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Es fällt auseinander, was auseinander gehört

Die Wiener Politik-Analystin Karin Kneissl ist eine gefragte Expertin für Völkerrechtsfragen und für Probleme des internationalen Energiemanagements. In ihrem neuen Buch wagt die Ex-Diplomatin einen - alles andere als ermutigenden - Blick in die Zukunft.

Von Günter Kaindlstorfer | 01.07.2013
    Nein, ersprießlich ist es nicht, was Karin Kneissl in ihrem neuen Buch zu sagen hat: Das Zeitalter der Globalisierung neige sich seinem Ende zu, postuliert die 48-Jährige, die Welt bewege sich in eine Ära umfassender Zersplitterung und Fragmentierung.

    Uns stehen turbulente Zeiten bevor.

    …schreibt die Autorin.

    Wir erleben eine Gleichzeitigkeit von Erschütterungen.

    Nach mehr als 500 Jahren gehe die planetare Vorherrschaft des Westens zu Ende, postuliert Karin Kneissl. Das berge Chancen, aber auch gewaltige Risiken. Staaten und politische Ordnungssysteme würden entlang ethnischer und religiöser Bruchlinien zerfallen, wobei man am Beispiel Syriens und des Iraks erkennen könne, wohin die Reise gehe. Auch die Europäische Union ist in Kneissls Augen keineswegs davor gefeit, nach Jahrzehnten dynamischer Prosperität an ihren inneren Widersprüchen zugrunde zu gehen. Sie wolle um Gottes Willen nicht den Teufel an die Wand malen, betont die Autorin, aber Transformationsprozesse dieser Art seien im Verlauf der Menschheitsgeschichte selten unblutig verlaufen, wie etwa der Zerfall Jugoslawiens gezeigt habe.

    "Furcht ist kein guter Ratgeber, aber ich glaube, man sollte der Realität ins Auge schauen. Wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann vor einigen Jahrzehnten so treffend sagte: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar."

    Einen unübersehbaren Trend zu Zersplitterung und Desintegration ortet Karin Kneissl nicht nur in der Welt der Staaten und politischen Ordnungssysteme.

    "Wenn wir heute von Zersplitterung sprechen, dann ist es ja nicht nur, dass sich die Staatenwelt desintegriert, sondern die Zersplitterung in der Gesellschaft. Wo sind die Riten noch, wo ist der familiäre Zusammenhalt? Es gibt genug Menschen, die das Gefühl haben, sie seien fast atomisiert."

    Dieses Atomisierungsgefühl wird von der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise noch verstärkt, die zurzeit vor allem in Südeuropa Millionen Menschen in Perspektivlosigkeit und Verzweiflung treibt: ein idealer Nährboden für politischen und religiösen Extremismus. Karin Kneissl schreibt:

    Gegenwärtig wird in Europa spürbar, wie ein Gemisch aus Verschuldung, Massenarbeitslosigkeit und Wut der Menschen allmählich zur sozialen Explosion führt. Ein Kippen in Bürgerkriegsgewalt ist nicht auszuschließen. Die soziale Frage, die im 19. Jahrhundert einige Revolutionen auslöste und den Boden für autoritäre Regime zwischen den Weltkriegen aufbereitete, ist zurück.

    Ob es in Ländern wie Griechenland oder Spanien tatsächlich zu einer "sozialen Explosion" kommt, wie Kneissl befürchtet, ist noch nicht ausgemacht. In den Krisenregionen Süd- und Osteuropas ortet die Wiener Autorin jedenfalls einen gewissen Trend zur "Stadtflucht": Mangels Einkommen und gesicherter Arbeitsplätze fliehen immer mehr Binnenmigranten die Städte und versuchen sich an der Peripherie oder im ländlichen Raum mit Subsistenz-Wirtschaft über Wasser zu halten: Ein paar Hühner, eine Ziege sowie ein bescheidener Obst- und Gemüsegarten sollen das Überleben der Familien sichern. Sieht so tatsächlich die Zukunft von Millionen im reichen Europa aus? Karin Kneissl befürchtet es, wobei sich die studierte Juristin und Arabistin keineswegs als Pessimistin, sondern vielmehr als "Skeptikerin" in der Tradition Montaignes oder Voltaires sieht. Die Ära der Globalisierung geht in Karin Kneissls Augen jedenfalls zu Ende: Es fällt auseinander, was auseinander gehört – mit allen Krisensymptomen, die ein solches Auseinanderfallen mit sich bringt.

    "Der Begriff 'Entglobalisierung' ist etwas, dass das Rechtschreibprogramm im Moment noch ablehnt, sich im Französischen aber schon durchgesetzt hatte. Da gilt der Begriff der 'Demondialisation' – das französische Wort für Entglobalisierung - bereits als Bestandteil des politischen Vokabulars. 60 Prozent der Franzosen – wie eine Umfrage vor einigen Tagen zeigte - sind Kritiker der Globalisierung, wünschen sich etwas Anderes, weil eben auch bei uns ein Unbehagen um sich greift. Ausweglosigkeit, der Suche nach Geborgenheit, nach mehr Kleinräumigkeit. Und das, was wir im arabisch-islamischen Raum beobachten, konnten schon seit einigen Jahrzehnten, nämlich ein Vakuum an Werten, die dann beispielsweise in der Frömmigkeit, in der Religion eintritt – politischer Islam hier als Stichwort – oder dass radikalere Ideologien die Menschen wieder an Bord holen, ähnliche Tendenzen kann man heute schon auch in weiten Teilen europäischer Gesellschaften beobachten."

    Karin Kneissl ist eine gewiefte Analytikerin der Zeitläufe, was ihr Buch – so beunruhigend es inhaltlich sein mag – zu einer gehaltvollen und über weite Strecken anregenden Lektüre macht. Kleiner Einwand: Vor der Gefahr der Zersplitterung ist auch Kneissls Buch selbst nicht gefeit, spricht die Autorin doch viele, mitunter hat man das Gefühl, allzu viele Themen und Probleme an, vom Ende der westlichen Hegemonie bis zum Klimawandel, von der Zukunft des europäischen Strommarkts bis hin zur Krise der traditionellen Medien. Da wäre weniger, nun ja möglicherweise mehr gewesen. Dennoch bleiben viele Einsichten und Formulierungen im Gedächtnis. Diese hier zum Beispiel:

    Jede Revolution, jeder Umsturz beginnt mit Schulden, die eine Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann.

    Karin Kneissl verweist auf König Louis XVI. und auf die Herren Gorbatschow und Honecker: Sowohl das Ancien Régime im Frankreich der 1780er wie auch der Reale Sozialismus in den 1980ern sind an unbezahlbaren Schulden zugrunde gegangen. Darüber sollten die politischen Eliten in Berlin und Brüssel einmal ganz, ganz intensiv nachdenken.

    Literaturhinweis:
    Karin Kneissl: Die zersplitterte Welt. Was von der Globalisierung bleibt. Veröffentlicht in der Braumüller Lesethek, 288 Seiten, 21,90 Euro