Montag, 29. April 2024

Archiv


Es bedeutet nicht Fürsorge oder Zuwendung:

Diese Betreuer haben viel zu viel Macht. Sie sagte auch, wir müssten sie fragen, wenn wir die Mutter besuchen möchten. Die Betreuerin kann "Nein" sagen! Da hab' ich den Anwalt gefragt, ich sag: "Kann die denn das machen, uns das verweigern?" Sagt er, ja, das könnte sie, rechtlich gesehen. Sie könnte sagen, das regt die Mutter zu sehr auf, wir dürfen sie nicht mehr besuchen. Dass es so was in einem Rechtsstaat gibt, kapier' ich nicht. Wirklich! Das ist doch unglaublich so was!

Veronika Neukum | 11.07.2002
    Deutschland im Jahr 2002. Brigitte K. aus Düsseldorf und ihre in London lebende Schwester verstehen die Welt nicht mehr. Ahnungslos hatten die beiden Frauen zugestimmt, als vor zwei Jahren – nach dem Tod des Vaters - für die leicht altersverwirrte Mutter eine Betreuung eingerichtet werden sollte. Sie selbst konnten sich nicht wirklich kümmern um die in Süddeutschland alleine lebende Mutter. Da kam es nur gelegen, dass sich jemand - sozusagen von Berufswegen – der Mutter annehmen wollte. Doch die Hoffnung der Töchter auf gute Zusammenarbeit mit der betreuenden Anwältin entpuppte sich schnell als Illusion.

    Das einzige, was sie getan hat, ist, meine Mutter aus dem Haus zu schaffen. Zuerst mal eine Woche ins Krankenhaus und dann ins Heim. Und sofort den nächsten Tag, als die Mutter im Heim war, wollte sie das Haus verkaufen. Es ist unser Familienhaus! Eine fremde Frau, wie kann die über unser Familienhaus bestimmen? Also, das versteh ich nicht! Sie sagte auch, wenn wir nicht einverstanden sind mit dem Verkauf, dann lässt sie es zwangsversteigern. Ich habe mich erkundigt. Das könnte sie sogar. So sind die Gesetze in Deutschland. Das könnte sie sogar!

    Der Betreuerin habe nur gemacht, wozu sie vom Gesetz befugt sei, bestätigt Rolf Coeppicus – Oberhausener Vormundschaftsrichter im Ruhestand - die Rechtslage. Ein Problem sei allerdings die Unaufgeklärtheit der Bevölkerung. Dankbar würden Betreuungen normalerweise als "staatliches Hilfsangebot" verstanden und gerne angenommen. Was mit "rechtlicher Betreuung" wirklich gemeint ist, wisse kaum jemand. Betreuung bedeute keineswegs das, worauf der Begriff schließen lasse, "Fürsorge", "Dienstleistung" oder gar "Zuwendung". Coeppicus räumt mit diesem weitverbreiteten Missverständnis auf:

    Der Betreuer ist der Vertreter des Betroffenen und entscheidet anstelle des Betroffenen. Richtig ist, dass dann nur zwei Personen das Sagen haben. Das ist der Betreute und der Betreuer. Die Angehörigen sind keine Vertreter der Mutter – sie haben also keinerlei Rechte.

    Die Geschichte von Brigitte K. ist eine von zahllosen ähnlichen Geschichten in Deutschland. Alle gehen so oder so ähnlich: Frau X oder Herr Y ist in die Jahre gekommen, versorgt sich aber noch selbst und möchte auch in seinen eigenen vier Wänden bleiben, solange es geht. Eines Tages stellen Nachbarn, der Hausarzt, oder die eigenen Kinder fest, dass Oma oder Opa geistig nachgelassen hat, und dass es vielleicht besser sei, dem alten Menschen eine Betreuung angedeihen zu lassen. Ein Anruf bei der Stadtverwaltung, beim Sozialamt, oder beim Amtsgericht setzt die Maschinerie in Gang.

    Der Hausarzt schreibt ein Gutachten, und dieses ist entscheidend dafür, wie sich die spätere Betreuung gestaltet, d.h. für welche Aufgabengebiete eine Betreuung eingerichtet wird. Das Gesetz teilt die Betreuung auf in: "Vermögensvorsorge" - "Gesundheitsfürsorge" und "Aufenthaltsbestimmung". In der Praxis wird gerne eine alle Bereiche umfassende Betreuung eingerichtet, oft zum Nachteil des Betroffenen, sagt Fred Erkens von der Bonner Initiative "Handeln statt Misshandeln" – Gegen Gewalt im Alter.

