmung trübt.

    "Ich schrieb mich an einen Kern heran, den ich deutlich spürte, nicht benennen konnte, bis ich eines Nachts aus dem Schlaf aufschreckte und den letzten Satz einer längeren Rede, die jemand mir gehalten hatte, als Schrift vor mir sah: DER FREMDE IN DIR. Das überzeugte mich gleich, es traf zu. Oder, dachte ich, vielleicht auch das Fremde in mir, das ich gespürt hatte, wie man wohl im Körper eine Wucherung spürt, fremdes Gewebe. Der Arzt wird eine Probe entnehmen, um die Zusammensetzung dieses Gewebes zu bestimmen, wobei es eigentlich nur darum geht: bösartig oder harmlos und um die Frage: schneiden oder nicht?"
    Christa Wolf muss die Vergangenheit umgraben, und das Unterste nach oben holen. Dieses Vorgehen erinnert an die Methode, die Walter Benjamin in "Ausgraben und Erinnern" vorgeschlagen hat. Dort heißt es: "Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten, wie [jemand] der gräbt." Einen Satz aus diesem Benjamin-Text hat Christa Wolf ihrem Buch als Motto vorangestellt – er lautet: "So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde." Dieser Satz wird zur Grundlage des Erzählens. Die Autorin reiht Erlebnisse und Anekdoten so aneinander, dass eine Entwicklung deutlich wird. Dadurch wird die zentrale Frage allerdings nicht entschärft: "Wie konnte ich das vergessen?" So seltsam es klingen mag, hilfreich bei der Antwortsuche ist eine weitere Frage, die der Erzählerin in Santa Monica häufig gestellt wird: "What about Germany?"

    "Ich musste mich dort ganz deutlich zu Deutschland stellen. Es gab eine ganz Menge von sehr unausweichlichen Anstößen. Und ich habe in der Zeit dort – wie ich es übrigens auch beschreibe – täglich eigentlich, sehr ausführlich, so eine Art Chronik geführt alles dessen, was ich sah, erlebte, Leute, die ich kennenlernte, Gedichte, Bücher, ja, alles. Es war ein sehr hoher Stapel –ja, wie soll ich es nennen – Manuskript, den ich dann über den Ozean wieder zurück brachte."
    Man will von ihr wissen, wie sie sich die brennenden Asylantenheime und einen zunehmenden Antisemitismus kurz nach dem Mauerfall erklärt. Doch was soll sie den Vertretern der second Generation jüdischer Exilanten sagen, deren Eltern nach 1933 Deutschland verlassen mussten? Los Angeles ruft Erinnerungen wach. Sie denkt an die Hoffnungen der Schriftsteller und Künstler, die nach Hitlers Machtantritt emigrieren mussten. Die Erzählerin liest in Santa Monica in den Tagebüchern von Thomas Mann, sie zitiert Gedichte von Bertolt Brecht, erzählt Episoden von Hanns Eisler und sie erinnert sich an Martha Feuchtwanger und Salka Viertel. Von den ins Exil Gezwungenen, unterscheidet sie sich. Doch die Frage, ob sie die DDR nicht vor 1989 hätte verlassen müssen, steht als Vorwurf im Raum. Damals war sie nicht weggegangen. Sie hatte ihre Gründe. Und nun gibt es Gründe, nicht zu bleiben. In der Perspektive läuft das Buch auf den 4. November 1989 zu, einen Hoffnungstag. An diesem Tag schien es doch noch möglich, dass der Traum Wirklichkeit wird, den sie bereits verabschiedet hatte.

    "Eine provisorische, aus einem Leiterwagen errichtete Tribüne, auf der die Redner sich abwechseln. Es war das Unvorstellbare, das sich in Wirklichkeit verwandeln wollte. Und das, ihr ahnt es, nur eine historische Sekunde andauern konnte. Aber es hat es gegeben. Die Blumenhändlerin, die vor ihrem Geschäft steht und Flugblätter verteilt: Jetzt muss man dabei sein. Das darf man nicht versäumen. Später. Häme, Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot. Aber diese offenen, aufgerissenen Gesichter habe ich doch gesehen. Diese glänzenden Augen. Diese freien Bewegungen. Doch nur für kurze Zeit. Die Augen richteten sich bald auf die Auslagen der Schaufenster und nicht mehr auf ein fernes Versprechen."
    Christa Wolf webt in "Stadt der Engel" aus Erinnerungen und Erlebnissen ein Muster, in dem ihre Biografie aufgehoben ist. Es ist das erprobte, stets anders variierte Erzählmuster, das ihre Leser aus den bisher erschienenen Büchern kennen. "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" ist ein Buch, in dem die Autorin noch einmal alle Register ihres Könnens zieht. Und es ist – bei aller Ernsthaftigkeit, mit der sie Selbstaufklärung betreibt –, ein heiteres Buch.

    "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" von Christa Wolf ist im Suhrkamp Verlag erschienen, 416 Seiten kosten 24, 80 Euro. Eine Hörbuchfassung des Audio Verlags, gelesen von Christa Wolf, ist ab 24. Juli im Handel erhältlich. 9 CDs - 763 Minuten - kosten 26,99 Euro.