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Es gibt sie doch, die schönen Stücke!

Da staunten selbst die chronisch mit sich selbst beschäftigten Berliner Theaterleute nicht schlecht: über diese olle Kamelle. Und dass es ausgerechnet den Kollegen aus dem tiefen Düsseldorfer Westen gelungen war, ganz sinnenfroh und sinnlich jenes Publikum bei allen Sinnen zu packen, dass ihnen selber, den Berliner Heimspielern eben, oft so hochnäsig die kalte Schulter zeigt – und in Gedanken oder lauthals "Kennwaschon!" sagt oder "Hamwaschonjesehn!" Dabei hatten die Mittelalten wie die Alten dieses Topp-Ereignis der jüngsten Ausgabe des Berliner Theatertreffens ja tatsächlich schon mal jesehn; für viele waren die "Sommergäste" des Maxim Gorki in Peter Steins Fassung für die alte "Schaubühne" gar die Theater-Initiation an sich. Vor dreissig Jahren. Und nun das: Sommergäste aus Düsseldorf. Und: wie noch nie gesehen!

Von Michael Laages |
    Hier wie dort im Alltag der Theater werden in der kommenden Spielzeit weitere Begegnungen dieser erstaunlichen Art folgen – in Hannover beginnend, hat sich eine gute Handvoll Bühnen speziell auf dieses Stück kapriziert. Und das sicher nicht bloß, weil es zufällig gerade hundert Jahre alte geworden ist – der Boom der "Sommergäste" spricht für etwas ganz anderes. Jenseits aller mehr oder weniger sinnigen Moden und Marotten der Moderne, jenseits vor allem vom Hang einiger weniger (angeblich trendsettender) Häuser zur Bearbeitung von allem und jedem, von erfolgreichen Filmen vor allem (wie Tomas Vinterbergs "Das Fest") und möglichst monströsen Romanen (wie Dostojewskis gesammelten Werken aus Frank Castorfs Bücherschrank oder immer wieder Bulgakows "Meister und Margarita" und "Clockwork Orange" von Anthony Burgess), jenseits also vom gerade so hysterisch begreinten "entstückten Theater" haben sich erstaunlich ziemlich viele Spielplanplaner, Intendanzen und Dramaturgien also, wieder ganz brav (und doch nur scheinbar bieder) auf die Suche nach dem "guten Stück" gemacht. Übrigens nicht in erster Linie (und wie sonst so oft) nach dem guten neuen – angesichts der Tatsache, dass von dem massenhaft und durch vielerlei Wettbewerbsbetriebsamkeit in die Schreibstuben gespülten Junge-Autoren-Material das meiste mit gutem Grund nach der Uraufführung fix wieder vergessen werden kann. Nein - nach dem generell und durchaus auch überzeitlich "guten Stück". "Sommergäste" von Maxim Gorki sind so eins.

    Auch der allüberall wieder entdeckte Gerhart Hauptmann ist Kronzeuge für den neuen Blick eben auch aufs Alte. Was lange als völlig vorgestrig galt und verstaubt, beflügelt derzeit wieder die Phantasie: Die Ratten neulich in Hamburg, ziemlich frisch zur Betrachtung freigegeben von Armin Petras, und Der Biberpelz in Thomas Bischoffs finster-strenger Ordnung und Gewalt; demnächst in Berlin Vor Sonnenuntergang und in Stuttgart gar Hanneles Himmelfahrt, diese zerbrechlich-mystische Jungmädchen-Phantasie, die bislang nur als Trance- und Trip-Traum wie bei Jürgen Kruse denkbar war. Kaum ein Theater, dass sich (in Zeiten gesellschaftlicher Verarmungstendenzen) nicht mit Arthur Miller und dem Tod eines Handlungsreisenden beschäftigt hätte; kaum eines auch, das nicht plötzlich die grossen Vereinsamungen der Gegenwart in den grossen amerikanischen Verlierer-Epen von Tennessee Williams und Eugene O’Neill wieder entdecken wollte. Da geht’s lang im Augenblick – und eben nicht immerzu ins Kino und in den Lessaal.

    Damit ist (von der solitären Ostberliner Volksbühne mal abgesehen) auch im Ernst kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Muster dieses Irrwegs war in der vergangenen Spielzeit Hannovers Schauspiel: mit gleich drei Romanen, die zum "Stück" erklärt waren und doch dadurch noch keins wurden. Karen Duves Regenroman, Arno Schmidts Schwarze Spiegel und Der Rote Ritter von Adolf Muschg – eins nach dem anderen ist da ambitiös im Niemandsland gestrandet. Nein – die Tage der rauf und runter, landauf-landab immer wieder wie neu erfundenen Houellebecq-Dramatisierungen sind wohl vorüber; und es lässt sich ja nachweisbar gutes, anrührendes Theater weniger direkt aus den Filmen des Ober-Finnen Aki Kaurismäki destillieren als vielmehr aus der Darstellungsweise all der Melankomiker, die in ihnen zu sehen sind. Deren Methoden werden die Moden und auch deren Ende allemal überstehen.

    Aber vielleicht braucht’s ja öfter mal den Blick ins Land, und eben nicht nur auf den Trend-Laufsteg der Metropolen, um den tieferen Beweggründen dessen auf der Spur zu bleiben, was das Theater immer wieder erstaunlich resistent erscheinen lässt gegen alle Hybrid-Beschwörungen der Modemacher und andere Zeichen der Krise. Hier: in Konstanz und Kiel, in Giessen und Aachen, in Jena, Moers und Magdeburg - hier ist es aus sich heraus und ohne Hype am stärksten. Und hier wird am meisten zerstört, wenn –kaum bemerkt vom Trend-Geschwätz- demnächst die Sparkommissare die Herrschaft übernehmen.