    Die Ärzte gehen häufig hin und schreiben: "alle Aufgabenbereiche", oder formulieren das Gutachten dann so, dass dem Richter dann nichts mehr übrig bleibt, als alle Aufgabenbereiche einzurichten im Rahmen der Betreuung. Das hat einfach zur Folge, dass der Betreute keinen Spielraum mehr hat. Sie werden kaum einen Richter finden, der letztendlich gegen das ärztliche Gutachten entscheidet.

    Allerdings bekommt gerade die Ärzteschaft schlechte Noten - die Hausärzte etwa mit dem größten Anteil alter Menschen in ihren Praxen. Häufig werden Senioren nicht aufgeklärt, welche Hilfsdienste sie beanspruchen können, um eine Heimeinweisung hinauszuzögern. An altersverwirrten Patienten werden gerne Medikamente ausprobiert. Überweisungen an psychiatrische Fachärzte sind äußerst selten, wie die Sozialarbeiterin Marita Halfen bestätigt, die auch bei der Bonner Initiative "Gegen Gewalt im Alter" arbeitet.

    Die alten Menschen werden – dann, wenn sie schon mal so eine dementielle Entwicklung haben, höchstens mit Medikamenten zugeknallt. Ich habe Hausärzte erlebt, da habe ich wirklich den Betreuer anrufen müssen und habe gefragt, wissen sie eigentlich, was Ihre Betreute alles schluckt. Es war unvorstellbar, was die alles schlucken musste und dann auch gesagt hat, das hat der Doktor doch verschrieben! Weil die glauben denen, dass das gut für sie ist und das Gegenteil ist der Fall. Das ist natürlich ein gutes Geschäft für den Hausarzt und auch für die Pharmaindustrie.

    Der Vormundschaftsrichter hat die Pflicht, durch ein Gespräch mit dem Betroffenen zu prüfen, ob und welche Art der Betreuung erforderlich ist. Seit dem 1.1.1992 ist das so. Damals trat bundesweit das "Gesetz zur Betreuung Volljähriger" – kurz: "Betreuungsgesetz" in Kraft. Damit wurde das seit dem Jahr 1900 praktizierte "Recht der Gebrechlichkeitspflegschaft und der Vormundschaft für Volljährige" endgültig aus der Welt geschafft. Es war ohnehin menschenrechtlich und verfassungsjuristisch völlig inakzeptabel. Schreckgespenster wie "Pflegschaften", "Vormundschaften" und "Entmündigungen" sollten ein für allemal der Vergangenheit angehören.

    Rolf Coeppicus, kritisiert, dass seine Richter-Kollegen in den allermeisten Fällen haus- oder fachärztliche Gutachten ungeprüft hinnähmen, und zu schnell und zu leichtfertig – über den Kopf der Betroffenen hinweg - Betreuungen einrichteten:

    Die Vormundschaftsgerichte prüfen nicht wirklich die Erforderlichkeit der Betreuung. Sie schließen sich dem Gutachten an und zwar, weil es einfacher ist, die Arbeit erleichtert, wenn sie einen Betreuer bestellen, weil dann das Umfeld zufrieden ist. Haben Sie, wie gesagt, den Betreuer einmal bestellt, kehrt Frieden ein und Sie sehen diese Akte vor Ablauf von fünf Jahren wahrscheinlich nicht mehr wieder.

    Angehörige wissen oft nicht, dass sie sich vom Gericht zum sogenannten "Kontrollbetreuer" bestellen lassen können. Nur dann können sie von den Berufsbetreuern Rechenschaft verlangen. Auf Gutgläubigkeit folgt immer Ernüchterung. Spätestens dann, wenn Töchter, Söhne, Ehepartner einsehen müssen, dass Ihnen mit der Einrichtung einer Betreuung jede Einflussmöglichkeit abhanden gekommen ist. Von der Entmündigung des Betroffenen ganz zu schweigen. Auf dem Papier hätten Angehörige sehr wohl Rechte, sagt Marita Halfen. Zum Beispiel könnten sie sich beim Vormundschaftsgericht über Betreuer beschweren, bzw. solche, mit denen sie nicht zufrieden sind, austauschen lassen.

