Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Es gibt nicht den Autisten und den Nicht-Autisten"

Medizin.- Nach wie vor gibt der Autismus Medizinern und Biologen Rätsel auf. Unklar ist zum Beispiel, ob es sich dabei um eine Krankheit handelt oder nicht. Forscherteams haben nun die Genetik des Autismus untersucht. Was dabei herauskam, erklärt der Wissenschaftsjournalist Michael Lange im Gespräch mit Monika Seynsche.

14.06.2010
    Monika Seynsche: Autisten geben Psychologen wie Genetikern bis heute viele Rätsel auf. Ihr Verhältnis zur Umwelt scheint gestört oder doch zumindest außergewöhnlich. Dabei ist nicht klar, ob es sich um eine Krankheit handelt oder um ein Persönlichkeitsmerkmal. Denn es gibt die unterschiedlichsten Ausprägungen des Autismus: von geistigen Behinderungen bis hin zu besonderen Talenten und Fähigkeiten. Und auch die Ursachen des Autismus sind ungeklärt. Jetzt haben 60 Forscherteams aus aller Welt die Genetik des Autismus untersucht. Michael Lange hat sich die Ergebnisse angesehen, ist jetzt hier im Studio. Herr Lange, wird der Autismus denn vererbt?

    Michael Lange: Er ist auf jeden Fall keine klassische Erbkrankheit, die durch ein Gen von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Vielmehr hat er aber eine genetische Komponente, das heißt, da ist irgendetwas im Erbgut, das für die autistischen Symptome auf jeden Fall mitverantwortlich ist. Es gab schon viele bisherige Studien, die haben gezeigt, dass es neun sogenannte Risikogene gibt. Das heißt, das sind Gene im Erbgut des Menschen – wenn die verändert sind, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Autismus kommt. Aber nun haben Forscher, insgesamt 60 Forschergruppen aus der ganzen Welt, zwei davon aus Deutschland, genauer hingeschaut und haben dabei auch gesehen, wie sich Gene verdoppeln oder wie Gene verschwinden. Und dabei haben sie bei der Untersuchung von 1000 Autisten und 1000 Vergleichspersonen tatsächlich 300 beteiligte Erbanlagen entdeckt. Also bei 1000 Menschen 300 Erbanlagen, das ist eine ganze Menge.

    Seynsche: Was sind das denn für Gene, die die Wissenschaftler da entdeckt haben?

    Lange: Es sind sehr viele Gene, die tatsächlich mit Botenstoffen im Gehirn zusammenhängen. Und was das Besondere ist: Diese Gene sind nicht einfach gestört oder defekt, das heißt, dass da einfach ein Protein entsteht, was nicht mehr funktioniert. So ist es bei vielen Erbkrankheiten. Nein, das ist nicht der Fall, sondern es sind zum Beispiel mehrere Kopien dieses Gens vorhanden. Wenn ein Gen zum Beispiel nicht nur einmal, sondern zweimal, dreimal, viermal vorhanden ist, dann heißt das, es ist überhaupt nichts gestört, das heißt aber, dass bestimmte Botenstoffe verstärkt produziert werden und dass das Wechselspiel der Botenstoffe dadurch verändert wird. Und das liegt daran, dass diese Kopien, diese copy number variations, wie die Wissenschaftler sagen, diesmal überhaupt erst einmal genau untersucht wurden. Und da hat man eben festgestellt: Dieses klassische Bild, ein Gen kaputt, eine Krankheit tritt auf, das stimmt so nicht. Es ist wirklich auch etwas, was sich Stück für Stück verändert und das erklärt auch ein wenig die Symptome oder die Persönlichkeitsmerkmale von Autismus. Das heißt, es gibt nicht den Autisten und den Nicht-Autisten, sondern es gibt wirklich ein breites Spektrum und das könnte teilweise tatsächlich mit der Zahl dieser Kopien im Erbgut zusammenhängen. Zwei Kopien verändern schon ein wenig. Kommt noch eine dritte Kopie hinzu, ändert sich noch einmal etwas.

    Seynsche: Wo ist denn der Unterschied zwischen zwei oder drei Kopien desselben Gens und einem Gendefekt?

    Lange: Der Unterschied ist gering, wenn zum Beispiel eine Kopie weg ist. Wenn eine Kopie nicht da ist, dann ist tatsächlich der Unterschied nicht vorhanden, aber in diesen anderen Fällen, wie ich gerade erklärt habe, gibt es natürlich Zwischenstufen. Da gibt es Zwischenstufen zwischen krank und gesund. Und das passt natürlich gerade beim Symptombild Autismus ganz hervorragend in das Bild der Psychologen. Und das stärkt eigentlich auch die Meinung, bei Autismus nicht so einfach von Krankheit zu reden, sondern es sind eben Persönlichkeitsmerkmale. Und da findet man interessanterweise auch viele Ähnlichkeiten mit Krankheiten, mit Schizophrenie zum Beispiel und das wollen die Forscher jetzt nutzen, um in diese Richtung weiter zu forschen. Was noch wichtig ist, was man noch unbedingt sagen muss, ist, das Zustandekommen dieser copy number variations – das ist in der Regel nicht so, dass diese Veränderungen von den Eltern auf das Kind vererbt werden, sondern das entsteht bei der Entstehung von Eizellen und Spermien. Auch in sofern also keine klassische Genetik, die weitervererbt wird, sondern beim Prozess der Entstehung von Einzellen und Spermien können sich Kopien herstellen. Die werden dann zwar vererbt, aber waren bei Mutter und Vater überhaupt nicht vorhanden, also wirklich ein Mittelding zwischen Umweltkrankheit und vererbter Krankheit.

    Seynsche: Lässt sich denn aus diesen Ergebnissen so etwas wie ein Autismus-Gentest ableiten?

    Lange: Nein. Im Gegenteil: Es zeigt sogar, dass die bisherigen Versuche, so etwas zu machen, eigentlich Blödsinn sind. Es sind 300 verschiedene Formen, die bei 1000 Menschen auftreten. Wenn man 2000 Menschen untersucht hätte, hätte man wahrscheinlich 500 Formen gefunden. Das ganze würde nur Sinn machen, wenn man sich die Gesamtsequenz, also wirklich jeden Buchstaben im Erbgut anschauen würde. Das könnte in fünf oder zehn Jahren möglich sein. Also mit den jetzigen Mitteln ist ein Gentest definitiv nicht möglich.

    Seynsche: Und was kann man mit den Ergebnissen dieses Gentests machen?

    Lange: Man kann auf jeden Fall zum Verständnis des Autismus beitragen und auf diese Weise dann vielleicht auch Behandlungsmethoden entwickeln. Die Frage ist allerdings, wann überhaupt Behandlungsmethoden sinnvoll sind. Also insofern: viel fürs Verständnis, wenig für die Medizin.

    Seynsche: Vielen Dank. Michael Lange war das über die Genetik des Autismus.