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Erziehung aller durch alle

Die Niederlande machen Kindererziehung zu einer öffentlichen Angelegenheit. Um Eltern wieder die wichtigsten Basisregeln der Erziehung beizubringen, organisiert zum Beispiel die Stadt Rotterdam Erziehungsdebatten. Kerstin Schweighöfer berichtet.

    Das Bürgerzentrum de Gaffel in der Rotterdamer Innenstadt: Mehr als 100 Eltern, Lehrer und Jugendamtvertreter haben sich hier versammelt, um über Kindererziehung zu diskutieren. Welche Erziehungsprinzipien sind am wichtigsten? Respekt und Gehorsamkeit? Oder Ehrlichkeit und Selbstvertrauen?

    Bei den meisten Eltern handelt es sich um Mütter, und von ihnen tragen die meisten ein Kopftuch. Denn mehr als die Hälfte der Einwohner in diesem Stadtteil hat einen Immigrantenhintergrund. Suad al Hatraf ist eine von ihnen. Die 30-jährige Marokkanerin hat eine kleine Tochter und ist froh, dass sie mit anderen Müttern und Experten über Erziehungsfragen reden kann. "So können wir verhindern, dass es später zu Problemen kommt", sagt sie. Viele Eltern würden ihren Kindern keine Grenzen mehr stellen und auch keine Manieren und Respekt vor Autoritäten beibringen.

    Das findet auch der Rotterdamer Dezernent für Jugend und Familie, Leonard Geluk. Mehr als 40 solcher Debatten hat er geplant. Sie sollen zu zehn Grundregeln des Erziehens führen, an die sich alle Eltern wieder zu halten haben, zum Beispiel dafür sorgen, dass ihre Kinder abends nicht mehr auf der Straße herumlungern, dass sie keinen Alkohol trinken und sexuell aufgeklärt werden. Kinder hätten auch Recht auf ein gesundes Pausenbrot und auf ein Frühstück. Doch jedes vierte Kind in Rotterdam werde ohne Frühstück in die Schule geschickt, weiß Nasaka Zinagel vom städtischen Jugendamt:

    Wer sich nicht an die Regeln hält, muss damit rechnen, von der Umgebung darauf angesprochen zu werden. Denn Erziehen ist nicht allein Sache der Eltern. Das ist das zweite Ziel der Debatten: "Opvoeden doe je samen - Erziehen, das erledigen wir gemeinsam!", lautet das Motto. Nachbarn, Lehrern und Trainern, auch dem Hausmeister, ja selbst dem Busfahrer soll klar gemacht werden, dass er sich bei Erziehungsfragen, wenn nötig, sehr wohl einmischen darf. Durch die Debatten lernen sich die Bewohner eines Stadtviertels besser kennen. Und wer sich kennt, traut sich eher, die Kinder der Nachbarn zu ermahnen oder zur Rechenschaft zu ziehen.

    Aber selbst das sei oft noch ein Tabu, weiß Dennis Celik, einer der wenigen Männer bei der Erziehungsdebatte. Der türkischstämmige Familienvater sorgt als Stadtwächter für sichere Straßen.

    "Ich bin ständig am Erziehen", erzählt er. Wenn Kinder etwas auf der Straße wegwerfen oder kaputt machen, greift er ein. Die wenigsten Eltern allerdings seien darüber erfreut: "Das ist auch in meiner eigenen Familie so", weiß Celik. "Meine Schwester wird auch böse, wenn ich es wage, ihre Kinder oder ihren Erziehungsstil zu kritisieren." Manchmal hat er den Eindruck, dass die Leute das Erziehen verlernt haben: "Sie nehmen sich dafür keine Zeit mehr und denken nur noch an Arbeit, Arbeit, Arbeit."

    Nach Rotterdamer Vorbild will auch Amsterdam Erziehungsdebatten organisieren. Im Kultusministerium wird sogar über eine Nationale Erziehungsdebatte nachgedacht. Die Stadt Den Haag stellt einen Erziehungskanon auf. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen findet Samstagabends zur besten Sendezeit die "Große Erziehungsshow" statt.

    Kritiker sprechen von Bevormundung. Erziehung sei nicht Sache des Staates. Die wirklichen Problemfamilien würde man mit den Debatten nicht ereichen.

    Doch diese seien auch gar nicht die Zielgruppe, stellen die Organisatoren klar, da seien Maßnahmen ganz anderer Art erforderlich. Was sie erreichen wollen, ist, dass es bei anderen Kindern gar nicht erst so weit kommt. Ob die Debatten zu dem gewünschten Ziel führen, bleibt abzuwarten. Die Teilnehmer an diesem Tag jedenfalls sind zufrieden:

    "Das war sehr aufschlussreich", finden zwei junge moslemische Mütter. Erstmals konnten sie ausführlich mit ihren niederländischen Nachbarinnen reden. Gerade als Immigrantin fühle sie sich oft alleine gelassen, meint eine von ihnen: "Jetzt habe ich das Gefühl bekommen, dass ich dazu gehöre."