    Aber so einfach ist das alles nicht! Da geht also dann mal jemand zu der Betroffenen – im Verfahren spricht man immer von Betroffenen – und fragt: "Sind Sie eigentlich mit dem Herrn XY zufrieden? Der ist doch immer nett zu Ihnen!" – "Ja!" – Und dann wird nachher festgehalten: "Die Betroffene ist mit ihrem Betreuer zufrieden und will keinen Wechsel." - Dann geht das ganze Spiel wieder los.

    Aufklärung tut not. Fachleute und Politiker raten dringend zur Selbstabsicherung durch eine so genannte "Vorsorgevollmacht" oder eine "Betreuungsverfügung". Fred Erkens erklärt den Unterschied der beiden vorsorglichen Instrumentarien:

    Die Vorsorgevollmacht ist an die Geschäftsfähigkeit gebunden. d.h. ich habe niemanden, der den Bevollmächtigten kontrolliert. D.h. ich muss denjenigen selber kontrollieren, wenn ich's nicht mehr kann, bin ich im Prinzip ausgeliefert und kann mich nur darauf verlassen, dass derjenige, den ich bevollmächtigt habe, anständig arbeitet. Das ist eine Vertrauensperson.

    Entscheidender Vorteil der Vorsorgevollmacht: sie kann jederzeit formlos widerrufen werden. Nachteil der Vorsorgevollmacht – wie gesagt: der Bevollmächtigte muss vom Aussteller der Vollmacht selbst kontrolliert werden. Vorteil der Betreuungsverfügung: die Kontrolle obliegt dem Vormundschaftsgericht. Die Nachteile sind beachtlich. Fred Erkens:

    Läuft die Betreuung, komme ich nur über ein ärztliches Attest und über eine richterliche Anhörung wieder heraus. Weil der Betreuer die mich vertretende Rechtsperson ist, der unterschreibt für mich den Heimvertrag, dem obliegt es quasi, meinen Wünschen zufolge, mein Leben zu organisieren. D.h. ich bin letztendlich ausgeliefert, mein Mitspracherecht ist einfach geringer.

    Man könnte sich sehr viel Ärger und Sorgen ersparen, wenn man sich gründlich und rechtzeitig informierte, sagt Erkens. Informationsbroschüren zum Thema "Vorsorgevollmacht- und Betreuungsverfügung" gibt es bereits wie Sand am Meer. Die Angebote sind äußerst vielfältig und nicht selten ist auch hier äußerste Vorsicht geboten. Das Informationsmaterial des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz etwa wird von Fachleuten einstimmig empfohlen. Das nunmehr 10 Jahre alte Gesetz an sich sei gut, es mangle lediglich an den Rahmenbedingungen, so die Meinung der Fachleute. Dazu kommt, dass das Betreuungsrecht Ländersache ist und von Gericht zu Gericht recht unterschiedlich gehandhabt wird. Mancherorts sollen sich Klüngel bis hin zu kriminellen Strukturen herausgebildet haben, heißt es, wo Entmündigung und Entrechtung – ganz wie in grauer Vorzeit – wieder an der Tagesordnung sein sollen. Der Mann aus der vormundschaftlichen Praxis macht unter anderem den vom Gesetzgeber auferlegten Zwang zum Sparen dafür verantwortlich. Richter Bauer aus Frankfurt:

    Was mir auch große Sorgen bereitet, dass wir nämlich einen Flickenteppich in Deutschland haben, der so aussieht, dass wir regional sehr unterschiedlich vorgehen. Trotz der festen Rechtsregeln ist man manchmal überrascht, wie manche Gerichte vorgehen. Da wird oft genug der "kurze Prozess" gemacht, trotz der im Gesetz vorgesehenen Regelung. Das hat aber damit zu tun, dass der Gesetzgeber 1999 zu erkennen gegeben hat: "Das ist uns alles zu teuer, macht schneller hin, macht kurzen Prozess!" Und das ist natürlich eine ungute Sache, denn die Reform von 1992 ist ja gerade zustande gekommen, weil man früher zu schnell kurzen Prozess gemacht hat.

    Die Rechte der Alten und Kranken bleiben auch heute dabei vielfach auf der Strecke. Oft sind den Angehörigen – wenn sich überhaupt jemand kümmert! – die Hände gebunden. Und so landet gar mancher ältere Mensch mir nichts, dir nichts, im Pflegeheim, obwohl weder er noch seine Kinder das wollten.

    Prof. Rolf Hirsch, Chefarzt für Geronto-Psychiatrie an den Rheinischen Landeskliniken in Bonn, kritisiert recht sarkastisch die gängige Praxis. Für den einzelnen Betreuten sei völlig unerheblich, ob er durch seinen Vormund, wie früher, oder heute durch seinen Betreuer entrechtet werde. Keine der beteiligten Berufsgruppen scherten sich wirklich um das Wohl und den Willen der Kranken.

    Das geht beim Gericht an, von Kliniken, über die Pflegestationen. Wenn z.B. eine Heimübersiedlung notwendig ist, wird der Betreuer gefragt, der Betroffene eigentlich überhaupt nicht. Im Gegenteil: Manche Betreuung wird eingerichtet, damit einer, der nicht einsichtig ist, auf jeden Fall ins Heim abgeschoben werden kann.

    Gerade diese Entmündigungspraxis sollte ja durch das Betreuungsgesetz und die Beauftragung rechtlicher Betreuer aus der Welt geschafft werden. Aber im Gegensatz zu den euphorischen Einschätzungen nach Inkrafttreten habe das Betreuungsgesetz von 1992 tatsächlich nur wenige Änderungen gebracht, merkt Rolf Coeppicus an. So seien die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung völlig gleichgeblieben:

    Nämlich, der Betreute muss unfähig sein, seine Angelegenheiten erledigen zu können. Genau das war der Wortlaut früher bei Pflegschaften und Vormundschaften auch. Wesentlich geändert worden ist, dass der Betreuer – der übrigens nur der Vertreter des Betroffenen ist – dass der Betreuer abrechnen kann. Es sind Abrechnungsmöglichkeiten eröffnet worden. Und daraus ergeben sich die heutigen Probleme.

    Coeppicus setzt bei der Kostenexplosion an; er legt Zahlen vor, die belegen, dass im Betreuungswesen einiges schief läuft. Beispiel die Kosten. So hat das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise 1994 26 Millionen Mark ausgegeben für Vergütungen an Betreuer und an Gutachter. Im Jahre 2000 - waren es bereits 188 Millionen Mark - eine Steigerung um 600 Prozent in sechs Jahren!

    Und weil irgendwo der Rotstift angesetzt werden muss, wird die noch 1992 als Errungenschaft gefeierte "persönliche Zuwendung" immer mehr zusammengestrichen. Das heißt: Gespräche mit dem Betreuten sollen im Zuge der staatlichen Kostendämpfungsbestrebungen weitestgehend reduziert werden. Wenn ein Berufsbetreuer zuviel persönliches Engagement an den Tag lege – die von ihm gesetzlich verlangte "persönliche Zuwendung" dem Betroffenen angedeihen lasse - zahle er drauf, weil die Justizkasse die zusätzliche Zeit nicht honoriere. Das sei die andere Seite der Medaille, sagt Vormundschaftsrichter Bauer. Den Berufsstand der Betreuer, unter denen es ebenso schwarze Schafe gebe, wie in anderen Sparten auch, möchte Bauer nicht generell in Misskredit gebracht wissen.

    Die Betreuer stehen auch mit dem Rücken zur Wand, sie sollen die Angelegenheiten ihrer Klienten erledigen und gleichzeitig den persönlichen Kontakt auf das Minimum oder auf das unbedingt Erforderliche zurückschrauben und das führt unweigerlich natürlich auch zu Vorwürfen. Sie sollten mal in die Akten schauen, was sich da so abspielt. Die Angehörigen, die keine Betreuungsarbeit leisten, werfen besonders den Betreuern vor, dass sie zu wenig Kontakt halten.

    Es geht also um die Frage, ob persönliche Zuwendung für Alte, Kranke und Schwache noch finanzierbar ist. Häufig wird die Überalterung unserer Gesellschaft als Argument dagegen ins Feld geführt. Immer mehr Alte lägen der Solidargemeinschaft auf der Tasche, heißt es allenthalben. Etwa um die Hälfte aller altersverwirrten Menschen kümmern sich ehrenamtliche Betreuer aus dem Familienkreis.

    Ob anverwandter ehrenamtlicher Betreuer oder vom Gericht bestellter rechtlicher Vertreter – weder die einen, noch die anderen gehen auf die Barrikaden, wenn es etwa um menschenverachtende Zustände in Heimen und auf Pflegestationen geht. Der Münchner Anwalt Alexander Frey ist Sprecher eines Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen. Mit seinen Betreuer-Kollegen geht er scharf ins Gericht. Am meisten empört er sich darüber, dass Berufsbetreuer ihre Pflichten auch dann noch vernachlässigen, wenn Menschenrechte massiv verletzt werden.

    Seit fünf Jahren werden ja Berichte gemacht in den Medien über Missstände in Heimen. Misshandlungen von alten Menschen, dass sie unberechtigterweise gefesselt werden, dass sie nicht genug zu essen und zu trinken bekommen, dass sie nicht gewaschen werden, dass sie offene Wunden bekommen – Dekubitus-Stellen – schlimmste Dinge, und man muss sich natürlich fragen, nachdem ja fast die Hälfte aller unter Betreuung steht: Wo bleiben denn den Betreuer? Die ja diese Missstände kennen und die ja sofort die Heimaufsicht einschalten müssten, die Öffentlichkeit einschalten müssten. Da halten sie alle – muss man wirklich mal so salopp sagen – halten einfach den Mund. Und das ist doch ein Riesen-Skandal! Daran sieht man natürlich, dass viele Betreuer – es gibt auch Ausnahmen, die toll sind und kämpfen für ihre Leute - aber die meisten das Betreuungsrecht nicht richtig verstanden haben.

    Die Idee der Betreuung habe sich verändert, stellt der Frankfurter Vormundschaftsrichter Bauer fest. Aus einer wohlfahrtsstaatlich-gesellschaftlichen Verpflichtung zur Fürsorge für den schutzbedürftigen Schwachen sei ein Privatrisiko für jeden einzelnen geworden, gegen das man sich am besten privat versichern möge. Axel Bauer:

    Insofern ist in der Tat nach 1999 festzustellen, dass wir so eine Art "gesetzliche Betreuung im Minutentakt" haben. Jede Minute wird abgerechnet. Die Justiz hat mit Argusaugen darauf zu achten, dass der Betreuer nicht zuviel tut. Auf der anderen Seite darf er nicht zu wenig tun. Das ist das ganze Problem.

    In Deutschland werden im Jahr 13mal häufiger Betreuungen eingerichtet, als in Dänemark. Jeder 86ste Einwohner steht hierzulande inzwischen unter Betreuung. Dreimal soviel wie in Österreich, bei vergleichbarem Rechtssystem. Das Schlagwort von der sogenannten "Betreuungsindustrie" macht bereits die Runde. Rolf Coeppicus erklärt, was damit gemeint ist.

    Unter Betreuungsindustrie fasst man zusammen, dass eben Betreuungen unnötig eingerichtet werden. Das ist so eine unheilige Allianz zwischen den Sachverständigen, die auch durchweg und immer wieder unnötig Betreuungen anregen und damit auf der Linie auch von den Verfahrenspflegern liegen, denn nach fünf Jahren muss ja erneut ein Gutachten eingeholt werden, erneut der Verfahrenspfleger bestellt werden, der die Notwendigkeit der Betreuung zu beurteilen hat. Macht man das weniger, gibt’s weniger Gutachten und weniger Aufträge für Verfahrenspfleger.

    Zuviel Bürokratie, zu wenig Kontrolle, persönliches Engagement wird nicht honoriert - ein idealer Nährboden für Sumpfblüten aller Art – und die Zeche zahlen die Alten und Kranken. Und die Betreuungsfälle nehmen sprunghaft zu. Gab es vor 1992 - also nach dem alten Recht – etwa 450.000 Vormundschaften und Pflegschaften, hat sich die Zahl der Betreuungen inzwischen verdoppelt. Heute werde einfach schneller unter Betreuung gestellt, sagt Marita Halfen.

    Das sind die Ärzte, das sind die Heime, das sind Angehörige, die nicht schnell genug an das Vermögen kommen, oder die ihre Angehörigen ins Heim abschieben, weil halt da das Häuschen ist, das von der Enkeltochter gebraucht wird. Das sind die Vormundschaftsrichter. Wenn die Alten unbequem werden, müssen sie unter Betreuung gesetzt werden. Damit sie aus der Nachbarschaft verschwinden, damit die Wohnung frei wird und das Vermögen bereitliegt.